Steinfliegen an der Sitter
by Kristin Schmidt
Jochen Lempert arbeitet derzeit im Gastatelier des Sitterwerkes. Anlässlich des Offenen Ateliers zeigt der Hamburger Künstler und Biologe Ergebnisse seiner fotografischen Forschung.
Der Wasserspiegel scheidet Lebensräume. Oberhalb desselben erbeutet der Wasserläufer ertrinkende Insekten, direkt unterhalb ist der Rückenschwimmer gleichfalls auf der Jagd. Beiden bietet die Spannung der Wasseroberfläche Halt. Nur an winzigen Stellen berühren ihre Gliedmassen die unsichtbare Haut. In den Fotogrammen von Jochen Lempert zeigen sich diese Stellen als schwarze Punkte. Die Insekten hingegen schweben als zartgrau getönte Objekte über die helle Fläche. Da das Fotopapier bei dieser Technik direkt belichtet und keine Kamera benutzt wird, entstehen diese Aufnahmen in direktem, ganz unmittelbarem Kontakt mit der Natur. Gerade das aber macht sie so fremdartig. Natur kann in den Bildern Lemperts völlig neu gesehen werden. Zum Beispiel ein Glühwürmchen: Die Lichtsignale des Leuchtkäfers erscheinen im Fotogramm als rhythmisch gesetzte Punkte auf einer Fläche.
Jochen Lempert (*1952) ist Forscher, Künstler, Biologe. In den 1980er Jahren gehörte er zum Filmproduktionskollektiv Schmelzdahin in Bonn. Die Gruppe bearbeitete vorgefundenes oder selbst gedrehtes Filmmaterial weiter, transformierte es durch gezielte oder zufällig ablaufende Zersetzungsprozesse – Filme als Forschungsmaterial. Dieser experimentelle Charakter ist Lemperts Arbeiten geblieben, aber sein Medium ist seit 25 Jahren die Fotografie. Ebenso lange arbeitet er als Wissenschaftler in einem anderen Feld: Lempert studierte Biologie und ist aktuell immer wieder als Ornithologe auf der Nordsee unterwegs, um das Verhalten der Vögel in der Nähe grosser Windkraftanlagen zu untersuchen. Beeinflusst nun die Biologie den Fotografen oder nutzt die Fotografie dem Biologen? Wenn überhaupt, dann gilt Letzteres. Aber Lempert ist ein unabhängiger Geist. Seine Arbeitsweise strahlt grosse Autonomie gegenüber Zweckzwängen, technischen oder ästhetischen Moden aus. Er fotografiert analog, und zwar nicht, weil es gerade wieder hip ist, sondern weil er gerade nicht das perfekte, schöne Bild sucht. Vielmehr geht es darum, die Methode ebenso wie die Abbildungsgeschichte zu reflektieren, darum, die Natur zu erfassen, abzubilden, was zu sehen ist. Dazu passt, dass Lempert seine Bilder nicht digital nachbearbeitet und sie grundsätzlich mit Klebeband direkt auf der Wand fixiert, ohne Rahmen, ohne Schutzglas.
So präsentiert er sie auch im Gastatelier des Sitterwerkes. Seit zwei Monaten arbeitet Lempert hier und hat sich eingehend mit dem Ort und seinen Besonderheiten auseinander gesetzt. Die Sitter hat es ihm dabei besonders angetan als natürlicher Lebensraum, der jedoch von zivilisatorischen Einflüssen geprägt ist. Wie etwa der durchs Kraftwerk Kubel beeinflusste Wasserstand. Gerade solche, fotografisch schwer zu fassenden Ereignisse haben es dem Künstler angetan. So entstand in den letzten Wochen eine Serie von Stein-Fotogrammen. Die grossen Flusskiesel erscheinen auf dem Fotopapier als weisse Fläche im grau monochromen Grund – fast wie Leerstellen, hätte nicht die Dynamik der Wasserstände die Umrisse verschwimmen lassen. Die unscharfe Begrenzung verleiht einzelnen Steine eine Aura. Ausserdem gelang dem Forscherkünstler an der Sitter ein weiteres besonderes Ereignis zu beobachten und auf Fotopapier zu bannen: das Massenschlüpfen der Steinfliegen. So kleine Wesen, so urwüchsig – so viel Natur so nahe der Stadt.
Nach der Fotografie ordnet Lempert ordnet die Bilder und initiiert Dialoge. Das funktioniert auch mit ganz unterschiedlichen Motiven und prägt seine Arbeit sowohl in Ausstellungen als auch in den Büchern: Die Gruppierung der Fotografien und Fotogramme erlaubt vergleichendes Sehen in einer naturwissenschaftlichen Tradition.