Die Autonomie der Fotografie

by Kristin Schmidt

Zu den Werken von Sebastian Stadler in der Sammlung des Kantonsspitals St.Gallen

Das waren noch Zeiten: Zu fotografieren bedeutete ein Motiv zu entdecken oder zu suchen, das Motiv abzulichten und den Film, wenn er voll war, aus der Kamera zu nehmen. War er ins Fotolabor gebracht worden, hiess es warten. Einige Tage oder gar Wochen später wurden in einem Umschlag die Fotos geliefert oder konnten abgeholt werden. Ein spannender Moment: Was war gelungen? Was nicht? Gab es versehentliche Überbelichtungen? Oder hatte die Kamera den Film nicht transportiert und Bilder waren doppelt belichtet? Sass das Motiv richtig im Format? War alles verwackelt? War das Foto gut, landete es nicht selten in einem eigens dafür vorgesehenem Album oder Rahmen.

Die fotografische Praxis hat sich seit der Verbreitung digitaler Kameras und mehr noch seit der umfangreichen Nutzung des Smartphones sehr verändert: Schnell ist die Kamera zur Hand, schnell der Auslöser betätigt, schnell das Resultat angesehen, vielleicht verschickt und meist wieder vergessen. Die Fotografien werden selten zu Papier gebracht, in ein Album eingeklebt oder gar gerahmt; sie bleiben Bilder innerhalb eines Gerätes. Der Künstler Sebastian Stadler sagt dazu: «Es geht immer mehr ums Bildermachen. Der Akt des Fotografierens ist wichtig, weniger das Anschauen.» Warum sollen Künstlerinnen und Künstler also noch fotografieren? Warum sollen sie der unendlichen Bilderflut noch mehr Bilder hinzufügen? Viele Fotografien dienen heutzutage nur noch als Erinnerungsstütze oder zur Dokumentation, aber nicht mehr als eigenständiges Bild.

Sebastian Stadler aber blickt mit dem Auge des Künstlers in die Welt. Einerseits untersucht die Aussagekraft bestehender, auch zufällig entstandener Bilder, die er beispielsweise im Internet findet. Andererseits fotografiert er selbst und experimentiert mit Techniken und Motiven. So arbeitet der Künstler mit analogen Doppelbelichtungen in seiner Serie «L´apparition», 2015–2019. Mit einer analogen Kamera nimmt er Ausschnitte des gewöhnlichen Lebensumfeldes auf: Häuser, Plätze, Strassen, Wände, Fenster, auch Natur sind zu sehen oder Gebrauchsgegenstände. Dann dreht er die Filmrolle zurück und belichtet sie nochmals. Bei dieser zweiten Aufnahmeserie fotografiert er Bildschirme von Computern, Mobiltelefonen oder anderen elektronischen Geräten. Meist ist weniger mehr zu sehen als ein Farbeindruck, Spiegelungen oder unscharf begrenzte, gerasterte Flächen. Diese Aufnahmen von Bildschirmen liegen in zufälliger Weise über dem Ursprungsbild: «Es gibt Farbverschiebungen, die ich nicht steuern kann. Kollisionen passieren und ich sehe sie erst am Schluss der Aufnahmen.»

Der Künstler gibt der Fotografie ihre Autonomie zurück. Sie entfaltet wieder ein Eigenleben. Stadler arbeitet mit den Ungewissheiten vor-digitaler Zeit: Analoge Fotografie birgt Überraschungsmomente. Einerseits aufgrund der Belichtungs- und Entwicklungsprozesse und der möglichen technischen und menschlichen Fehler, andererseits durch die Zeitspanne zwischen der Aufnahme und dem Bild. Wenn dann noch die Ebene der doppelten Belichtung hinzukommt, geraten die fotografischen Gewissheiten ins Wanken. Sebastian Stadler geht es genau darum: «Ich kann etwas zeigen und nichts zeigen – ein Bild, das sich entschlüsseln lässt, und eines, das offen bleibt.» Motive verschwinden, werden betont und wieder verunklärt. Ausserdem zeigt der Künstler die Serie «L´apparition» in Plexiglaskästen. Damit kommt eine weitere Ebene ins Bild: Das Kunststoffglas spiegelt die Umgebung. Der Raum, in dem die Bilder hängen, kommt als dritte Ebene ins Bild. Selbst die Betrachterinnen und Betrachter können Teil des Bildes werden: Treten Sie vor die Kästen, studieren Sie Motive, Farben und Strukturen und entdecken Sie ihre Spiegelung in immer anderen Zusammenhängen.