Vor der Zeit danach
by Kristin Schmidt
Karin Bühler hat das neue Gästebuch der Stadt St. Gallen künstlerisch gestaltet. Seit der Stiftung des neuen Brauches mit der Einweihung des sanierten Rathauses ist es bereits das zweite Buch.
Das Gästebuch: Jeder kennt es; viele haben sich selbst bereits in Gasthäusern, Ausstellungen oder privaten Häusern in solche Bücher eingetragen, andere haben nur geblättert. Gästebücher halten Besuche und Begegnungen fest, können wohlmeinende Worte aber auch Kritik umfassen, und vor allem enthalten sie Unterschriften – zumindest, ab dem Moment, wo sich der erste Gast eingetragen hat. Letzteres ist beim neuen Gästebuch der Stadt St. Gallen anders. Hier lohnt es sich, nicht nur zurückzublättern, sondern auch nach vorn. Zwischen den noch unbeschriebenen Seiten verbergen sich bereits Namenszüge. So ist die Signatur des Königs Ludwig XIV zu lesen, jene von Maria Theresia von Österreich, diejenigen von Giuseppe Verdi, Thomas Mann oder Albert Schweitzer. Zählten sie alle zu den Besuchern der Stadt?
Thomas Mann immerhin schrieb 1947 ins Gästebuch der Universität: „Herzlich froh, das liebe alte St. Gallen wiederzusehen“. Aber Maria Theresia hätte sich nicht ins selbe Buch eintragen können. Gemeinsam ist ihnen, dass ihre Unterschrift in St. Galler Archiven aufbewahrt wird. Dort hat Karin Bühler sie entdeckt und für das neue Gästebuch der Stadt ausgewählt.
Die Trogener Künstlerin erhielt den Auftrag zur künstlerischen Gestaltung des Buches. Das vorherige, mittlerweile bis auf die letzte Seite gefüllte hatte Lucie Schenker mit einem Gespinst aus Golddrähten eingekleidet.
Karin Bühler hat sich nun auf das Innenleben des Buches konzentriert. In gewohnt sorgfältiger Weise hat sie sich dem Gegenstand ihrer Arbeit gewidmet und sich mit der Tradition der Gästebücher ebenso auseinandergesetzt wie mit der Geschichte der Unterschrift und den Verbindungen historischer Persönlichkeiten zu St. Gallen. Bühler recherchierte sowohl in Staatsarchiv und Stiftsarchiv, im bischöflichen und in privaten Archiven. So konnte sie das dichte Beziehungsnetz der Stadt über die Jahrhunderte hinweg herausarbeiten. Dies äussert sich freilich nicht immer in persönlichen Besuchen, aber doch in einem regen Schriftverkehr. So gratuliert der Sonnenkönig dem St. Galler Abt Coelestin Sfondrati zur Kardinal-Ernennung und Maria Theresia teilt dem St. Galler Fürstabt Coelestin II mit, dass sie als Universalerbin der habsburgischen Regierung den Thron übernimmt. Albert Schweitzer aber bedankt sich bei Robert Alther für die Verbandwatte für das Dschungelspital Lambarene und erfüllte so die Hoffnung des Apothekers und eifrigen Autografensammlers auf eine Unterschrift.
Diese und ein Dutzend weitere Unterschriften sind nun per Monotypieverfahren mit dunkelblauer Ölfarbe im Gästebuch versammelt. Sie bergen die Chance ungeahnter, beziehungsreicher Zusammentreffen zwischen St. Galler Gästen aus der Jetztzeit und den historischen Persönlichkeiten oder vielmehr ihrer Namenszüge. Und wenn das Buch dereinst vollständig beschrieben ist, dann ist auch das künstlerische Werk Bühlers im Sinne seines Titels vollendet: „Vor der Zeit danach“. Dann ist es Geschichte geworden und irgendwann werden es auch die Unterschreibenden sein, wie bedeutungsvoll sie freilich werden, das wird die Zeit zeigen.