Das Leid der Stiere
by Kristin Schmidt
Mit zwei Ausstellungen gleichzeitig startet das Museum im Lagerhaus St. Gallen ins Jahr seines 15-jährigen Bestehens. Die Ausstellung mit Werken von Ignacio Carles-Tolrà wird bereichert mit Sammlungswerken.
Vögel sehen aus wie Schildkröten und Schildkröten wie Vögel. Oder gehört die Spezies keiner von beiden Arten an? Vielleicht sind es Kreuzungen aus Nashorn und Einzeller. Sie verändern sich von Bild zu Bild und bleiben seltsam gestaltlos. Mal haben sie sechs Beine und mal vier. Mal stülpen sich die Körperkonturen zu weiteren Gliedmassen aus, mal lässt der Umriss die Aussenwelt in die Körper hinein. Das ganze fröhliche Treiben findet in kunterbunten Tönen auf üppig kolorierten Hintergründen statt.
Doch die Ausstellung im Museum im Lagerhaus zeigt nicht nur die heitere Seite Ignacio Carles-Tolràs, sondern lässt auch der anderen Seite des spanischen Künstlers Raum. Auf ihre Grundmerkmale reduzierte Tiere führen nachdenkliche Dialoge. Grosse, leere Augenpaare sitzen wie Brillen auf dem Kopf und verstärken den traurigen Eindruck. Für den Künstler sind Tiere nicht Nutzvieh, sondern fühlende, denkende und verletzbare Individuen. Mit seiner äusserst reduzierten und dennoch auffallend vitalen, energiegeladenen Bildsprache, an der nicht selten die Farbigkeit das auffälligste Gestaltungsmittel ist, gelingt es ihm, im Wortsinn das Wesentliche eines Tieres zu erfassen. Besonders zeigt sich dies in der berührendsten Serie des Künstlers, der «Taurovacherie». Was sich nur sehr ungenügend mit «Kalberei mit Stieren» übersetzen lässt, stellt das vom Menschen ausgenutzte Tier in den Mittelpunkt. Carles-Tolrà richtet mit diesen Blättern seinen Blick in die Stierkampfarenen. Die verdutzten, von der Waffe getroffenen Tiere bäumen sich auf, die Zunge fährt ihnen im Todeskampf aus dem Maul, das Leiden ist unermesslich. Im Schmerz verwandeln sie sich in Monster, bis nichts Tierähnliches mehr in ihnen ist. Gleich gegenüber jedoch zeigt sich der Übeltäter im Triptychon «Der moderne Mensch». Ausgestattet mit mindestens drei Augen, die auch Knöpfe sein könnten und Fühlern, die Ohren und Mund ersetzen, ist er zum Aufnehmen äusserer Reize gemacht und somit ausreichend für das Angebot der modernen Unterhaltungsindustrie ausgerüstet.
Carles-Tolrà hat sich keinem Formenkanon, keiner Proportionslehre unterworfen. Grosszügig füllt er das ganze Format, egal ob er einen Vogel darstellt oder einen Elefanten. Dieser selbstbewusste Umgang mit der vorhandenen Fläche zeigt sich bereits in frühen Arbeiten des Rot-Kreuz-Angestellten, eine Konstanz, die selbst Künstlerkollege Jean Dubuffet beeindruckte. Die gelungene Überschau hat in einer umfangreichen Schenkung durch den Künstler einen schönen Anlass, der zugleich Ausgangspunkt einer weiteren, gleichzeitigen Präsentation im Museum im Lagerhaus ist. Pünktlich zum 15-Jahr-Jubiläum des Museums werden unter dem Titel «Von Sammlern beschenkt» grosszügige Gaben an die Stiftung für schweizerische naive Kunst und Art brut gewürdigt. Ähnlich wie bei der aktuellen Präsentation im Kunstmuseum ist auch in der Davidstrasse der eigene Bestand das Thema einer sehenswerten Werkschau. Es gibt Wiedersehen mit alten Bekannten, aber auch Blicke auf selten gezeigte Schmuckstücke. Hans Bleiker etwa ist mit Skulpturen vertreten. Daneben erwarten den Betrachter die mosaikartigen Paläste Alois Weys oder eine Werkgruppe von Louis Sutter. Wie ein Bildhauer die Skulptur mit unzähligen Schlägen aus dem Stein herausarbeitet, entringt er dem Blatt sein Sujet mit ungezählten Strichen. Die sparsam gezeichneten Rinder von Hans Krüsi bilden wiederum einen interessanten Kontrast zu denen von Carles-Tolrà. Obwohl sich beide auf die Grundmerkmale des Tieres konzentrieren, haben sie eine völlig verschiedene Ausdrucksweise gefunden. So ermöglichen die beiden Präsentationen unter einem Dach unerwartete Entdeckungen.