Des Menschen Welt

by Kristin Schmidt

Die Fotografien des Komponisten Heinrich Schweizer – Reisen durch fünf Jahrzehnte.

Hochhäuser in Hong Kong, Strassenschluchten in New York, Hütten und Sandstrassen im Senegal, Berge und Bahnen in der Schweiz – mit den Namen von Orten und Ländern verbinden sich stereotype Bilder. Bestimmte geografische, infrastrukturelle oder architektonische Gegebenheiten dominieren die Wahrnehmung nicht nur jener, die sich auf die Aufnahmen und Berichte Anderer stützen. Sie besitzen auch für den Reisenden vor Ort einen hohen Wiedererkennungswert, sind sie doch besonders eindrucksvoll aufgrund ihrer Grösse, Andersartigkeit oder Ausführung, oder verbinden sich mit dem, was aus Überlieferungen bereits bekannt ist. Doch spätestens dann, wenn der Daheimgebliebene das Studium intensiviert, oder dann, wenn der Reisende für einen Moment oder länger zum Bleibenden wird, wenn er sich auf die Stadt, das Land einlässt, dort vielleicht sogar eine zeitweilige Heimat und einen Arbeitsort findet, dann ändert sich der Blick, dann ändert sich die Wahrnehmung. Sie vervielfältigt sich, sie öffnet sich für die Details sowohl der Wahrzeichen wie ihrer Umgebung, sie wendet sich von kollektivem Wissen hin zu einer individualisierten Betrachtung.

Heinrich Schweizer ist als Reisender immer auch Bleibender gewesen, ein Arbeitender unterwegs. Weltweit folgt er den Spuren der Musik, findet immer wieder Orte, die zum Bleiben anhalten, Orte, deren Bewohner und ihre musikalische Ausdrucksmöglichkeiten ihn faszinieren. Sowohl die Leidenschaft für die Musik wie auch für das Unterwegssein verbinden ihn aber nicht nur mit der Welt, sondern auch mit seinen Wurzeln. Als Sohn eines Pfarrers in Hundwil lernt Schweizer beides kennen: die Musik als tägliche Begleiterin, aber auch die Arbeit abseits eines geografischen Fixpunktes. Schliesslich war der Vater aufgrund der appenzellischen Streusiedlungen oft über lange Distanzen unterwegs – zu Fuss, in einem Tempo also, dass es erlaubt, der Umgebung die ungeteilte Aufmerksamkeit zu widmen. Es ist kein Zufall, dass Schweizer dem Wesen dieser Landschaft immer wieder näherzukommen versucht und sie auch in späteren Jahren oft fotografiert. Zwar verlässt die Familie das Appenzell als Schweizer 12 Jahre alt ist. Doch die Ostschweiz hat ihm da bereits wichtige Eindrücke vermittelt, die er später musikalisch und fotografisch verarbeiten wird.

Schweizer entwickelt früh ein umfassendes Gespür für lokale Besonderheiten. Er verarbeitet nicht nur akustische Reize, sondern ist stets mit allen Sinnen offen für das, was um ihn herum passiert, er ist ein aufmerksamer, ein genauer Beobachter. So ist es nur konsequent, dass er neben der Musik ein visuelles Ausdrucksmittel sucht. Anfangs, während der Zeit in Luterbach (SO), war dies die Malerei. Gern berichtet Schweizer von seinem Besuch als 16jähriger bei Cuno Amiet in dessen Oschwander Atelier. Schweizer hatte ein eigenes, aktuelles Gemälde mitgebracht und bat um die Meinung des Künstlers. Doch der Hinweis Amiets, dass, wenn man es ernst meine, neben der Kunst kein anderes Berufsziel bestehen könne, führt Schweizer konsequenterweise zur Musik.

