Lesegesellschaften – aktuelle Bedeutung und Aktivitäten

by Kristin Schmidt

Wann ist eine Lesegesellschaft noch eine Lesegesellschaft? Sind Lesegesellschaften zugleich Quartiervereine? Oder Kulturvereine? Sind sie politisch wirksam oder nur als Lesemappenverteiler aktiv? Haben alle Lesegesellschaften etwas gemeinsam? Der Gemeinsamkeiten sind nicht viele, selbst wenn die unterschiedliche inhaltliche Ausrichtung ausgeblendet wird. So gibt es grosse Vereinigungen mit 200 Mitgliedern und kleine mit knapp 30 Mitgliedern. Viele haben eine lange Geschichte, es gibt jedoch auch jüngere Gründungen oder solche, die ihre Arbeit nach längerer Unterbrechung wieder aufgenommen haben. Manche gewähren ihren Mitgliedern Rabatt auf die Eintrittspreise, bei anderen wiederum wird kein Eintritt erhoben, dort ist die Jahresgebühr der einzige finanzielle Beitrag. Ein recht hoher Altersdurchschnitt wird bei vielen Lesegesellschaften wahrgenommen, bei manchen sind regelmässig auch unter 40jährige im Vorstand.

Wie also lassen sich die Lesegesellschaften fassen? Am besten vielleicht in ihren Ausnahmen. Da wäre zum Beispiel die Lesemappe. Nur ein Einziger hat sie zum Treffen in der «Krone» in Gais mitgebracht: Max Frischknecht, seit 20 Jahren Präsident der Lesegesellschaft Bissau in Heiden. Hier hat die Lesemappe überlebt, vielleicht hat dies ein wenig mit Nostalgie zu tun, viel mehr aber mit aktiver Kontaktpflege in der Nachbarschaft. Und doch ist das Weitergeben des durch die Mitglieder abonnierten Lesestoffes bei weitem nicht die Hauptaktivität der Lesegesellschaft. Wichtiger ist das politische Engagement.

Früher gab es in Heiden vier Lesegesellschaften. Aus der einen ist die SVP hervorgegangen, aus einer anderen die FDP, eine hat sich aufgelöst, nur in der Bissau arbeitet die Lesegesellschaft weiter, nicht parteilos, sondern parteiunabhängig. Man trifft sich jeweils vor kantonalen, Bundes- oder Gemeindeabstimmungen. Ziel ist es, eine Parole zu beschliessen und zu veröffentlichen. In der Lokalpolitik hat die Stimme der Lesegesellschaft Bissau Gewicht, ob es um die Erneuerung der Turnhalle Gerbe geht oder die Umgestaltung des Kurparkes. Auch bei Vakanzen im Gemeinderat engagiert sich die Lesegesellschaft, so Frischknecht: «Wir sind alle froh, wenn wir gute Leute für die Aufgaben im Gemeinderat finden, unabhängig von den Farben. Wir reden offen miteinander, gehen aktiv auf geeignete Personen zu.» Verantwortung übernehmen, einen Beitrag leisten, dass ist die Botschaft der Lesegesellschaft auch an potentielle Mitglieder: «Zu uns kommen die, die sich nicht politisch binden, aber in der Gemeinde politisch betätigen wollen. Aber sie müssen aktiv angeworben werden, niemand ist einfach so gekommen.»

Das passt ins geografische Bild: Die Lesegesellschaften im Vorderland sind stärker politisch engagiert als jene im Mittel- und Hinterland. Aber auch in diesem Punkt gibt es Ausnahmen. Etwa im Saum, Herisau. Wie in der Bissau agiert die Lesegesellschaft kompromisslos politisch, und zehn Tage vor jeder Abstimmung findet eine Versammlung statt. Präsident im Saum ist Ernst Knellwolf. Der Biobauer ist erst seit drei Jahren dabei und seit einem Jahr Präsident, aufgrund einer «Erbkrankheit» so Knellwolf: Auch sein Vater war Präsident. Engagiert hat jener seine Meinung vertreten. Als der Sohn aufgefordert wurde, es dem Vater gleich zu tun, zögerte er nicht lange: «Ich will hier meine Rolle spielen.» In der Lesegesellschaft ist dies möglich, ohne in die Politik zu gehen oder in den Einwohnerrat. Ohnehin hat Knellwolf ein gespaltenes Verhältnis zu Herisau, ist aber stark verbunden mit dem Saum. Im Saum steht der elterliche Hof, Saum ist das Dorf. Und es wächst: «In den letzten Jahren ist eine neue Siedlung entstanden. Das ist eine eigene Welt. Die dort wohnen, wollen wir gern bei uns haben.» Neue Mitglieder gibt es bereits, und dies ist für die Lesegesellschaft wichtig, denn ein Drittel sind Ehrenmitglieder, eine Auszeichnung, die ab 30 Jahren Mitgliedschaft erteilt wird.

