Zeitreisen am Beiztisch

by Kristin Schmidt

Barbara Hauser und Nicole Schmid verwandeln das Nextex in einen Ort der Genüsse und Gespäche. Ihre Ausstellung widmet sich Fiktion und Vergangenheit. Zudem hat Jeannice Keller die Bar neu gestaltet.

St. Gallen hat eine neue Erststockbeiz. Sie ist nur temporär geöffnet und Speisen werden auschliesslich geladenen Gästen aufgetragen. Einen Besuch ist sie dennoch wert, denn der Speisesaal ist gleichzeitig Kunst- und Denkraum. Barbara Hauser und Nicole Schmid nutzen das Nextex weniger als Ausstellungsfläche denn als Gesprächsort. Sie verwandeln es in eine Zone der Begegnung und Diskussion.

Essen und Trinken ist hier Nebensache, wenn auch auf hohem Niveau. Das Ambiente ist gediegen, drei Tische sind stilvoll gedeckt, gekocht wird von Vreni Giger, Grand Dame der Schweizer Bioküche. Allerdings nur dreimal während der Ausstellungsdauer. Nämlich immer dann, wenn die Künstlerinnen mit ausgewählten Gästen tafeln. Sie haben unter anderem Sprachwissenschaftler, Schriftsteller, Kunsthistoriker, einen Philosophen, eine Literaturwissenschaftlerin, einen Biologen und einen Archäologe geladen über Fragen der Realität und ihrer Gegenstücke nachzudenken. In drei Gesprächen geht es um Kraft des Imaginären, um Realität, Fiktion und Narration und schliesslich um Geschicht(s/en)schreibung.

Aber warum nicht in drei Podiumsgesprächen? Warum an jeweils einem Tisch bei guter Bewirtung, mit Kristallglas und Blumenschmuck? Warum beäugt von zwei Jagdtrophäen? Die Tische und Stühle, Geschirr und Besteck sind Leihgaben aus Gasthäusern oder Brockenhausfunde. Sie und die Art, sie zu arrangieren, bergen selbst eine Geschichte. Gleichzeitig schaffen die Künstlerinnen mit ihrer Hilfe die Basis für Wohlgefühl. So könnte also die Atmosphäre die Gedanken beeinflussen, auf jeden Fall sorgt sie dafür, dass die Gespräche einen anderen zeitlichen Verlauf nehmen. Die Wahrnehmung füreinander schärft sich und es entstehen neue Fragen, da die Umgebung eine anregende ist. So verheisst es denn auch der Untertitel der Ausstellung: Imago. Über die Sinnlichkeit des Gegenwärtigen.

Was aber bleibt davon den Besuchern des Nextex? Zum einen sind sie eingeladen, die Gesprächsrunden als Publikum zu verfolgen. Zum anderen bilden sich die Gespräche in der künstlerischen Rauminstallation ab. Mittels Projektion und Lautsprecher wird die abendliche Runde zu sehen und zu hören sein. Und was noch viel wichtiger im Gesamtkonzept ist: Nach jedem Essen bleiben verbleibt der Tisch in dem Zustand, wie ihn die Gäste verlassen haben. Die beiden Zürcher Künstlerinnen setzen damit nicht nur der Vergänglichkeit ein Denkmal, sondern fordern bei den Betrachtern die Kraft der Imagination heraus. Der Abend kann in ihrer Vorstellung wieder auferstehen.

Nicht auferstehen werden die beiden Rehe an der Wand, sie bleiben Vanitassymbole. In diesen Kontext passen auch die Uhren im Gang zum Ausstellungsraum – eine normallaufende, eine rückwärtsgehende, eine deren Sekundenzeiger über das Zifferblatt rast und eine, wo einzig das Pendel den Fluss der Zeit anzeigt, da Zeiger und Ziffern fehlen. Die Zeit hat viele Facetten. An ihr unaufhaltsames Fliessen erinnert auch die Arbeit von Jeannice Keller.

Die Basler Künstlerin bespielt das Nextex in der Reihe „in der Bar“. Ihre Intervention ist die fünfte und kann als Bild dafür gelesen werden, wie sich Früheres, längst Vergessenes im Nachfolgenden einschreibt. Keller hat die Wände hinter, vor und an der Bar, ja sogar den Boden mit weisser oder silberner Folie beklebt und mit Flächen aus dicht aneinandergefügtem Servierpapier. Die Zonen muten wie Schichten aus verschiedenen Zeiten an, wie übereinander geklebte Tapeten in einem Zimmer. Und somit schliesst sich mit dieser Rauminstallation der Kreis: Die Kraft der Vorstellung arbeitet, die Zeit vergeht.