Dada-Max und Ernst

by Kristin Schmidt

Unter dem Titel «Max Ernst – Surreale Welten» lädt das Museum Liner in Appenzell zur Wiederbegegnung mit Druckgrafiken und illustrierten Büchern des Surrealisten ein.

Es ist, als habe sich eine Schatztruhe aufgetan. Selten sind bibliophile Kostbarkeiten des frühen 20. Jahrhunderts in so reicher Anzahl zu bestaunen. So finden sich etwa eine frühe Ausgabe des «Surrealistischen Manifests» von André Breton, Werke von surrealistischen Literaten wie René Crevel, Paul Eluard oder Benjamin Péret, aber auch illustrierte Ausgaben der Schriften Kafkas oder Lewis Carrols – und natürlich die berühmten Collageromane Max Ernsts. Denn ihm ist die sorgfältig inszenierte Ausstellung gewidmet.

Sie zeigt einen Ausschnitt aus der Sammlung des Zürchers Hans Bolliger, die sich seit 1987 im Besitz des Kunstmuseums Bonn befindet und das eindrucksvolle Dokument einer vierzigjährigen Sammelleidenschaft und langen Freundschaft zwischen Künstler und Sammler ist. Frühe Linolschnitte und Radierungen sind ebenso vertreten wie die von Max Ernst erfundenen Decalcomanien, die auf dem Abklatschverfahren beruhen, oder die Frottagen, bei denen er das Papier über unebenen Untergrund legte und das Bild mittels Durchreiben erzeugte wie in der Serie der «Histoire Naturelle». Bilder mit mal fragil, mal monumental wirkenden Motiven und vieldeutigen Titeln fügen sich zu einer Erzählung über die Entstehung der Welt und des Lebens bis hin zu «Eva, der Einzigen, die uns bleibt», wie der Bildtitel verheisst. Max Ernst war ein kreativer Individualist. Sein Studium so unterschiedlicher Fächer wie Psychologie, Germanistik, Medizin, Philosophie und Kunstgeschichte brach er ab, um ganz in der Kunst aufzugehen. In Köln gehörte er zu den Mitbegründern der dortigen Dada-Sektion und begehrte wie seine Kollegen in Zürich, Berlin und New York gegen die traditionellen Werte der bürgerlichen Gesellschaft, gegen den etablierten Kunstbegriff und gegen den 1914 entbrannten Weltkrieg auf. Doch Max Ernsts Collagen, so provokant sie wirkten, weisen ihren Schöpfer stets mehr als Künstler denn als dadaistischen Antikünstler aus. Seine Collagen sind von hoher ästhetischer Qualität und spielen ein vieldeutiges Spiel. Ernst besass ein gründliches Wissen über alte und neue Meister, das in seine Werke wie selbstverständlich einfloss – aber auch der Verkaufskatalog einer Kölner Lehrmittelanstalt konnte ihm zur Inspirationsquelle werden. Im Museum Liner ist ein Beispiel dieser Transformation des Banalen in mysteriöse Wunderwelten zu sehen, wie auch sämtliche Schaffensphasen Ernsts mit Werken dokumentiert sind. Ein Blatt aus der frühen, von der italienischen Pittura Metafisica beeinflussten Serie «Fiat Modes» fehlt ebenso wenig wie die Collageromane. Statt dadaistischer Provokation flammt in ihnen die für den Surrealismus typische Lust an hintersinniger Erotik, an den verborgenen und tabuisierten Momenten des Lebens auf.

Max Ernst erweckte Fabelwesen zum Leben und thematisierte das Abgründige und Ausserbürgerliche. Die Natur erscheint wild und rätselhaft, manchmal unheimlich. Den Höhepunkt seiner Beschäftigung mit den Naturwissenschaften markiert das im Museum Liner raumgreifend präsentierte Buch «Maximiliana». Hier bezieht sich der Künstler auf einen vom Freizeitastronomen Tempel im 19. Jahrhundert entdeckten und getauften Stern. Mit neuartigen Radiertechniken illustrierte er dieses auch in seiner Typografie experimentelle Werk. Bereichert durch ein Gemälde und fünf Skulpturen bietet die Ausstellung einen kleinen, aber feinen Blick in das riesige Œuvre Ernsts. Einziger Wermutstropfen: Hans Bolliger erlebte diese erste Präsentation seiner Sammlung nicht mehr. Er verstarb eine Woche vor der Eröffnung.