Den unsicheren Bedingungen ausgesetzt

by Kristin Schmidt

Das Museum im Lagerhaus zeigt Arbeiten, die auf der Strasse entstanden sind. Von Künstlerinnen und Künstlern, die ihr Werk abseits von Fördergeldern und warmen Ateliers erschaffen.

Franziska Messmer-Rasts Porträtfotografien zeigen eine alte Frau mit schlohweissem seidigem Haar und mildem Blick. Das Idealbild eines Grosi – wäre da nicht immer wieder diese unendliche Verlorenheit in den Augen, wären da nicht statt der Enkel der vollbepackte Trolley an der Hand, statt der Schwarzwälder Torte Papier und Stift auf dem Gasthaustisch. Beate Stanislau schreibt, zeichnet, malt – und sie lebt auf der Strasse.

Als Stanislau kurz vor dem Fall der Mauer der DDR den Rücken kehrte, verliess sie gleichzeitig Familie, geregeltes Leben und feste Bleibe. Sie ist seither unterwegs und doch gibt es eine Konstante: Ihre Arbeit, ihr Zeichnen und Schreiben. Hier reflektiert sie ihr Leben, beobachtet, begibt sich aber auch in mythische, poetische und kosmische Sphären. Als Stanislau bei Bekannten noch Lagermöglichkeiten hatte, entstanden grossformatige vielfarbige Bilder, meistens von starken Frauen in dynamischen Posen. Oft wirken sie deformiert und doch strahlen sie Lebensfreude und Kraft aus. Mittlerweile ist Stanislau vollständig auf Kleinformate umgestiegen. Mit Filzstiften zeichnet sie städtische Szenen ebenso wie Ansichten des Zürichsees und fast ihre Eindrücke in Texte. Im Museum im Lagerhaus türmen sich Kartonschachteln voller Material. Sorgfältig sortiert und verschnürt ist es selbstverständlicher Teil der Ausstellung und zeigt beiläufig, aber nicht weniger eindringlich Stanislaus Lebenssituation.

Beate Stanislaus umfangreiches Werk, aber auch die prekären Umstände, unter denen es entsteht, bilden das Zentrum der Ausstellung „Zu Hause auf der Strasse“ im Museum im Lagerhaus. Daneben sind Arbeiten der St. Galler Bobby Moor und Jan-Piet Graf, der Zürcherin Nina Wild und zwei Gemälde des Zürchers Ahmed zu sehen. Sie alle arbeiten unter Bedingungen, die so unterschiedlich sind wie ihre Biografien, und sich doch auch gleichen. Oft fehlt eine räumliche Konstante, fehlt Platz oder ein Rückzugsort. Doch so unsicher die äusseren Bedingungen auch sein mögen, die entstandenen Werken werden mit grösstmöglicher Sorgfalt behandelt. Beispiel Nina Wild: Ihr Zuhause sind Notschlafstellen oder die „Brot-Stube“ der Sozialwerke Pfarrer Sieber. Wild verwandelt T-Shirts und Pullover aus der Kleidersammlung in schillernde, aussagekräftige Kreationen. Da wird gestickt und gemalt und geglättet. Daneben hält Wild ihre jeweilige Bleibe mit der Digitalkamera fest. Die Aufnahmen bestechen durch ihre dokumentarische und dennoch sehr intime Sicht auf die eigenen Habseligkeiten. Auch Bobby Moor hat in der Kamera ein geeignetes Medium gefunden, um sehr Persönliches auszudrücken. Mit dem Mobiltelefon nimmt er auf, wie er mit der Hand den feuchten Sand am Meeresstrand berührt. Der Negativeffekt verfremdet die Bilder und zeigt zugleich auch das Besondere an dem scheinbar so selbstverständlichen Kontakt von Haut und Elementen, denn Bobby Moor spürt erst seit dem erfolgreichen Entzug wieder die Qualität einer solchen Begegnung mit der Natur.

Die Begegnungen mit Menschen und jene mit sich selbst sind es, die Jan-Piet Graf motivieren. Grosse Formate benötigt er dafür nicht. Ihm genügen Skizzenbücher, Notizblöcke oder die unbedruckten Bierdeckel aus dem Schwarzen Engel. Erlebnisse und Gedanken werden in Wort und Bild eingedampft auf kleinstem Raum. Überschreibungen machen alles noch konzentrierter, noch dichter. Immer aber behalten die Notationen eine Struktur, sind virtuose Schriftkunststücke mit ornamentaler Wirkung.

Lange hat Monika Jagfeld, Leiterin des Museums im Lagerhaus, das Projekt vorbereitet. Es gab Bedenken, ob ein solches Projekt missverständlich rezipiert werden würde. Es tauchten logistische Probleme auf. Es waren Recherchen auf ungewohnten Wegen notwendig. Inhaltliche und künstlerische Fragestellungen mussten bedacht werden. Die Kuratorin bezeichnet ihre Ausstellung als Experiment – und tatsächlich ist eine Ausstellung entstanden, die es so noch nie gegeben hat. Sie untersucht Verbindungen von Lebensläufen und kreativem Potential, die Klassifizierungen durch den Kunstbetrieb und die Gesellschaft, die Wahl des künstlerischen Mediums und vieles mehr. Bewusst werden nicht alle Fragen beantwortet, Weiterdenken ist erwünscht.