Neben der Musik drängt es ihn jedoch weiterhin, in einem bildlichen Medium zu arbeiten. Der Nebenverdienst in einem Fotolabor gibt schliesslich entscheidende Impulse: Schweizer entwickelt Negativfilme und stellt Papierabzüge her. Später nimmt er an einem Fernlehrgang teil, um die Möglichkeiten der Fotografie umfassender kennenzulernen und schliesslich für sich selbst, für die Umsetzung eigener Bildideen nutzen zu können. Schliesslich richtet er sich im Badezimmer eine Dunkelkammer ein. Bald nehmen Tageszeitungen wie der Landbote oder das Winterthurer Tagblatt Schweizers Fotos von Lokalereignissen in ihre Spalten auf. Später erscheinen Aufnahmen auch auf Tonträgerhüllen oder in Programmheften. Der Fotoapparat ist ihm Arbeits- und Kompositionsgerät geworden.

Die Verwendung der Fotografien in der lokalen Presse legt nahe, dass Heinrich Schweizers Aufnahmen der Gattung der Reportagefotografie zuzurechnen sind, Aufnahmen, die Gesehenes, Ereignisse oder Objekte, bildlich festhalten und darstellen, die Sachverhalte glaubwürdig und realitätsnah vermitteln. Ebenso wie aber die Reportagefotografie nicht auf das Dokumentarische einzuschränken ist, wie sie Schnittstellen zur Inszenierung, zum Schnappschuss und zu atmosphärischen Aufnahmen aufweist, sind auch Schweizers Fotografien weit mehr als die Illustration seiner Umwelt. Wenn Heinrich Schweizer die Kamera zur Hand nimmt, dann nicht, um zu dokumentieren, sondern in Vilem Flusserschem Sinne das Unwahrscheinliche, die Information, zu suchen. Finden lässt sich das Unwahrscheinliche überall, wenn einer nur achtsam genug ist, es zu spüren, und auch dasjenige in seine Betrachtungen einbezieht, was nicht selten als zu alltäglich, belanglos oder gar sentimental abgetan wird. Schweizer scheut sich ebenso wenig, die Schönheit eines Sonnenuntergangs bewusst wahrzunehmen, wie er seine Faszination an der Technik verbirgt. Eine Landschaftsaufnahme aus einem fahrenden Schnellzug, fotografiert mit einer 1000stel Sekunde, steht gleichberechtigt neben einer unspektakulären, aber nichtsdestoweniger atmosphärischen Vorstadtsituation. Einen schmalen Pfad erkennt er als ebenso aussagekräftig wie die Architektur eines Regierungsgebäudes.

Die Kamera ist Schweizers Begleiterin an nahezu jeden vom Komponisten besuchten Ort und über Jahrzehnte hinweg. Sie lassen sich die die Fotografien nicht nur auf einer geografischen Achse einordnen, sondern eine zeitliche Achse ist ebenso wichtig. Die ausnahmslos analogen Aufnahmen umfassen eine Zeitspanne von über 50 Jahren und bieten ausgezeichnete Vergleichsmöglichkeiten. Die in New York gemachten Aufnahmen entstanden beispielsweise in den späten 1970er und den frühen 1980er Jahren. Weitere folgten dann wiederum 1999. Was sich auf diesen Fotografien ändert, sind nur der Mode unterworfene Details wie Kleidung und Frisuren der Passanten, die Gestaltung der Anzeigen oder die Form der Autokarosserien. Beeindruckender isomorph ist hingegen das Gesicht der Stadt. Zwar spiegeln sich auch in den architektonischen Details, den Fassaden, Fenstern und Dachabschlüssen die Zeichen der jeweiligen Bauzeit, doch die dominante Struktur, die Ordnung der Stadt und ihr Charakter ändern sich kaum. Das zeigt sich genauso in den Aufnahmen aus Paris, welche einerseits in der ersten Hälfte der 1980er Jahre und dann wieder im Herbst 2010 entstanden.