Aber wodurch ist eine Lesegesellschaft für neue Mitglieder attraktiv? Eine Motivation ist die Verbundenheit im Quartier, eine andere der Austausch und gemeinsame Umgang von Menschen mit verschiedenen politischen Meinungen. Auch im Saum ist die Lesegesellschaft auf Augenhöhe mit den Parteien. Und in Rehetobel hat sie sogar stärkeres Gewicht als jene, so der Historiker Michael Kunz: «Die drei Parteien im Dorf fühlen sich weniger für das dörfliche Gemeinschaftswesen verantwortlich als die Lesegesellschaften. Fast der gesamte Gemeinderat von Rehetobel ist in der Lesegesellschaft.» Zurück also ins Vorderland, wo die Lesegesellschaften dafür bekannt sind, die sachpolitische Diskussion zu fördern und ein unabhängiges Forum für politische Meinungsbildung zu sein. Die Lesegesellschaft Dorf – eine von vier in Rehetobel – steht auf drei Pfeilern, die im Logo durch drei Punkte symbolisiert sind: Kontakte pflegen, Meinung bilden und Kultur geniessen. Die Besonderheit dabei: Jedes Jahr steht unter einem Motto. 2013 hiess es «Heimat», 2014 «Dialog» und 2015 «sagenhaft». Die Unterhaltung kommt dabei nicht zu kurz. In der Lesegesellschaft Lachen-Walzenhausen ist sie kein Vereinsziel und doch wird im Wechsel zu politischen und kulturellen Anlässen eingeladen, wie Präsident Hans-Ulrich Sturzenegger betont: «Wir sind politisch und kulturell aktiv, aber statt den früheren Appenzeller Abenden veranstalten wir Lesungen oder historische Vorträge beispielsweise zu Flurnamen».

Sturzenegger ist erst seit anderthalb Jahren im Amt und bedurfte als Nichtortsansässiger einer Sondergenehmigung: «Ich wohne seit fast 40 Jahren in Herisau, und die Statuten sahen vor, nur wer in Lachen wohnt, darf Mitglied der Lesegesellschaft werden. Es sei denn, der Vorstand stimme zu; so ist es bei auswärtigen Präsidenten immer noch.» Früher hätte man Mitglied werden müssen, um überhaupt mitdiskutieren zu dürfen. Jetzt kommen 40 bis 50 Personen an die Versammlungen und die Hälfte davon sind Gäste. Das grosse Interesse liegt am politischen Engagement und der offenen Informationskultur der Lesegesellschaft: «Wir geben keine Parolen heraus, stehen aber bei Gemeinderatswahlen in Kontakt mit den Parteien. Bei der letzten Kantonsratswahl haben wir ein Podium organisiert, da Walzenhausen für zwei Sitze drei Kandidaten stellte.» Die Lesegesellschaft behandelt zudem lokale, sachpolitische Themen: «Die Gemeinde informiert selber und dies sehr gut, wenn aber etwas zu wenig diskutiert werden konnte, springt die Lesegesellschaft ein.» Lachen-Walzenhausen ist eine der wenigen Lesegesellschaften mit guter Altersdurchmischung. Bereits im vorherigen Vorstand waren zwei Mitglieder zwischen 30 und 40, das ist jetzt wieder so.

Was in Lachenhausen-Walzenhausen mit Politik funktioniert, erreicht die Kulturbühne Gais mit Kultur und mit ihrem Namen. Nachdem es sie ein knappes halbes Jahrhundert nicht mehr gegeben hatte, wurde sie als Neue Lesegesellschaft Gais wiedergegründet. Bald zeigte sich, dass Neuzugezogene mit dem Namen wenig anfangen konnten. Daher wurde an der Mitgliederversammlung vor zwei Jahren eine Projektgruppe mit der Namenssuche betraut. «Kultur» und «Bühne» bewähren sich: Zu den 150 Mitgliedern sind nach der Umbenennung 50 Neue hinzugekommen, darunter auch jüngere Jahrgänge. Ulrich Scherrmann ist seit 4 Jahren dabei und amtet als Aktuar und Presseverantwortlicher: «Unser Programm soll abwechslungsreich und attraktiv für Familien sein. An die Neuzugezogenen richtete sich besonders die geführte, vierteilige Wanderung rund um Gais.» Stimmungsvolle Anlässe runden das Programm ab: Im kommenden Jahr sind beispielsweise ein Nachtwächterrundgang und ein Vollmondkonzert am Gäbrisseeli geplant. Die Ideen stammen aus dem eigenen Erfahrungsschatz der Vorstandsmitglieder. Der zweite Filter sind die Abklärungen mit den Kulturschaffenden: Wie hoch ist die Gage? Welche Anforderungen an die Technik und das Licht werden gestellt?

