Schneckenhaus für Klein und Gross
by Kristin Schmidt
Die Künstlergruppe N55 aus Dänemark rollte ein Wochenende lang ein aussergewöhnliches Haus durch die Stadt und berichtete von ihrer Vision einer beweglichen Kolonie.
Eine Rettungsinsel? Ein Paddelboot? Ein Wasserkanister? Der grosse weisse Tank, den die zierliche junge Frau durch die Innenstadt rollt, gibt den Passanten ein schwer zu lösendes Rätsel auf. «Ein Laufrad könnte es sein», deutet eine Fussgängerin, und ein junger Mann ist sich sicher: «Das ist eine Waschmaschine, das sieht doch jeder!»
Aber er liegt ebenso falsch wie das Pärchen, das die Heimat des kleinen Begleittrosses hinter dem Tank in Holland vermutet. Ingvil Aarbakke, Jon Servin, Rikke Luther und Cecilia Wendt stammen aus Dänemark und haben seit 1994 ihr Domizil im Hafen von Kopenhagen. Gemeinsam sind sie als N55 unterwegs und stellen im Rahmen der aktuellen Ausstellung in der Kunsthalle ihr komplexes Gedankengebäude vor. Im Zentrum steht die Idee, Kunst für die Menschen und für ganz konkrete Situationen zu entwickeln.
So hat denn auch das rollende weisse Ding einen bestimmten Nutzwert. Wer sich zu fragen traut, erfährt, dass Rikke Luther ein Haus über den Asphalt der Vadianstrasse rollt. Ein Haus, das seinen Namen «Snail Shell System», also Schneckenhaussystem, verdient, denn kompakt, wie es ist, kann es alle grundlegenden Wohnbedürfnisse befriedigen. Der gepolsterte Boden bietet Platz zum Schlafen, eine Plastiktasche dient als Toilette, eine Box enthält Taschenlampe, Bratpfanne, Kessel und Kocher. Zusätzliche Utensilien wie das Paddel sorgen für Mobilität sogar im nassen Element. So viel Erfindungsgeist entlockt den meisten Passanten nicht wenig Begeisterung, die sich bei der Gruppe amerikanischer Touristen mit einem lauten «Wow» entlädt. Die zahlreichen OpenAir-Besucher in der Stadt erkennen gleich, dass dies genau das Richtige für sie wäre. Und schnell kommen denn auch die Fragen nach dem Preis des praktischen Häuschens. Geduldig erklärt Jon Servin, dass diese Häuser weder patentiert noch kommerzialisiert sind. Jeder darf es nachbauen und erhält auf Anfrage gern das nötige Know-how. An solchen Details ist eine Gruppe Buben nicht interessiert, stattdessen erfrischen sie Rikke Luther ungefragt mit ihren Wasserpistolen, doch die Reaktion kommt prompt, und statt vom Haus überrollt zu werden, suchen sie lieber das Weite.
Abgesehen von diesem kleinen Tumult und dem Vorschlag eines Fussgängers, dem Kunststoffhaus einen kräftigen «Schupf» zu geben, erwartet die vier Künstler eine sehr freundliche und offene Atmosphäre. Kaum einer belächelt sie. Die positiven Erfahrungen, die N55 zuvor bereits in England und Italien machten, wiederholen sich. Wissbegierig sind anfangs vor allem die Kleinen. Als das Team den Spaziergang unterbricht und das Haus in seine Ruheposition stellt, drängen sie sich um den weissen Zylinder und lassen sich von ihren Eltern in die Höhe heben, um das Innere des fremdartigen Tanks inspizieren zu können.
Wie ein gelandetes Ufo ruht er vor dem Vadiandenkmal und bildet einen deutlichen Kontrast zum bunten Markttreiben in der Neugasse. Schnell bildet sich eine kleine Traube. Unter neugierigen Blicken schlüpft Ingvil Aarbakke in den Tank, um Kocher, Kessel und Thermoskanne nach aussen zu befördern. Während der folgenden Teestunde entspinnt sich so manches Gespräch. Umstehende berichten von ihrer eigenen Wohnsituation und zeigen sich fasziniert von der Schneckenhausidee, die es einem ermöglicht, seinen individuellen Raum stets bei sich zu haben und bei Bedarf mit anderen zu einer Kolonie zusammenzuschliessen. Endlich gibt es nach anfänglichem Zögern einige, die durch die runde Luke in den Tank klettern und das Gefühl geniessen, mitten drin im Samstagstrubel zu sein, aber doch die Geborgenheit und Ruhe des kleinen weissen Raumes zu erleben.