Das Buch als Fries

by Kristin Schmidt

Der in St. Gallen geborene Thomas Stricker zeigt in der Kunstbibliothek im Sitterwerk seine Monographie und Arbeitsproben.

Bücher lassen sich virtuell oder manuell blättern. Aber stets ist es nur ein Ausschnitt, sind es ein oder zwei Seiten, die gleichzeitig sichtbar sind. Schade ist dies vor allem bei Büchern, die vom vorderen bis zum hinteren Buchdeckel in einen grossen zusammenhängenden Bilderkosmos entführen wollen. Letzteres tut Thomas Strickers grosse Werkmonographie „Skulpturale Fragen“. Alle wichtigen Arbeiten des Künstlers sind darin vorgestellt, eine jede auf mehreren Seiten mit zahlreichen Abbildungen. Die Werkabbildungen lassen sich nun freilich auch beim Durchblättern studieren, aber die Chronologie des Buches und die Vielfalt der Arbeiten zeigt sich um einiges anschaulicher in der aktuellen Ausstellung in der Kunstbibliothek im Sitterwerk.

Die Monografie ist als begehbares Buch inszeniert. Die ungebundenen Druckbögen sind einer neben dem anderen nahtlos und passgenau auf massive Holzbretter geklebt und ziehen sich mäandernd über den Bibliotheksboden. Das ausgebreitete Buch setzt den Betrachter in Bewegung. Die Abfolge der Arbeiten kann nun im Gehen erkundet werden. Formale, farbliche oder inhaltliche Übergänge lenken den Blick von einem Werk zum nächsten und zeigen immer wieder überraschende Parallelen auf.  

Thomas Strickers Oeuvre ist sehr vielseitig. So manches Etikett wurde ihm bereits angeheftet, auch solche, die sich eigentlich widersprechen. Vom Vollblutbildhauer war da die Rede, vom Social Networker oder vom Landart Plastiker. Bereits der Einstieg ins Buch zeigt, dass solches Schubladendenken bei dem seit Ende der 1980er Jahre in Düsseldorf lebenden St. Galler nicht funktioniert. Einem Schulgartenprojekt in Namibia folgt eine Edelstahlskulptur in Form eines Blitzes in Nordrhein-Westfalen. An anderer Stelle ist die kinetische Skulptur für die Heilpädagogische Schule Flawil im Verlauf der Jahreszeiten zu sehen, gefolgt von der Idee eines Apfelbaumgartens für Düsseldorf.

Gemeinsames Bindeglied aller Arbeiten ist Strickers Suche nach den Möglichkeiten von Skulptur: „Ich versuche herauszufinden, was heute Skulptur ist, wo für mich der Kern sein könnte.“ Wenn der Künstler den Kunstbegriff dabei in den sozialen Raum hinein erweitert, steht dahinter auch die Frage: „Vielleicht ist eine Skulptur, im besten Fall, ein Ding, welches mir nicht die Sicht versperrt, sondern meinen Horizont erweitert?“ Und nicht nur den des Künstlers, sondern auch den der involvierten Personen und der Betrachter. In der aktuellen Ausstellung kann dies zwar nicht an Originalen überprüft werden, ist aber dennoch nachvollziehbar. Dies liegt zum einen an der Bilderfülle im Buch und seiner Präsentationsform, zum anderen wird die Publikation durch Materialproben, Modelle und Konzeptstudien ergänzt. So wird sowohl Strickers Recherche- und Gedankenarbeit im Vorfeld eines Projektes dokumentiert, als auch die komplexen Arbeitsvorgänge und ungewöhnlichen Materialkombinationen von Styropor, Gips oder Wachs.

Stricker experimentiert, forscht, untersucht. Seit einigen Jahren schon konzentriert er sich ganz auf orts- und situationsspezifische Arbeiten und so ist diese Ausstellung eine seltene Gelegenheit, einen handfesten Überblick über sein Werk zu erhalten. Stricker zeigt seine Monographie so, wie es wohl nur ein Bildhauer kann. Das Buch wird zum Objekt und füllt gemeinsam mit den ausgestellten Materialien den Raum zwischen Werkstoffarchiv und Kunstbibliothek physisch und inhaltlich und schlägt gedanklich auch noch die Brücke zur Kunstgiesserei, in der frühere Arbeiten Strickers realisiert wurden.