Farbe = Fläche
by Kristin Schmidt
Ernst Wilhelm Nays Thema ist die Farbe. Unter dem Titel „Ernst Wilhelm Nay – Das polyphone Bild“ stellt das Museum Liner Gouachen, Aquarelle und Zeichnungen des Künstlers aus.
Ernst Wilhelm Nay (1902–1968) gehört zu den Hauptvertretern abstrakt-gestischer Malerei in Europa. Bisher hat es in der Schweiz keine umfassende Präsentation seines Gesamtwerkes gegeben. Dabei ging ausgerechnet ein Aufenthalt in der Schweiz mit einer ganz wesentlichen Zäsur in seinem Werk einher: Im Februar und März 1955 verbrachte Nay mehrere Wochen in Crans sur Sierre im Wallis. Hier schuf er grossformatige Aquarelle, die eine radikale Neuausrichtung seines künstlerischen Schaffens einleiteten. Nay verzichtete auf die zuvor ausgiebig verwendeten linearen Bahnen und konzentrierte sich ganz auf die Scheibenformen. Ab 1955 und für die nächsten sechs Jahre bestimmen sie sein Schaffen und schliesslich die gesamte Rezeption seines Oeuvres.
Die reine Abstraktion steht im Zentrum des Werkes von Ernst Wilhelm Nay. Wie konsequent er den Weg dorthin geht und wie lang dieser ist, zeigt die aktuelle Ausstellung im Museum Liner. Nay fügt sich hervorragend ins Programm des Museums, da er einerseits die Reihe der Ausstellungen mit Klassikern des 20. Jahrhunderts sinnvoll ergänzt und sich andererseits zwei seiner malerischen Hauptwerke in der Sammlung der Stiftung Liner Appenzell befinden. Gemälde stehen allerdings nicht im Fokus der vom Kunstmuseum Bonn gemeinsam mit der Ernst Wilhelm Nay Stiftung entwickelten Ausstellung, sondern Nays Arbeiten auf Papier. Doch auch in diesem Medium, ja sogar vor allem hierin zeigen sich alle Stufen seines Werkes.
Der Künstler unterschied nicht hierarchisch zwischen dem Malen und dem Zeichnen. Wenn er Tusche mit Pinsel oder Feder auftrug, Tinte, Bleistift oder Kohle benutzte, dachte er ebenso malerisch wie vor der Leinwand. Besonders deutlich wird dies im Blatt „Der Hirte“, 1948 mit zweimal dem gleichen Motiv, einmal als reine Bleistiftzeichnung und rechts daneben mit Farbe überarbeitet. Der direkte Vergleich zeigt, dass Nay nicht einfach schraffiert um Schattierung anzudeuten, sondern der Grauwert als Ton mitgedacht wird. Die grau nuancierten Flächen sind wie Farbfelder zueinander gesetzt.
Zeichnung und Malerei sind gemeinsam Teile des Weges vom gegenständlichen zum abstrakten Bild. Er beginnt mit Landschaften in den 1920er Jahren, führt über mythische Menschendarstellungen in den 1940ern zur rhythmischen Werkgruppe der „fugalen Bilder“ ab 1949. Die chronologische Hängung offenbart, wie der Punkt als Keimzelle der Scheibenform fungiert, wie der Strich stetig freier, die Dynamik grösser und die gegenständliche Abbildung weniger wichtig werden. Ab Ende der 1940er Jahre fühlt Nay sich stark genug, das formale Bild direkt anzugehen, ohne formalistisch zu sein. Seine Kunst setzt sich zusammen aus Fläche, Farbe und Linie. Jedes Mittel hat besondere Eigenart. Alles befindet sich zueinander in Relation. Die Linie kann mit der Farbe übereinstimmen, indem sie deren Rhythmus bestätigt und verstärkt, oder sie agiert selbstständig. Sie grenzt ein, grenzt aus, schafft Formen – bis Nay die Fläche einzig durch Scheiben souverän orchestriert. Es folgen die Augenbilder mit ihren mandelförmig zusammengefügten Kreissegmenten und schliesslich das Spätwerk mit seiner überraschenden Nähe zu Matisse: Ein Höhepunkt, auch in der Ausstellung.