Gewiefelte Bilder

by Kristin Schmidt

Am liebsten nicht mehr aufhören zu schauen. Mit den Augen im Bild umherwandern –von einer Form zur nächsten, von einem Detail zum anderen. Sich daran ergötzen, wie sie sich verschlingen, wuchern, fliessen, ausfasern, zusammentreffen und wieder auseinanderstreben, wie sie übereinander gleiten, fliegen und sogar kommunizieren. Die Farbspiele geniessen, die stimmungsvollen Kontraste und präzise gewählten Abstufungen. Die Dialoge von zarten Tönen und kraftvollen Setzungen verfolgen und die feinen Konturlinien. Dazwischen im allumgebenden Weiss verweilen. Dieses Weiss ist nicht Leerstelle, sondern Fläche, in der die farbenfrohen Formen und Figuren treiben können, sie bietet ihnen Halt und Freiraum. Sie ist mit der gleichen Sorgfalt behandelt, wie alle anderen Elemente im Bild: Sie ist gestickt; mit sanft glänzendem Faden in unzähligen kleinen dicht nebeneinander gesetzten Stichen.

Ohne Vorlage, ohne Vorzeichnung, ohne Plan arbeitet Ficht Tanner direkt in den Stoff. Er definiert mit der schwarzen Konturlinie irgendwo auf dem gewählten Format die erste Form, füllt sie mit Farbe aus und fügt an anderer Stelle die zweite hinzu. Die Fadenrichtung wechselt dabei ebenso wie die Reihenfolge von Kontur und Form bis schliesslich alles vom lichten Weiss umfangen wird.

Ficht Tanner stickt 1981 sein erstes Bild auf der Ende der 1970er Jahre erworbenen Nach-Stickmaschine. Sie näht regulierfrei vorwärts-, rückwärts, breit, schmal, lang oder kurz und wird in der Industrie eingesetzt, um kleine Fehler in Maschinengesticktem auszubessern.

Noch gibt es Knoten, Falten und Lücken in Tanners erstem Bild, aber der Trogener Künstler hat sein Medium gefunden, sein zweites. Sein anderes ist die Musik, genauer der Kontrabass. Immer wieder verschiebt sich das Gewicht vom einen auf das andere, doch die Stickerei wird er von nun an stets weiterentwickeln.

Die Ausstellung im Museum im Lagerhaus zeigt Ficht Tanners bildnerisches Werk von den Anfängen in den frühen 1970er Jahren bis heute. Bereits vor den ersten Stickbildern zeugen Tanners Arbeiten auf Papier von des gelernten Schriftsetzers Gespür für die spannungsvolle Balance der Gesamtkomposition und seinen linearen, grafisch geprägten Stil. Auch die Schrift kommt nicht zu kurz und ist mal als kalligraphische Studie mal als pointiertes Statement selbstverständlicher Teil der Bildwelt. Sie bleibt auf die Arbeiten auf Papier beschränkt und ist dort aber allgemeingültige Aussage das gesamte Werk betreffend, etwa wenn Tanner in einer tagebuchartigen Aufzeichnung festhält: „Aus rationalen Gründen hat man das Wort ´verschnörkeln´ zum Schimpfwort degradiert“. Der Trogener Künstler befreit den Schnörkel von seinem Makel. Er setzt ihn nicht als überflüssige Zierform ein, sondern als vollwertiges und freies Gestaltungselement in seinen grossen Kompositionen. Ein See aus Voluten kann da zur eigenständigen Fläche gerinnen und die grüne Ranke wird zur amöbenhaften Urform.

Nur dann, wenn Tanner wie in einer ausgestellten Arbeiten, die Fläche vollständig mit vegetabilen Formen in hellblau und gelb füllt, dann mutet das Werk wie ein rein dekoratives an – es wird zu einem gemusterten Stoff. Hier widerspricht Tanner seinem eigenen 1992 formulierten Anspruch „Klare Form/Klare Farbe/Klarer Aufbau“, es ist ein Erproben einer anderen Herangehensweise, die ihre Berechtigung hat, aber im Vergleich der anderen Arbeiten weniger Kraft und Präsenz entfaltet. In seinen übrigen Werken vertraut Tanner seinem sicheren Gefühl für Farbe, Form und Gleichgewicht und entwickelt in unendlichem Einfallsreichtum immer neue Figuren, ohne je ins Gegenständliche zu verfallen.

Wer mit Kindern die Ausstellung besucht, wird seine Freude haben an den Entdeckungen der Kleinen, die plötzlich einen rennenden Daumen, ein tauchendes Pferd oder ein Kasperli mit der ganzen Welt auf seinem Kopf identifizieren, doch Interpretationen der Formenwelt sind reine Spekulation. Ficht Tanner rät auf eigens gestaltetem, undatiertem Format „Geben Sie sich keine Mühe, das ist keine Welt von Symbolen“. Es ist eine Welt ohne Grenzen, eine Welt, in der sich Intuition und Erfindungsgabe aufs Schönste treffen.