Die Summe der Entscheidungen

by Kristin Schmidt

„Katalin Deér fotografiert doch nur.“ Nein. Katalin Deér fotografiert weder nur noch ausschliesslich. Sie fotografiert viel, aber wenn die Künstlerin die Kamera zur Hand nimmt, entstehen nicht nur Aufnahmen des Gesehenen. Deérs Fotografien sind der Ausgangspunkt ihrer Auseinandersetzung mit dem dreidimensionalen Raum. Die Künstlerin interessieren gewachsene bauliche Strukturen im urbanen oder ländlichen Umfeld. Mit ihrem offenen Blick entdeckt sie selbst im unscheinbarsten Betonbau eigentümliche Details. Sie stellt formale Parallelen heraus und wird dabei nie formalistisch. Sie zeigt in ihren Fotografien die Seele des Gebauten als Summe des Gewordenseins und der jeweiligen Atmosphäre des Ortes.

Im Zentrum der Bilder Deérs stehen die Gestalt und das Körperhafte von Architektur. Zugleich nimmt die Künstlerin jedes Foto selbst als Körper wahr. Jeder Abzug ist mehr als ein auf Papier belichtetes Bild, er ist ein Objekt, das sich im Raum manifestiert. Es liegt also nahe, die Fotografien in den dreidimensionalen Raum zu überführen. Den Anfang machten kleine Pappmodelle, deren Kontur den fotografierten Bauten entsprach mit allen kippenden und fliehenden Linien.

Inzwischen giesst Katalin Déer Fotografien in Beton oder Gips ein, legt sie auf vorgefundenen Tischen aus oder auf eigens gefertigten Podesten. Sie wechselt die Perspektive und rückt die Bilder als eigenständige Objekte in den Blick. Überhaupt gelingt es der Künstlerin, Dingen zu einer neuen Präsenz zu verhelfen: In Deérs Atelier stehen diese kleinen Hocker – unscheinbar, ein bisschen windschief und nicht eben neu aussehend. Nur der wirklich aufmerksame Blick oder besser noch eine Berührung enthüllt, dass sie ein Nickelbronzeguss sind. Warum also diese Verwandlung? Die Transformation in ein anderes Material bringt die archetypische Gestalt des Gegenstandes ins Bewusstsein. Deér sieht, was ist, und lässt es die Betrachter sehen, mit jeder Arbeit wieder. Was nun aber so einfach klingt, ist ein Weg voller Wagnisse und Entscheidungen, der nicht nur die Auswahl aus Tausenden von Bildern betrifft, sondern auch neue Materialien, Verarbeitungsprozesse und Präsentationsformen. Künstlerische Entscheidungen – andere gibt es auch noch, denn wie landet eine international arbeitende Künstlerin mit einem Mal in der Ostschweiz?

Katalin Deér hatte 12 Jahre in Berlin gelebt und dort an der Hochschule der Künste studiert. Weitere fünf Jahre pendelte die in Kalifornien geborene Künstlerin zwischen Berlin und New York. Dort arbeitete sie im Atelier mit Blick auf Manhattan. Dann stand sie 2003 vor der Entscheidung. New York oder Berlin? Berlin oder New York? Eine der beiden Metropolen sollte zum endgültigen Wohn- und Arbeitsort werden. Dann kamen ein St. Galler und St. Gallen ins Spiel. Die Stadt konnte sich gegen die grosse Konkurrenz durchsetzen. Der Kunst wegen? Auch der Kunst wegen.

Katalin Deér war schon seit den 1990er Jahren immer wieder zu Gast gewesen in der Kunstgiesserei. Schliesslich wurden die hervorragenden Arbeitsbedingungen ein wichtiger Grund für ihr Bleiben. Ein weiterer war das kulturelle Leben in St. Gallen, das sich in den letzten 20 Jahren sehr entwickelt hat. Zudem ist die internationale Kunstwelt nicht fern, für den, der gut vernetzt ist.

Auch Zufälle helfen manchmal, vorausgesetzt, die Qualität stimmt. Ein Beispiel ist Katalin Deérs „photographic mission“ für Guimarães, die europäische Kulturhauptstadt 2012: Deérs Künstlerbuch «Present Things» entstand anlässlich einer Ausstellungsreihe im Museum of Contemporary Photography des Columbia College, Chicago, im Kunstverein in Heilbronn und dem Museum Moderner Kunst Kärnten in Klagenfurt. Irgendwie hatte es seinen Weg in eine Londoner Kunstbuchhandlung gefunden. Dort fiel es dann jenem portugiesischen Kurator in die Hände, der die Künstlerin prompt in die portugiesische Textilmetropole einlud.

Guimarães war ein europäisches Zentrum der Textilindustrie bis dort der wirtschaftliche Niedergang verheerende Folgen hatte. Katalin Deér fotografierte den Zustand der Fabriken, der Häuser der Zuarbeiter, der Infrastruktur. Sie wertet nicht, sie klagt nicht an, sondern akzeptiert was ist. Sie gibt dem Moment Gewicht. Dies verzahnt ihre fotografischen Arbeiten einmal mehr mit ihren Werken aus Stein oder Stuckmarmor wie sie in Amden zu sehen waren oder in der Doppelturnhalle Arbon zu sehen sind: Jede offen gelegte Schicht ist nur eine Möglichkeit im Universum aller möglichen Zustände. Die künstlerische Entscheidung macht den Unterschied.