Appenzeller Land als Filmland
by Kristin Schmidt
Drehvorbereitung
Der Säntis ist der einzige Berg, den Franz Hohler von seinem Haus in Zürich-Oerlikon aus sieht. Die Aussicht als Anlass für einen Weg und roter Faden für einen Film: Für „Hohler, Franz“ begab sich der Zürcher Filmemacher Tobias Wyss gemeinsam mit Franz Hohler auf die Reise vom Haus des Schriftstellers und Kabarettisten bis in den Alpstein – zu Fuss durch die Vororte der Stadt, entlang dem Greifensee, in Richtung Zürcher Oberland, über den Ricken ins Toggenburg, der Thur entlang bis Nesslau, hinauf zur Schwägalp und schliesslich zum Säntis. „Auf diesem Weg, durch wechselnde Landschaften, habe ich versucht, diesem ´literarischen Allgemeinpraktiker´ auf die Spur zu kommen. Eine Besonderheit bestand darin, dass wir tagsüber nur zu zweit unterwegs waren und ich ihn mit einer kleinen Kamera begleitete. In diesen Stunden wuchsen unsere Wanderung, die jeweiligen Landschaften und der entstehende Film zusammen.“
Doch auch ein solch unmittelbares, von der Präsenz der Person getragenes Projekt benötigt eine genaue Vorausplanung vor Ort. Tobias Wyss und sein Kameramann Adrian Stähli besuchten die wichtigsten Punkte und Passagen der Wanderung, um die Stimmungen und Aufnahmen festzulegen: Zentral waren dabei der Greifensee und der Hasenstrick, der Übergang ins Toggenburg und ganz besonders der Eintritt in die alpine Landschaft um den Säntis. An bestimmten Orten wurden ausserdem Überraschungen für Franz Hohler geplant, dort wartete dann eine professionelle Equipe.
Die Landschaft wurde ein gewichtiger Mitspieler im Film: „Je hügeliger der Weg wurde, je länger die Tagestouren dauerten, je nach Wetter entstanden andere Stimmungen, die sich in den Aufnahmen abbilden. Vom Moment an als wir gegen die Schwägalp hinaufstiegen – an diesem Tag regnete es auch ausgiebig – verzichteten wir auf meine Kamera, um den Aufstieg zum Säntis langsam vorbereiten zu können.“ Hier und bei der Passage aus dem Toggenburg hinauf zur Schwägalp zeigen sich schliesslich auch die Besonderheiten der appenzellischen Landschaft: „Hügelig, manchmal kleinräumig, dann plötzlich mit grosser Aussicht. Mit Blick auf die Appenzeller Landschaft ist es vor allem der steile Aufstieg zum Säntis, den Franz Hohler allein macht, in dem sich die Energie von Hohler und die Kraft, Grösse und Weite dieser Welt treffen.“
Tobias Wyss, geboren 1942 in Dielsdorf, lebt in Zürich. Nach dem Studium der Romanistik und Komparatistik an der Universität Zürich und einem Filmkurs an der Kunstgewerbeschule Zürich arbeitete Wyss von 1973-95 als freier Autor und Regisseur bei SRF. 1981–1999 Lehrauftrag an der Schule für Gestaltung Luzern, 1999–2007 Leiter des Studienbereichs Video an der Hochschule Luzern. Seit 1984 ist er freischaffender Autor und Regisseur. Seine Filme sind regelmässig an den Solothurner Filmtagen zu sehen und erhalten über die Schweiz hinaus Aufmerksamkeit. Sein aktueller Film „Hohler, Franz“ lief im März in einer gekürzten Fassung im SRF und wird ab Herbst 2013 im Kino zu sehen sein.
