Nachdenken über das fotografierte Bild

by Kristin Schmidt

Sebastian Stadler (*1988) hat den Manor Kunstpreis St.Gallen 2019 erhalten. Der Künstler stellt sich Grundsatzfragen: Wann ist ein Bild ein Bild? Wie gehen wir heute mit Bildern um? Was kommt nach dem Bild? Das ist inhaltlich anspruchsvoll und im Falle Stadlers visuell ausgesprochen attraktiv. Das Kunstmuseum St.Gallen zeigt eine repräsentative Auswahl seiner Fotografien und Videos im Untergeschoss. Stadler reagiert gekonnt auf die dortige postmoderne Architektur. Er spannt mit «Pictures, I think» ein auf vielerlei Weise funktionierendes Wegenetz zwischen den Nischen, Räumen und Gängen auf.

Passiert etwas? Passiert nichts? Muss überhaupt etwas passieren? Sebastian Stadler ist bereit. Der schwarze Hund auch. Er sitzt vor der Kamera, guckt und wartet. Der Künstler guckt und wartet ebenfalls – hinter der Kamera. Nichts passiert. Macht nichts; Videos brauchen keine Aktion, wenn das gefilmte Bild erzählt.

Sebastian Stadler schaut mit dem Auge des Fotografen. Jede Szene seiner Videos ist ein in sich funktionierendes Bild, obgleich es nicht inszeniert, sondern eine filmische Momentaufnahme ist. Exemplarisch zeigt sich dies in «Lumi / ei lunta», 2011: Baumstämme in einer Waldkerbe, ein kleines Fenster in blauer Wand, ein schwarzer Hund vor treibenden Eisschollen, die Innenansicht eines Zimmers – alle Sequenzen bleiben offen: es gibt keinen Erzählstrang, keinen Anfang, kein Ende, stattdessen gibt es Beobachtungen von Farben, Räumen, Stimmungen und Situationen. Aufgenommen sind sie mit dem Blick und der gelassenen Nähe des Eingeweihten: «Lumi / ei lunta» ist in Finnland entstanden, der Heimat der Mutter des Künstlers. Stadler weiss also, wie das Leben anfühlt in 150 Kilometern Entfernung von der nächsten Stadt, wie ereignislos es sein kann, vor allem in der Isolation des langen Winters.

Das Verschwinden der Bilder

Wie beherrschend die Natur ist, spiegelt sich auch in «We see the whole picture», 2017/2019. Die Arbeit basiert auf Überwachungsbildern der finnischen Transportbehörde. Mit automatischen Kameraaufnahmen dokumentiert die Behörde den aktuellen Zustand einsamer, oft schneebedeckter Strassen, über die nur selten ein Auto fährt. Die Bilder werden ins Internet gespeist und nach einigen Minuten durch neue ersetzt. Stadler hat eine stattliche Anzahl dieser Bilder aus dem Netz heruntergeladen und sie so vor dem Löschen bewahrt: «Man wird süchtig danach, die Bilder sind Fenster in andere Orte und in eine andere Realität.» Zugleich zeugt die Arbeit vom Dilemma fotografischer Archive: Stadler hat eine halbe Million dieser Überwachungsbilder gespeichert. Ein Bruchteil davon ist auf sieben postkartengrossen Monitoren zu sehen. Damit wirkt der Künstler dem Verschwinden der Bilder entgegen und doch ist es hoffnungslos: Die Bilder verschwinden auch dann, wenn sie nicht gelöscht werden, sie gehen unter in der schwerlich zu bewältigenden Menge – ein Phänomen, das nicht nur Stadlers Archiv betrifft, sondern allgemeingültig ist.

Die Autonomie der Fotografie

Zudem ortet der Künstler ein weiteres Problem in der gegenwärtigen fotografischen Praxis: «Es geht immer mehr ums Bildermachen. Der Akt des Fotografierens ist wichtig, weniger das Anschauen.» Schnell ist die Kamera zur Hand, schnell der Auslöser betätigt, schnell das Resultat angesehen, vielleicht verschickt und meist wieder vergessen. Die Fotografien materialisieren sich nicht einmal in einer eigenen Form, sie bleiben Bilder innerhalb eines Gerätes. Ganz anders in der analogen Fotografie, die auch deshalb Laien und Profis noch immer fasziniert. Stadler beispielsweise arbeitet mit analogen Doppelbelichtungen in seiner Serie «L´apparition», 2015–2019. Die Aufnahme eines Bildschirmes liegt in zufälliger Weise über dem Ursprungsbild: «Es gibt Farbverschiebungen, die ich nicht steuern kann. Kollisionen passieren und ich sehe sie erst am Schluss der Aufnahmen.» Der Künstler gibt der Fotografie ihre Autonomie zurück. Dies erinnert nicht zufällig an den Moment in vor-digitaler Zeit, als die Zeitspanne zwischen dem Druck auf den Auslöser und dem entwickelten Bild sehr lange war und das endlich vorliegende Motiv Überraschungsmomente barg, nicht zuletzt aufgrund menschlicher und technischer Fehler.

