Körperräume

by Kristin Schmidt

Übersicht und Nähe im Werk von Josef Felix Müller

Nach der Gemeinsamkeit zwischen Bergsteigern und Künstlern befragt, würde wohl mancher erst zögern. Für Josef Felix Müller jedoch liegt es auf der Hand. Beides sind Grenzgänger. Sie beschreiten neue Wege und haben mit Widerständen zu kämpfen. Der Vergleich kommt nicht von ungefähr, setzt doch der St. Galler seit einiger Zeit seine Leidenschaft für die Berge künstlerisch um. Bei der mehrmonatigen Arbeit an seinen grossformatigen Gemälden kommt er den Gipfeln so nahe wie sonst nur ein Alpinist und kennt schliesslich jedes Detail, jede Senke, jeden Felsspalt. Ausgangspunkt der Bilder sind Luftaufnahmen, über die der Künstler ein Raster legt. Dies hilft ihm, die Vorlage detailgetreu in ein grösseres Format zu übersetzen. Schicht um Schicht wird aufgetragen, bis jedes Detail stimmig und optisch scharf wiedergegeben ist.

In Müllers Atelier im St. Galler Westen fühlt sich der Besucher wie auf einer Aussichtsterrasse mit schneebedeckten Gipfeln ringsum. Gleissend blauer Himmel wölbt sich über Bergpanoramen. Scharfe Schatten zerschneiden das Weiss des Schnees, das an manchen Stellen bräunlich, ocker oder grünlich verfärbt ist. Nur schwer lässt sich angesichts dieser Gemälde erahnen, dass die überlebensgrossen Holzskulpturen, die das Erdgeschoss des Ateliers bewachen, von derselben Hand stammen: Hier die naturgetreue Wiedergabe eines in der Realität unendlich viel grösseren Gebirges, dort die durch die Arbeit mit der Motorsäge vereinfachte und vergröberte Darstellung der Menschen.

Müller ist gepackt von einer neuen Lust an der Malerei. Doch wer in seinem Schaffen weit genug zurückblickt, entdeckt, dass der Künstler eigentlich als Maler begonnen hatte. Nachdem der 1955 in Eggersriet Geborene eine Ausbildung zum Stickereientwerfer absolviert hatte und 1978 zu den Mitbegründern eines Ateliers für Textilentwürfe gehörte, wandte er sich der Kunst zu. Nach den Zeichnungen alltäglicher Dinge in den späten Siebzigern entstanden 1980 die Übermalungen. Die letzte Schicht dieser Bilder gibt nichts mehr preis vom Darunterliegenden, menschliche Figuren halten verdeckt, was in den Situationen zuvor geschah. Anders in den grossformatigen Gemälden der frühen Achtzigerjahre: In drei für die Ausstellung FRI-ART 1981 gemalten Bildern verdeckte Müller erstmals seine Visionen nicht mit anderen Motiven und löste damit einen Skandal aus. Vorwürfe der Blasphemie und Pornografie wurden laut. Die Justiz verkannte, dass Müllers Intention nicht die Provokation war, sondern er seine Bilder dem Menschen und seinen Entdeckungs- und Schöpfungsprozessen widmete. Entsprechend reduziert sind die von Aktfiguren bevölkerten Bilder. Vor monochromer Kulisse agieren Frauen und Männer mit- und gegeneinander. Erst nach den Fribourger Ereignissen fühlte sich Müller herausgefordert, die Hintergründe für die juristischen Aktionen künstlerisch zu ergründen. Den folgenden Bildern haftet eine starke sexuelle Komponente an. Mensch und Tier finden sich in mystischen, triebhaften Verstrickungen, deren Ausgangspunkt doch wieder die Sucht und Suche nach Leben ist. Wenig später setzt Müller dies schliesslich in seinen Holzskulpturen um.

Während in den Gemälden dynamische Leidenschaft auf das Sujet beschränkt blieb und die Malweise verhalten anmutet, sind die Skulpturen auch formal ein Ausdruck ungebändigter Schaffensimpulse. Müller entriss mit der Motorsäge seine Skulpturen förmlich dem Stamm. Die raue Oberfläche, das gespaltene Holz und die zersplissenen Fasern künden von der Gewalt der Arbeit. Die entstandenen Körper sind schematisiert, ihre Glieder grob und die Gesichter auf ihre Hauptmerkmale reduziert. Umso unmittelbarer wirken die verletzten Leiber mit ihren fehlenden Armen oder Köpfen. Erneut steht der seinen Instinkten und Lüsten ausgelieferte Mensch im Mittelpunkt. Beispiele dieser bildhauerischen Arbeit sind die Figurengruppen in der Abdankungskapelle im Friedhof Feldli St. Gallen sowie das dreiteilige Werk für den Ergänzungsbau der HSG. Zu Beginn der Neunzigerjahre gibt es eine weitere Zäsur. Müller beginnt seine Skulpturen zu glätten bis hin zu makellosen Oberflächen. Daneben entstehen weiterhin Gemälde. Hier kehrt Müller zur Methode des Schichtens zurück. Farblasur wird über Farblasur gelegt. Den Skulpturen und Bildern jener Zeit ist eines gemeinsam: Der Künstler rückt seinem Sujet näher und näher. Tränen und innere Organe sind die Themen seiner Skulpturen, Hautoberflächen und Grossansichten des menschlichen Körpers die Inhalte seiner Malerei.

Diese Thematik setzt sich fort bis heute, auch wenn es an den Bergbildern vielleicht nicht sofort einleuchten will. Doch Müllers Ansatz ist anschaulich: «Die Berge sind für mich wie eine Ausdehnung des Körpers. Ich kann mich als das Ganze empfinden und gleichzeitig als ein winziger Teil dieses Systems.» Gleichzeitig eröffnen die Bilder geistigen Raum. Der Künstler versenkt sich malend in ihnen, sodass das Motiv in den Hintergrund tritt und Überlegungen zur eigenen Befindlichkeit und zur Kunst die Gedanken ausfüllen. Die Gemälde sind nicht allein Abbild eines Berges, sondern Aussagen über Struktur und Bedingung des Lebens. Damit ist Müller seinem Leitgedanken trotz aller scheinbaren Brüche treu geblieben. Zwar schlug er formal neue Wege ein, doch er vergleicht dieses Vorgehen treffend mit dem eines Architekten, der auf jede neue Fragestellung eine neue Antwort finden muss. Es bleibt also spannend, wie seine zukünftigen künstlerischen Lösungen aussehen. Wenn Josef Felix Müller aber heute den Jahrespreis für bildende Kunst 2002 von der St. Gallischen Kulturstiftung erhält, dann nicht nur für ein vielseitiges und relevantes künstlerisches Œuvre, sondern auch für sein Engagement in der Kunstvermittlung. Als Gründer des Vexer-Verlages und Mitbegründer der Kunsthalle St. Gallen stellt Müller einerseits die Kunst in ein öffentliches Umfeld. Zum anderen ging es ihm stets darum, das Selbstbewusstsein einer Region aufzuwerten. Seine Erkenntnis «Inzwischen hat sich die Region im Bereich Kunst und Kultur emanzipiert» findet nicht zuletzt ihren Beweis in der heutigen Preisverleihung.