Hügel, Wellen, Grenzen und ein grosser See

by Kristin Schmidt

Mit Walter Graf und Davide Tisato unterwegs von Heiden zum Kindlistein

Der Gstaldenbach ein ideales Revier für Mutproben? Durchaus; verschwindet er doch kurz vor dem Schwimmbad Heiden in einem unterirdischen Kanal und erscheint erst dahinter wieder an der Erdoberfläche: Wer sich traut, stapft unterhalb der Badi-Wiese durch.

Noch waghalsiger ist es, im eingedolten Werdbach das ganze Dorf zu durchqueren. Davide Tisato berichtet von Mutproben aus Schulzeiten. Die gehören für den jungen Häädler schon zur Vergangenheit, inzwischen hat es ihn in die Welt hinaus verschlagen, zum Studium nach Valencia, Lissabon und Montpellier. Heute aber wandert er zu altbekanntem Ziel auf ungewohnten Pfaden: zum Kindlistein übers Löchli hinauf. Walter Graf hat die Route vorgeschlagen. Der Primarlehrer, der auch Davide Tisato zu seinen Schülern zählte, kennt hier jeden Weg. Nach der Pensionierung stand er für einige Zeit an Kasse und Bar des Kinos Rosental und seit 12 Jahren ist er verantwortlich für die Wanderwege des Bezirks Vorderland.

Kino und Schwimmbad haben wir hinter uns gelassen und laufen ortsauswärts. Autos lärmen auf der regennassen Obereggerstrasse. Dann biegt der Weg links ab und rechter Hand ragt der Bischofsberg auf, liegt Bissau, die Bischofsaue. Wir sprechen Walter Graf auf Historisches an, auf die früheren Besitzverhältnisse: Der gut sichtbare Kaien markiert die Grenze zwischen dem äbtischen Appenzellerland und dem bischöflichen Gebiet gegen das Rheintal hin.

Neben dem Weg fliesst der Löchlibach, rechts und links davon ist das Gras vom hohen Wasserstand niedergedrückt. Auch im Wald plätschert es. Drei Bäche fliessen im Löchli zusammen, ein kleiner Weiher hat sich gebildet, der Boden ist sumpfig. Durch eine hohle Gasse mit grossen, regennassen Steinen führt der Weg hinauf auf der alten Fahrstrasse von Heiden nach Oberegg. Er ist, auch wenn er das Zeug dazu hätte, kein offizieller Wanderweg. Auch künftig hat er wenig Chancen. Zwar wurde früher dort markiert, wo bereits Wege existierten, aber seit fünf Jahren wird stärker auf Routen Wert gelegt, auf Wege von Ziel zu Ziel. Damit werden wenig begangene und parallele Wege sogar ausgemustert. Allerdings müssen die Gemeinden einer solchen Wegausklammerung zustimmen. Gar nicht so einfach, vor allem, wenn Wege über Gemeindegrenzen hinaus führen. So oder so: Einheimische gehen die Wege trotzdem, andere finden sie nicht oder nur per Zufall. Das ist vielleicht auch ganz gut so, denn noch ist es hier wildromantisch. Es rieselt und rauscht, tropft und raschelt im Wald. Bald öffnet sich der Weg zu einer kleinen Lichtung. Ab hier führt ein Kiesweg weiter, mitunter genutzt, um nach Hause zu gelangen, wenn der Alkoholpegel zu hoch für die offiziellen Strassen ist.

Walter Graf ist auch in der Exklave für die Wege zuständig; beim Wandern sind die Kantonsgrenzen aufgehoben. Kurz sind Oberegger Häuser zu sehen. Dann biegen wir in den Wald ab und alles wird noch grüner, noch üppiger. Der Weg wird unter den Füssen zum Pfad.

Wir wandern auf einer der Sandsteinrippen entlang, die das Vorderland prägen. Aus einem Grat der Rippe erhebt sich ein dicht umwachsener Felsen: die Teufelskanzel, nur gerade 3 Meter hoch, im Wald versteckt, kein Weg führt hin, keine Mythen ranken sich um sie. Ganz anders als beim Kindlistein. Dorthin lief früher bei Davide Tisato stets das Unbehagen mit – es waren die Geschichten von Hexen, Kinderseelen und Wiedergeburt, die ihn erschauern liessen. Heute wandern wir unbeschwert und schwenken ein auf einen lehmigen Weg, der für die Holzabfuhr genutzt wurde. Plötzlich bricht die Sonne durch, genau im richtigen Augenblick: Nachdem wir einen zwickenden Draht überwunden haben, stehen wir auf einer Wiese. Wie von selbst lenken sich die Füsse zum Horizont; Walter Graf hat recht: „Bevor wir rübergehen, müssen wir rüberschauen“. Der Blick lohnt sich. Wo vor wenigen Jahren die Bäume dicht wuchsen, stehen einzig vier hochstämmige Lärchen. Weit ist die Landschaft, und doch voller Grenzen: Wieder ist ein Ausläufer des Kaien zu sehen – vor der unbewaldeten grünen Krete äbtisches Gebiet, dahinter bischöfliches. Ausserdem die Weiler Benzenrüti, dahinter Schwarzenegg, die Treibhäuser von Ernst Graf, Biobauer und Präsident des Bauernverbandes Ausserrhoden, der Hof von Willi Schefer. Das Haus daneben gehört bereits zu Wolfhalden. Und hinter uns stehen Innerrhoder Kühe auf der einen Seite eines Sumpfstreifens, Ausserrhoder Kühe auf der anderen. Die einen sind ein bisschen brauner als die anderen, Hörner tragen beide; und seit zwei Jahren verbindet ein kleines Holzbrüggli die Kantone über den Morast hinweg.

Doch nun endlich der Kindlistein, der allerdings um genau so viele Zentimeter geschrumpft ist, wie Davide Tisato seit seinem letzten Besuch hier gewachsen ist. Ansonsten ist alles unverändert: der initialübersähte Sandstein, das Kind mit ausgebreiteten Armen im Loch, die Furchen steil in den Wald hinunter. Wir folgen ihnen, statt über die gerodete Fläche im kniehohen, nassen Gras abzusteigen.

Als wir den Wald verlassen haben, begegnen uns wieder die markanten gelben Pfeile. Der beschilderte Weg führt rund um den Hirschberg, der im Gegensatz zum Hohen Hirschberg bei Gais eigentlich kein Berg und auf Landkarten nicht zu finden ist. Ein Berg, der wie Bischofsberg und Rosenberg ein Hügel ist, eine der Rippen, die Walter Graf anschaulich beschreibt: „So gaht‘s wällewies durab“ – sanft fallend in Richtung Bodensee und Rheintal. Die Wellen geben dem Vorderland seine Südhänge und Weinberge. In Lutzenberg, Walzenhausen und Wolfhalden bauen derzeit acht Produzenten Wein an. Bis ins 14. Jahrhundert geht der Weinbau in Ausserrhoden zurück, auch in Heiden gab es ihn damals.

Über Langmoos nähern wir uns dem Ort wieder. Von hier aus wirkt es, als läge er ganz in einer Niederung. Doch der Dorfkern ragt im Norden hoch hinauf gleich einer Staumauer. Wäre nur noch die Enge beim Gstaldenbach zu verschliessen: Es entstünde wie in den Kinderfantasien Davide Tisatos ein grosser, tiefer See.

Obacht Kultur Nr. 22, 2015/2