Dass die Infrastruktur und die Architektur derart dichtbesiedelter Metropolen sich in so sichtbarer Logik entwickeln, überrascht nicht. Ebenso wenig, dass besonders markante Bauwerke ihren Wahrzeichencharakter über Generationen hinweg entfalten. Beeindruckender ist hingegen Kontinuität der Ästhetik der Aufnahmen. Aus ihnen spricht einerseits der Versuch zu Objektivität und die Achtung vor der Wirklichkeit, andererseits Schweizers sehr individuelles Interesse an formalen wie auch inhaltlichen Kriterien der Fotografie. Die erstgenannte Kategorie drückt sich im Bemühtsein um Komposition und Layout aus. Mitunter entfalten die Fotografien einen geradezu grafischen Charakter, wenn der Fotograf etwa den Blick auf die Oberleitungssysteme des öffentlichen Verkehrs richtet. Sie zerschneiden den Himmel, die Häuserfronten und Strassenzüge und legen ein eigenes Rastersystem über die Stadt, das durch die Fotografie besondere Präsenz entfaltet. Ein anderes Raster entdeckt Schweizer in der architektonischen Struktur einer Brücke, sie wird überzeichnet, zu einem Liniengerippe verdichtet und wirkt in ihrer räumlichen Staffelung sich endlos wiederholend. Obgleich in Farbe fotografiert, dominieren hier Helldunkelwerte in spannungsvollem Verhältnis. Gleiches gilt für die Fotografie einer Anzeigetafel für ein Konzert. Dass dabei Schweizers eigene Komposition mit auf dem Programm steht, wird beinahe nebensächlich vor dem Wechselspiel aus weisser Schrift, schwarzem Hintergrund und grün-beigen Reflexionen, schemenhaft verleihen sie dem Bild etwas Geheimisvolles, beinahe wie ein unscharfer Filmstill kommt es daher und weist weit über die abgelichtete Situation hinaus.

Farbe und Lineatur im Wechselspiel sind Thema einer Ansicht der Hongkonger Waterloo Street aus der Vogelperspektive – ein optischer Balanceakt zwischen Strassenmarkierung und Fahrzeugen. Auf ganz andere Weise überzeugend in der Bildanlage wirkt die Innenansicht eines historischen Bauwerkes in Griechenland. Farbwerte, architektonische Elemente und weisse Flächen gehen eine Verbindung ein, die einer austarierten abstrakten Komposition weitaus näher sind als einem fotografischen Dokument. Gleiches gilt für eine Aufnahme aus einem Flugzeugfenster, in der Himmel, sandfarbene Landschaft, rote Turbine und weisser Flugzeugflügel zu einem ausgewogenen Flächengefüge mit Farbakzent zusammengesetzt sind. Die Reihe dieser aus einem formalen Interesse heraus konzipierten Bilder liesse sich lange fortsetzen. Gleiches Gewicht kommt hingegen auch den bereits genannten inhaltlichen Kriterien zu. Hierin offenbart sich Schweizers äusserst aufgeschlossene Einstellung gegenüber dem Menschen.

Der Mensch und seine vielfältigen Beziehungsgeflechte stehen letztlich im Mittelpunkt des Schweizerschen Bilderkosmos. Mit der Kamera sucht er Antworten: Was prägt die Menschen? Wie leben sie zusammen? Womit umgeben sie sich? Wie bewegen sie sich? Wie ist ihr Verhältnis zur sie umgebenden Welt?

Vordergründig besehen steht Schweizers ausgeprägtes Interesse am Individuum und der Gesellschaft im Widerspruch zur Tatsache, dass Menschen nicht das hauptsächliche Sujet der Fotografien sind und Porträts eine Ausnahme bleiben oder ihnen selbst dann noch etwas beiläufiges, selbstverständliches anhaftet. Es geht ihm nie um die Inszenierung des Einzelnen, sondern um seinen Kontext, sein Wesen, die Bedingungen menschlicher Existenz. Der Komponist entwickelt ein umfassenderes Bild des Menschen, als es durch die blosse Präsentation einzelner Personen möglich wäre. Er erforscht das soziale Verhalten des Menschen nicht nur anhand seines tatsächlichen Gebarens, sondern auch anhand der Einrichtungen, die manchmal primär, meistens aber sekundär der sozialen Interaktion dienen. Schweizer untersucht den Charakter der Bauwerke, Grünanlagen, Beförderungsmittel, Werbeanzeigen, er fotografiert am Strand, im Restaurant, auf der Landstrasse, vor dem Zeitungskiosk, in der Eisenbahn, in den Slums und den Kulturzentren, den Touristenzentren und den Arbeitervierteln. Es ist kein Zufall, dass der städtische oder dörfliche Raum, also die Zentren menschlichen Zusammenlebens, den grössten Anteil seiner Fotografien einnehmen, gefolgt von Landschaftsaufnahmen.

