Verhaltensforschung mit der Kamera

by Kristin Schmidt

Alkoholiker benehmen sich auffällig, verlieren die Kontrolle, zeigen Gefühle in grosser Intensität. Gillian Wearing hat sie zum Sujet von Videoarbeiten gemacht, die jetzt im Kunsthaus Glarus ausgestellt sind.

Alkoholismus wird oft als Randgruppenphänomen zur Seite geschoben, selten nur ist er über Selbsthilfegruppen hinaus ein Thema. Wenn Betroffene heftig und enthemmt Aufmerksamkeit beanspruchen, blickt man lieber weg. Nicht so die britische Künstlerin Gillian Wearing. Sie konzentriert sich auf die Andersartigkeit der Alkoholiker, ihr unangepasstes, herausforderndes Verhalten.
Das Kunsthaus Glarus zeigt unter dem Titel «Trilogy» vier ihrer Arbeiten aus den Jahren 1998 bis 2000. Im Zentrum der Ausstellung steht die grossformatige, dreiteilige Videoprojektion «Drunk», 1999. Aus einem Filmshooting mit Strassenalkoholikern 1997 im Studio der Künstlerin entwickelte sich eine mehrjährige Zusammenarbeit mit einigen der Beteiligten. Das Schwarzweissvideo «Drunk» entstand in einem leeren, weissen Raum, in dem die Gefilmten völlig frei agieren konnten. Das soziale Umfeld der Alkoholiker bleibt ausgeblendet. Sie handeln losgelöst von einem erkennbaren Kontext als Menschen in einem universellen, zeitlosen Raum. Psychologische Phänomene wie Enthemmung, Kontrollverlust, Primärinstinkte und die Intensität der Gemütszustände rücken in den Vordergrund. Wearing thematisiert nicht das persönliche Schicksal ihrer Akteure. Fern von dokumentarischem Interesse bleibt immer sichtbar, dass die 1963 in Birmingham geborene Künstlerin eingreift, manipuliert, interpretiert und verändert. Sie zeigt in ihren Arbeiten Abläufe rückwärts, montiert Endlosschleifen oder lässt in «Prelude» (2000) eine Off-Stimme über verstorbene Zwillingsschwester im Bild sprechen. Für die Arbeit «I love you» engagierte sie Schauspieler, die den Heimweg zweier angetrunkener Paare mit kleinen Veränderungen achtmal in Szene setzen. Wearing steuert die Blicke auf Menschen, die durch ihr Verhalten die festgelegten Normen des Zusammenlebens durchbrechen und so das Gefüge des Miteinanders stören. Stets herrscht durch die Bearbeitung des Materials und durch das Bewusstsein der Gefilmten um die Existenz der Kamera eine Distanz, die allerdings vom unkontrollierten Gebaren der Akteure mühelos überbrückt wird. Zwar erzeugt der Verzicht auf Farbe und Mobiliar eine irritierende Ästhetisierung, dennoch drängt das (selbst)zerstörerische Potenzial der Vorgänge den Betrachter zu grundsätzlichen Reflexionen zum Thema Alkoholismus. So auch in der Fotoserie «Theresa» (1998). Die Künstlerin bat die verschiedenen Partner Theresas um kurze Stellungnahmen zu ihrer Lebensgefährtin, die sie direkt neben den Fotografien der Paare präsentiert. Hass, Liebe, Ekel, Abscheu und Bewunderung liegen hier sehr nahe beieinander. Die Arbeit verstört und berührt zugleich. Trotz des Verzichts auf dokumentarische Neutralität und abseits ihrer künstlerischen Untersuchungen menschlicher Verhaltensphänomene lassen sich Wearings Werke als deutliche und engagierte Kommentare zu aktuellen Konfliktthemen lesen.