Wahrheit und Zweifel
by Kristin Schmidt
Miriam Sturzenegger
„Woran sich halten?“, 2016, Fotografie
Ein Gipfel, ein Wipfel, ein Tal, ein Zwischenraum – der suchende Blick entdeckt Verwandtschaften. Dichte Verästelungen und expressive Felsformationen, Bäume gross wie Gebirge und winzige Tannenwäldchen – Grössenunterschiede spielen keine Rolle mehr, die Binnenstrukturen gleichen einander.
Miriam Sturzenegger hat für die Kulturlandsgemeinde ein Künstlerbuch publiziert und diesem den Titel „Woran sich halten?“ gegeben. Für das Kulturblatt hat sie dafür verwendetes Bildmaterial neu kombiniert. Eine Fotografie der Mammutbäume in Trogen und eine Ausschnittfotografie von Gabriel Walsers Karte des Landes Appenzell führt die Künstlerin zu einem neuen Bild zusammen. Damit verschmilzt sie drei Versuche, sich die Realität anzueignen: hier die Fotografie als vermeintliches Abbild einer optischen Wirklichkeit, dort die Walser-Karte als ebenso akribisches wie subjektives Bild einer Landschaft und schliesslich die Entscheidung des Urururgrossvaters der Künstlerin, in seinem Heimatort Trogen drei Mammutbäume zu setzen: den ersten nach der Schlacht von Königgrätz 1866, den zweiten nach der Schlacht von Sedan und den dritten nach dem Friedensschluss von Versailles 1871. Die Bäume ragen als lebende Zeugen historischer Ereignisse in die Gegenwart hinein und künden zugleich von einer individuellen Entscheidung: Der Urururgrossvater der Künstlerin wählte aus. Auch Gabriel Walser traf eine Auswahl, ebenso wie der Fotograf. Sie versuchen, die Geschichte oder Gestalt der Welt zu fassen und immer bleibt der Zweifel: Ist die Auswahl richtig? Ist Wahrheit überhaupt möglich? Wahrheit bleibt subjektiv und kann sich mit der Zeit verändern. Das Wissen darum gebiert den Zweifel – die Lust an Geschichten bleibt.
Kurztext für Obacht Kultur, Sonderausgabe Kulturlandsgemeinde 2016