In der Regel wird an den Veranstaltungen eine Kollekte gesammelt. Nur bei hohen Gagen wird ein Eintritt erhoben. Mitglieder erhalten Rabatt, Ausweise benötigen sie dafür nicht; auch in grossen Lesegesellschaften kennt man einander. Die gute Nachbarschaft funktioniert sogar über die Gemeindegrenzen hinweg. Die Lesegesellschaften Gais und Bühler haben bereits zu gemeinsamen Veranstaltungen eingeladen. Damit sind sie eine Ausnahme unter den Lesegesellschaften.

In Bühler sind die Mitglieder hauptsächlich über 60 Jahre alt und viele mehr als 20 Jahre dabei. Präsidentin Simone Tischhauser kam 1972 nach Bühler und ist damals bereits in die Lesegesellschaft eingetreten: «Ich kam frisch verheiratet aus Amerika und wollte mich im Dorfleben integrieren.» Heute sind vor allem die älteren Menschen dankbar für den «Dienst am Dorf». Sie sind das Hauptpublikum der sechs kulturellen Anlässe pro Jahr und in der gut geführten Bibliothek in der Zivilschutzanlage im Gemeindekindergarten. Über eine Namensänderung wurde in Bühler nachgedacht, aber man blieb beim Bewährten, auch wenn es sich nicht allen selbst erklärt. Letzteres ist bei der Casinogesellschaft Herisau ähnlich. Hier wird nicht dem Glücksspiel gefrönt, sondern dem Kulturgenuss und dies auf hohem Niveau. Die Kammerkonzerte haben sich in regional etabliert. Dies liegt einerseits an der musikalischen Qualität der europaweit tätigen Ensembles, andererseits an der adäquaten Atmosphäre im kleinen Saal des Casinos: «Hier lässt sich die Essenz eines Chopin-Klavierwerkes in stärkerer Intensität erleben als in einem grossen Konzertsaal.» so Präsidentin Suzanne Buchmann.

Die Ensembles kommen gern nach Herisau, denn sie werden herzlich empfangen und individuell betreut, genauso wie die Schauspielerinnen und Schauspieler des Theaters St.Gallen, wenn sie in Herisau Lesungen bestreiten. Das Programm gestaltet die Literaturgruppe nach persönlichen Vorlieben. Das grosse Engagement des Vereins führt zwar nicht zu Neuanmeldungen, aber viele Gäste kommen regelmässig. Nur bei den Ausflügen der Gruppe KulturElle bleiben die Mitglieder meist unter sich, hier wirken die soziale Komponente und der unmittelbare Kontakt zu den Pensionierten. Für sie bieten die Lesegesellschaften mit ihrem Angebot vor Ort ein entscheidendes Plus, das stellt auch Peter Abegglen, Präsident der Sonnengesellschaft Speicher, fest: «Die Hemmschwelle, an Veranstaltungen im Dorf zu gehen, ist niedriger. Die Leute kommen eher zu Laura Vogt in Speicher statt zu Pedro Lenz in der Stadt.» In Speicher zeigt sich die philanthropische Haltung der Lesegesellschaft auch im Unterstützungsfond beispielsweise für Ausbildung. Abegglen ist als ehemaliger Lehrer sehr interessiert daran, Wissen und Kultur unter die Leute zu bringen. Stolz klingt mit, wenn er von WikiSpeicher, der Online-Wissensplattform berichtet. Sie wurde initiiert von der Sonnengesellschaft und überführt das kulturelle Gedächtnis ins Heute: «Digitale Wirklichkeit und das reale Leben laufen zusammen.» WikiSpeicher verlangt Partizipation und ist ein Wissensspeicher – sozusagen die Lesemappe der Gegenwart mit Zusatzfunktion. So lässt sich Geschichte weiterschreiben.

Obacht No. 23 | 2015/3