Der Ausstellungsraum als Sparringpartner

Stadler setzt auf diese Qualitäten: «Ich kann etwas zeigen und nichts zeigen – ein Bild, das sich entschlüsseln lässt, und eines, das offen bleibt.» Motive verschwinden, werden betont und wieder verunklärt. Zusätzlich sorgen Plexiglaskästen für Irritationen. Manchmal tauchen sie dort auf, wo Unsicherheiten kaschiert werden sollen, aber solche sind bei Stadler nicht auszumachen. Sicher und gekonnt platziert er seine Arbeiten im Untergeschoss des Kunstmuseums. Er versucht nicht, gegen den postmodernen Raum zu arbeiten, sondern greift die markanten, architektonischen Elemente auf und integriert sie in seine Arbeit, so wie in den Plexiglaskästen: Sie spiegeln den Raum und nehmen ihn als dritte Ebene ins Bild. Zugleich bilden sie Parallelen zu anderen Werken, denn die verschachtelten Räume erlauben nur wenig Blickachsen. So lassen sich die Glaskästen als subtiler Verweis auf die Schaufenster in «Vos Travaux», 2016 lesen, einer Arbeit, die ebenfalls von der physischen Präsenz des analogen Bildes erzählt: Stadler filmte während seines Visarte-Stipendiums ein grosses Fotofachgeschäft in Paris, in dem entwickelte Bilder abgeholt werden können. Der Künstler schaut das Anschauen an: «Wie nehmen die Menschen die Bilder in die Hand? Wie schauen sie die Bilder an? Einer beispielsweise zerreisst sofort die Hälfte der abgeholten Bilder.»

Kein Bild ohne zu denken

Stadler greift auch hier zur Videokamera, dies nicht nur im Kontrast zum abgebildeten Medium, sondern auch aus Ehrfurcht: «In Paris – mit seiner grossen Fotografiegeschichte – da konnte ich nicht fotografieren.» Aber für den Künstler stellt sich auch grundsätzlich die Frage: «Kann man überhaupt noch fotografieren? Jedes Bild ist bereits gemacht worden. Was ist meine Rolle?» Für Sebastian Stadler geht es weniger darum, der Welt weitere Motive hinzuzufügen, als unterschiedliche Aspekte des Fotografierens zusammenzuführen. Er untersucht den schmalen Grat zwischen bewegtem und unbewegtem Bild, den Akt des Bilderakquirierens und die darauffolgende Schwierigkeit des Umgangs mit diesen Bildern, die Veränderung des Sehens durch die zeitliche Dehnung im Film und die Auflösung des klassischen Formats bedingt durch Displays. Abgeschlossen sind diese Untersuchungen nicht und sie umfassen auch völlig neue Interpretationen des Bildes: «A Picture, I think» funktioniert ohne Bilder und bildet einen Schlüsselmoment in der Schau, der das Werk den Titel leiht. Der Künstler schickt Fotografien via Smartphone an ein Bilderkennungsprogramm und ein Algorithmus generiert daraus Bildbeschreibungen. Das liest sich dann so: «A close up of a person, I think» oder «A person driving a car, I think». Falls das Computerprogramm das Sujet nicht erkennt, steht auf dem Monitor «Pictures, I think». Das Werk stellt den Bildbegriff ebenso in Frage wie die sogenannte künstliche Intelligenz. Es verweist explizit auf Bilder, bleibt aber Text. Es löst Bilder aus, bildet aber den Einstieg in eine Ausstellung, in der Videos dominieren. Und es entlarvt die Bilderkennungssoftware, indem es dem Programm ein durch und durch menschliches «I think» unterschiebt: Bei aller Digitalisierung und Automatisierung – für das Nachdenken über Bilder, ihre Entstehung, Deutung und Verwendung, bleiben wir selbst verantwortlich.