Casting
Marcel Gisler filmte im Juli 2012 erstmals in seinem Heimatort Altstätten. Der 1981 nach Berlin ausgewanderte Filmemacher verankerte sein teilweise autobiografisches Filmprojekt „Rosie“ auch geografisch in der eigenen Geschichte. Das war jedoch nur einer der Gründe für den Dreh in der Ostschweiz: „Filmisch ist die Gegend noch ´jungfräulich´. Hier wird nicht viel gedreht, und wo selten gedreht wird, sind die Behörden und Privatpersonen viel entgegenkommender.“ Ausserdem hatte Gisler beim Drehbuchschreiben bereits Motive im Kopf: „Ich wusste, wo Szenen spielen konnten, ich habe ja 15 Jahre lang dort gelebt.“ Viele Orte und Restaurants stimmten genau mit Gislers Erinnerungen überein. Aber nicht alle. Aus dem geplanten Hauptmotiv des Filmes, einem Haus mit Garten am Rande Altstättens, wurde das Balmerhaus. Die Kamerafrau Verena Schoch, die bei „Rosie“ als Location Scout arbeitete, entdeckte es und es passte ausgezeichnet zur Geschichte einer alternden Mutter, die nicht mehr allein für sich sorgen kann. Mit dem Haus inmitten des umgebauten Stadtzentrums ergab sich eine Subgeschichte im Film: Ringsum verschwindet alles Vertraute, die Vergangenheit wird wegsaniert. Marcel Gisler ist stets offen für solche Einflüsse – dies gilt auch fürs Casting. Da „Rosie“ angelehnt ist an Gislers Familiengeschichte, war es nicht einfach, sich für die Figuren der Mutter und ihrer beiden Kinder von den Originalen zu entfernen, aber Gisler sieht diese Herausforderung bei den meisten Castings: „Das Drehbuch liefert den Steckbrief einer Figur. Der Schauspieler muss diese Figur in sich finden oder erfinden. Sein Spiel, die Gesten und Feinheiten können für den Regisseur sehr überraschend sein.“ Für Verena Schoch ist das Drehbuch stets wichtiger als das Casting: „Wenn eine Geschichte nicht zu Ende gedacht ist, entsteht auch mit besten Schauspielern nur ein durchschnittlicher Film. Schauspieler, Kameraleute, Tontechniker ziehen nur dann am selben Strick, wenn alle verstehen, was Regisseur und Drehbuch wollen.“ Technische Perfektion rettet eine unbeholfene Geschichte nicht und der falsche Dialekt kann einer guten Geschichte nichts anhaben: Die Schauspieler in „Rosie“ sprechen Züridütsch statt Ostschweizerisch. Marcel Gisler: „Die Familie kann zugewandert sein. Wichtiger als die geographische Authentizität der Sprache ist ihre milieubedingte und emotionale Echtheit. Die kann ein guter Schauspieler in jedem Dialekt erschaffen.“
Marcel Gisler, 1960 in Altstätten geboren, studierte an der Freien Universität Berlin Theaterwissenschaften und Philosophie. In Berlin gründete er mit Freunden eine Filmgruppe, aus der sein erster Kinospielfilm Tagediebe hervorging. Mit dem Film gewann er den silbernen Leoparden in Locarno. „Rosie“, Eröffnungsfilm der 48. Solothurner Filmtage, erhielt sechs Nominierungen für den Schweizer Filmpreis 2013.
Die Kamerafrau und Fotografin Verena Schoch ist 1957 in Waldstatt geboren und nach Wanderjahren seit 1997 wieder dort. Stationen ihres Werdegangs: Ausbildung zur medizinisch technischen Radiologieassistentin; während sechs Jahren Ausbildung zur Fotografin und Kamerafrau. Seit 1997 ist sie für verschiedene Auftraggeber wie Filmproduktionsfirmen, diverse Regisseure und das Schweizer Fernsehen freischaffend tätig. Drei Jahre lang leitete sie Um- und Aufbauphase des Kulturfrachters Alpenhof.
Filmmusik
Wie klingt die Landschaft? Welcher Klang entspricht ihr? Wenn Peter Liechti in seinem Film „Hans im Glück“ die Geschichte von einem erzählt, der auszieht, das Rauchen loszuwerden, und wenn dieser dann von seinem Wohnort Zürich nach St. Gallen auf drei verschiedenen Routen läuft, so heisst das nicht, dass die Musik zu diesen Wegen dreimal grundverschieden ist: Die filmischen Bilder sind für Norbert Möslang wichtiger als die faktisch durchlaufenen Orte. Der St. Galler Künstler und Musiker hat bereits 1985, damals mit Andy Guhl, die Musik für einen Film von Peter Liechti konzipiert. Inzwischen umfasst die Zusammenarbeit fünf Filme, und jedes Mal war Norbert Möslang früh in das jeweilige Projekt des Zürcher Regisseurs involviert. Früh hat er Filmausschnitte gesehen und aus der Erinnerung heraus erste Klangfelder produziert. Die Herangehensweise hat für Möslang mit einer grundsätzlichen Haltung zu tun: „Soll die Filmmusik illustrativ sein oder soll sie einen Gegenpol bilden?“ Illustrationen sind Möslangs Sache nicht. Er setzt sich mit dem Charakter des Filmes auseinander, experimentiert und findet manche eine Lösung auch spontan.
«Senkrecht/Waagrecht», jener Film von 1985, zeigte Aktionen Roman Signers in der appenzellischen Landschaft. «Kick That Habit», 1989, vertonte sich als Film selbst, er porträtierte die Arbeit von Norbert Möslang und Andy Guhl und handelte gleichzeitig ebenfalls von der Landschaft. Sie ist für Möslang ein starker Gegenpol: „Die Landschaft hat mit mir selber zu tun. Sie beeinflusst mein Lebensgefühl und sie löst Widerstand aus. Sie beeinflusst auch die Haltung der Menschen, mit denen ich mich auseinandersetzen muss.“
Auch Paul Gigers Musik ist mit der Landschaft verbunden. Künstlerisch blickt der Musiker weit über die Appenzeller Hügel hinaus: „Ich weiss nicht immer, wo die Klänge sich herfinden. Die Musik der ganzen Welt geht in Ohr und Herz ein.“ Gleichzeitig gibt es die Ausserrhodischen Wurzeln, Kuhreihen, Zäuerlis oder Alpsegen mischen sich mit anderem. Zum Beispiel in Paul Gigers Filmmusik für „Auch ein Esel trägt schwer“ von Andreas Baumberger: „Diese Arbeit hat mir speziell Spass gemacht, weil ich so arbeiten konnte, wie ich mir vorgestellt habe, dass Hans Krüsi gearbeitet hat: frech, frisch, schräg, eigenständig, rudimentär, volkskünstlerisch“. So lässt sich dann auch ein Clavichord als Hackbrett verwenden.
