Rätselhaft Bekanntes
by Kristin Schmidt
Mirjam Kradolfer zeigt neue Arbeiten in der Galerie Paul Hafner. Unter dem Titel „Kabinett“ sind Fotografien und eine Videoarbeit ausgestellt.
Wer kennt dies nicht aus Kindertagen: Im Zwielicht der Dämmerung verwandeln sich die alltäglichen Dinge des Kinderzimmers in fremd anmutende Wesen. Das Vorhangmuster gerät in Bewegung, Tiere tummeln sich jetzt dort. Das achtlos hingeworfene Spielzeug mutiert zum Gnom. Mit dem Erwachsenwerden kommen diese unbewussten Projektionen im gewohnten Umfeld seltener vor. Ihren Reiz haben sie dennoch nicht verloren.
Es muss nicht einmal sein, dass die Dinge sich verwandeln, selbst ein unverhofftes Aufeinandertreffen bekannter Gegenstände kann für Überraschung und Irritation sorgen. Mirjam Kradolfer (1979 in St. Gallen geboren) hat mit der Kamera Situationen aufgespürt, denen seltsame Zweideutigkeiten anhaften. Die St. Galler Künstlerin weilte mit dem Atelierstipendium der visarte.ost 4 Monate in Paris. Sie besuchte dort nicht nur die Kunstmuseen, sondern unter anderem auch das naturhistorische Museum und das Musée Fragonard. Letzteres ist nicht dem Rokokomeister Jean-Honoré Fragonard gewidmet, sondern seinem Cousin, dem Anatom Honoré Fragonard. Kradolfer fotografierte in der veterinärmedizinischen Abteilung des Museums beispielsweise ein Tableau mit Pferdegebissen. Kradolfer hat dies zu einem grün-weissen Diptychon verarbeitet. Statt anatomischer Auffälligkeiten rückt nun die scheinbare Mimik der Schädelfragmente ins Blickfeld. Sie grinsen den Besucher der Galerie Paul Hafner an, lachen ihn aus oder erzählen aus ihrem früheren Leben.
Mirjam Kradolfer hat die Zeit in Paris gut genutzt. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit dort bestand darin, den Blick zu befreien, das eigene Werk zu hinterfragen und neue Wege zu finden. Wer Kradolfers vorhergehende Ausstellungen in Katharinen oder bei Kultur im Bahnhof gesehen hat, gewann den Eindruck, dass sich die Künstlerin jetzt ganz auf das Nachstellen berühmter Gemälde verlegt hatte. Doch mit dem Atelieraufenthalt in Frankreich haben ihre Fotografien eine neue, eigenständige Qualität gewonnen. Kradolfer schafft es, in St. Gallen fortzusetzen, was sie in Paris begonnen hat wie ihre Fotografien aus dem Botanischen Garten und dem Naturmuseum zeigen. Im Botanischen Garten fotografiert sie unterhalb der gewohnten Augenhöhe und mit immer wieder leicht weiterrückender Kamera. Das Bild entsteht aus vielen leicht überlappenden Motiven. Aus der seriellen Abfolge, den Unschärfen und der fein abgestimmten Farbigkeit ergeben sich landschaftliche Panoramen. Sie wirken nah und fremd zugleich.
Im Naturmuseum interessieren Kradolfer besonders die sich überlagernden Ebenen. Die Künstlerin offenbart einen sehr aufmerksamen Blick für Durchsichten und Spiegelungen. So kommt es, dass auf einem Bild Biber, Marder, Maus, das Krokodil vor den Fotografien des Museums und schemenhaft auch noch ein Vogel aufeinandertreffen und auf einem anderen der ockerfarbene Hase im schwarzweissen Dickicht hockt. Die Aufnahmen sind leicht aus der Horizontale gerückt, etwas unscharf und auch in Licht und Farbigkeit weit vom digitalen Fotoperfektionismus entfernt. Doch gerade dadurch wecken sie die Lust hinzuschauen und das Bekannte neu zu sehen.