Leise knistert der Frost
by Kristin Schmidt
Eine Reise zum Pol ist eine Reise ins Ungewisse, das Individuum ist im Zentrum von Frost und Entbehrungen ganz auf sich geworfen. Mirjam Kradolfer und Stefan Rohner gehen mit diesem vielbehandelten Thema erstaunlich unbefangen um und entdecken gar kuriose Aspekte.
Arktis, Gletscher, Packeis, Polarmeer – wenn von entlegenen Gegenden die Rede ist, sind diese Gebiete selten gemeint. Exotische Sehnsüchte lassen sich anderswo leichter bedienen, zu unwirtlich ist es jenseits des Polarkreises. Und doch: Der ewige Frost und Schnee, das Eis und die langanhaltende Dunkelheit lassen Mythen und Märchen ebenso wachsen wie Entdeckerträume und Forscherehrgeiz. Die Pole bieten der ins Weiss gerammten Nationalflagge ebenso Raum wie den Halluzinationen Erfrierender. Hier schliesst die Technikschlacht im Dienste zeitgenössischer Wissenschaft weder hartnäckige Legenden über archaisch dämonische Schneewesen aus noch die Begeisterung für die Magie des Ortes. Ein ergiebiges Feld also – auch für die Kunst. Seit Caspar David Friedrich in „Das Eismeer“ Schönheit und Schrecken zusammengebracht hat, ist einiges passiert, sowohl auf künstlerischem, wie auf literarischem Gebiet. Mirjam Kradolfer und Stefan Rohner haben viel Material zusammengetragen, bevor auch sie für sie die Eiszeit anbrach. Die beiden St.Galler haben Belletristik und Entdeckerliteratur erkundet, Fotokunst und Filme gesichtet. Und sie haben es geschafft, sich von diesem ganzen Ballast nicht erdrücken zu lassen, sondern daraus ihre eigene unbefangene Version der nördlichen Schneewelt zu entwickeln.
Der Kunstraum Engländerbau in Vaduz bietet dafür die ideale Folie, ist doch bei diesem White Cube sogar der Boden weiss. Hier nun setzen Kradolfer und Rohner eine Polarlandschaft in Szene und spielen dabei mit all den Ambivalenzen, die das endlose Eis ins sich birgt. So lassen sie etwa seltsame Zottelwesen umherstreunen. Sind es mutierte Eisbären oder doch nur beraureifte Sensoren aus der meteorologischen Station? Und jene Objekte auf Holzpaletten: Sind es ethnologisch interessante Fundstücke oder die Hinterlassenschaften einer Forschergruppe? Die Künstlerin und der Künstler siedeln ihre Ausstellung im Engländerbau genau in jenen Zwischenbereichen an, wo Wissen noch nicht konkret und Legenden noch im Realen verwurzelt sind. Dort, wo die Eiszapfen horizontal wachsen und Kopfreisen auf dem fliegenden Teppich beginnen, hinaus aus dem geheizten und umgrenzten Ausstellungsraum, hinaus aus dem begrenzten Weiss in den endlosen Schnee, in die endlose Leere. Dorthin, wo das Weiss wirkt wie eine unbemalte, grundierte Leinwand, wie ein unbeschriebenes Blatt, wie eine unendlich grosse Projektionsfläche für Geschichten, Gedanken, Bilder.