Norbert Möslang, geboren 1952 in St. Gallen, lebt als Musiker, Künstler, Geigenbauer und Fotograf in St. Gallen. Von 1972 an arbeitete er 30 Jahre lang mit Andy Guhl im Duo; seit 1984 waren die beiden als „Voice Crack“ unterwegs. Mit Erik M und Günter Müller erweiterte sich das Duo zum Ensemble poire_z. Möslang setzte dabei zunehmend „geknackte“, decodierte Alltagselektronik in seinen Improvisationen ein. Für seine Filmmusik zu Peter Liechtis Dokumentarfilm „Das Summen der Insekten“ gewann er 2010 den Schweizer Filmpreis und den Cinema Eye Award, New York, 2011.
Der Komponist und Violinist Paul Giger, geboren 1952 in Herisau, lebt in Rehetobel. 1970/71 reiste er als Strassenmusiker durch Asien. Anschliessend absolvierte er ein Musikstudium in Winterthur und in Bern. Von 1980 bis 1983 war er Konzertmeister des Sinfonieorchesters St. Gallen; seit 1983 arbeitet er freischaffend. Gigers Repertoire umfasst die Violinliteratur vom Barock bis zur Moderne. Weitere Schwerpunkte bilden Improvisation, verschiedene Folkloretraditionen. Giger komponiert seit 1992 Chor-, Orchester- und Kammermusik und hat bei ECM bisher sechs Aufnahmen unter eigenem Namen vorgelegt.
Filmkritik
Filmkritik ist ein Echo dessen, was zu sehen ist, und gleichzeitig ein sehr persönlicher Auseinandersetzungsprozess. Wenn der Kritiker oder die Kritikerin einordnet, reflektiert und abwägt, geschieht dies vor seinem individuellen Erfahrungshorizont, seiner Wahrnehmung des Weltgeschehens. Beides wird durch das Lebensumfeld, die Geographie geprägt. Andreas Stock rezensiert seit … Jahren Filme für das St. Galler Tagblatt. Beschäftigt sich ein Filmemacher mit der Region hier, ist der Zugang zum Film für Stock sofort ein besonderer: „Der eigene Background schwingt mit. Zudem versuche ich herauszuarbeiten, inwiefern die Region eine Rolle spielt. Wenn etwa ein regionaler Regisseur das Lebensgefühl als beengend empfunden hat, thematisiert das die Filmkritik ebenso, wie wenn einer dem Lebensraum verbunden ist.“ Auch der Aussenblick ist für den Kritiker interessant. Etwa Erich Langjahrs „Männer im Ring“ über die letzte Männer-Landsgemeinde von Hundwil. Der Blick des Regisseurs ist unbelastet von Emotionen, Historie und lokaler Kultur: „Langjahrs Film ist stimmig. Ohne zu kommentieren, überlässt er es dem Zuschauer, sich eine Meinung zu bilden.“ Eine heikle Frage ist für Stock jene nach einem Kritikerbonus für lokale Filmschaffende: „Wir sind eine Region, die filmhistorisch nicht mit sehr vielen herausragenden Filmemachern glänzt. Wenn es jemand schafft, wahrgenommen zu werden, freut mich das sehr.“ Schöne Fingerübungen eines lokalen Autodidakten werden denn auch milder betrachtet als kommerzielle Grossproduktionen. Marcel Elsener, Kinok-Vorstandsmitglied und langjähriger Filmschreiberling, sieht das ähnlich: „Es ist ein Unterschied, ob ein Film in Cannes läuft oder hier entsteht und seinen Weg finden muss. Wichtig ist eine gut erzählte Geschichte, ein eigener Zugang, der einer möglichen Wahrheit oder überindividuellen Fantasie nachspürt.“ Und die Besetzung muss stimmen, ein gut überprüfbares Kriterium bei einem Film: Marcel Elsener erinnert sich mit Begeisterung an jene rauchenden Kinder in Peter Liechtis „Hans im Glück“ – wahrhafte, stimmige Charaktere. Für Elsener „ist es unerklärlich, dass die Ostschweiz als Filmlandschaft nicht schon längst entdeckt worden ist.“
Marcel Elsener, Jahrgang 1964, studierte Philosophie und Journalistik in Fribourg und ist nach einem Volontariat bei der „Ostschweiz“ seit 1989 hauptberuflicher Journalist für Kultur und Politik.
Obacht Kultur No. 15, 2013/1