Zum Schluss wird gekocht

by Kristin Schmidt

«Durchzug», dasTanzstück von Nunzio Verdinero und Matthias Flückiger, widmet sich dem Warten und den Wartenden. Die Lokremise ist der geeignete Ort für die Untersuchung dieses besonderen Zustandes.

Wenn von Tanztheater die Rede ist, denken die wenigsten an Sprache, steht doch meist die körperliche Bewegung im Vordergrund. Dass Sprechtheater und Tanz aber kein Widerspruch sind, ja, dass es sogar überaus befruchtend sein kann, der Sprache ausreichend Raum zu geben, zeigt die jüngste Tanzproduktion des Theaters St. Gallen: «Durchzug».

Nunzio Verdinero, seit der Spielzeit 2004/05 festes Ensemblemitglied, begibt sich mit seiner ersten Choreographie für St. Gallen auf die Suche nach dem Wesen des Wartens. Was passiert mit uns, wenn wir warten? Ist es entscheidend, worauf wir warten? Wie wirkt die Umgebung auf die Wartenden? Wie interagieren Wartende untereinander?

Am ausverkauften Premiereabend am Freitag in der Lokremise wird gleich zu Beginn auch von den Zuschauenden Geduld verlangt, in passender Umgebung: Das Eisenbahndepot ist in ein Flughafenterminal verwandelt. Die typischen Sitzreihen sind unter dem gleissendem Licht von Leuchtstoffröhren rings um eine rechteckige Fläche gruppiert, die ebenfalls mit einigen der von Abflug-Gates bekannten Sitzelemente bestückt ist.

Das Publikum muss einige Minuten der Stille aushalten, bevor Magali del Hoyo, Son-Jin Lee, Marie Schmieder und Davide Bellotta langsam zum Leben erwachen. Die Sinne werden entdeckt, noch unsicher wird der Gebrauch der Gliedmassen erforscht, werden sich die Akteure sich selbst bewusst. Sie bewegen sich, sie robben, sie kriechen und erheben sich. Doch folgt nicht etwa das Laufen, sondern das Sitzen – willkommen in der Welt des Wartens.

Die nächste Sequenz ist dem Spracherwerb gewidmet. Vom Grüezi bis zur Cumulus-Karte wird ausprobiert, was der Wortschatz hergibt, bis wieder das Warten die Oberhand gewinnt. Die vier Darsteller tun es ungeduldig oder gleichgültig, ergeben oder gespannt, amüsiert oder schläfrig. Sobald aber der fünfte, Marcelo Pereira, auftritt, kommt erneut Bewegung ins Spiel. Jetzt dient Sprache als Richtungweiser und damit gleichzeitig als Instrument der Irreführung, was schliesslich wieder mit Stillstand endet. Sprache macht blind, liesse sich abgewandelt sagen.

Eine schöne Bühnenbild-Idee und passendes Sinnbild für die fehlende Orientierung und die endlosen Kreisläufe sind die zunächst herumliegenden, später aufgerichteten Absperrpfosten. Selbst wenn sie durch Stoffbänder miteinander verbunden sind, sorgen sie für zielloses Stolpern.

Die fliessende tänzerische Bewegung nimmt in «Durchzug» nur wenig Raum ein, doch als gezielt eingesetztes Zwischenspiel bringt sie poetische Stimmung ins sonst zuweilen profane Treiben. Gelungen ist ausserdem, wie Verdinero die Multinationalität der Akteure ins Stück einbezieht, ob über die Sprache, das Temperament oder die erzählte Geschichte. Und schliesslich spielt auch der Ort der Aufführung, die Lokremise, ihre Rolle vorzüglich mit Zug- und Bahnhofgeräuschen sowie der gesamten Atmosphäre des Gebäudes und seiner Umgebung.

Denn spätestens zum Schluss des Stückes bekommt auch die Lagerstrasse ihren grossen Auftritt: Das Geschehen verlagert sich nun in eine Küchensituation, statt von Leuchtstoffröhren von einer Glühlampe erhellt. In die Lokremise lässt sich also auch eine heimelige Atmosphäre zaubern, die das durch die kleinen Fensterscheiben von der Strasse eindringende gelbliche Licht noch verstärkt. Das Tanzstück verlagert sich in den Raum hinter den Zuschauern, ausserhalb deren Blickfeldes, und das ist konsequent, denn: Die Wartenden sind bei sich selbst angekommen.