Stadt und Dorf sind gleichbedeutend mit einer nahezu vollständig organisierten, gestalteten Umwelt. Doch auch die Landschaft existiert nicht mehr unabhängig vom menschlichen Einfluss.

Schweizers Landschaftsaufnahmen variieren von Gegenden, die stark durch die menschliche Besiedelung oder Bewirtschaftung geprägt sind, bis hin zu solchen, in denen der Mensch nicht oder nur am Rande vorzukommen scheint. Doch auch dort, wo er abwesend ist, hat er seine Spuren hinterlassen, etwa durch Lawinenverbauungen oder dem Klimawandel, der gegenwärtig weltweit am stärksten in Alaska zu Veränderungen geführt hat. Das Bild der Schneelandschaften Alaskas wurde auf dem Flug von New York nach Anchorage aufgenommen und reiht sich damit in die Gruppe der Fotografien aus Vogelperspektive heraus. Sie entstehen aus dem Flugzeugfenster heraus, von Hochhäusern, Türmen oder Bergen herab und liefern eine wichtige Ergänzung zu all jenen Bildern, die sich dem Geschehen aus nächster Nähe widmen. Schweizer wechselt beständig den Standpunkt, er oszilliert zwischen Mikro- und Makrokosmos, sucht die Über- und die Innensicht. Er begibt sich in grössere Distanz, um danach wieder einzutauchen in die ihn umgebende Welt.

Immer wieder verfolgt Schweizer dabei konzeptuelle Ansätze. In New York fuhr er beispielsweise das gesamte Untergrundbahnnetz ab, um dann an einzelnen Stationen auf die Strasse hinaufzusteigen und dort Sehenswertes ablichtete. Mitunter sucht er bereits begangene Orte erneut auf, wenn ihn die Stimmung, die Umgebung oder ein Moment besonders faszinierten, sich aber nicht auf adäquate Weise mit der Kamera bannen liessen. Die Basis für solche wiederholten Bildversuche sind akribische Notizen: „Beste Zeit für Aufnahmen in der Strasse G. um 4 Uhr nachmittags. Dunkelblauen Bus an der linken Ecke  abwarten; Kinder auf Trottoir und, falls möglich, wolkigen Himmel mit einbeziehen.“ Schweizer wartet dann einen günstigen Tag ab und zeigt sich als geduldiger Beobachter, der, wie Dürrenmatt es forderte, die Wirklichkeit formt, um sie zum Sprechen zu bringen.

Schweizer lässt sich von Zufällen, Beobachtungen, Begegnungen leiten. Er kehrt an bereits besuchte Orte zurück, um den Blick nochmals zu vertiefen. Er vergleicht Vertrautes mit Fremden, Früheres mit Gegenwärtigem. Hier kommt insbesondere Schweizers kontinuierliches Interesse an der ihn umgebenden Welt zum Ausdruck. Er lässt sich auf Veränderungen ein und erspürt deren Tragweite. Geradezu prozesshaft wird seine Arbeit, wenn er wie in Bangkok dreimal denselben Standunkt aufsucht und die Verwandlung eines Hotels im Bungalowstil in eine Baustelle und zuletzt in die Fassade eines riesigen Einkaufszentrums verfolgt. Nicht immer zeigt sich die fortschreitende Kommerzialisierung und Standardisierung so vordergründig, aber mitunter noch viel eindrücklicher. Doch es geht Schweizer nicht um Konsum- oder Kulturkritik. Statt zu polemisieren oder zu dramatisieren, pflegt er eine realistische Betrachtungsweise, mitunter gepaart mit feinem Bildwitz. Er arbeitet Typologien heraus und entdeckt globale Gemeinsamkeiten, gleichzeitig behält er die lokalen Spezifika im Blick. Heinrich Schweizers fotografisches Oeuvre offenbart dem Betrachter differenzierte Blicke auf die Veränderungen und Konstanten des menschlichen Miteinanders im öffentlichen Raum im Laufe eines halben Jahrhunderts.