Wilde Wesen unterwegs

by Kristin Schmidt

Eigenwillige Gestalten durchstreiften seit dem Herbst 2012 das Appenzellerland. Ihr Ziel: Der Landsgemeindeplatz in Hundwil, die Bühne des Festspiels «Der Dreizehnte Ort». «Grenzwechsel» waren Teil des Rahmenprogramms zum Kantonsjubiläum.

Drei Tage vor der Festspielpremiere in Hundwil: Noch sind die Zuschauersitze mit Plachen geschützt, darinnen kleine Wasserpfützen, noch herrscht ringsum beschauliche Sonntagsruhe. Doch plötzlich kommen sie über die Weiden bergab: seltsame Gestalten in Pelzen und Filz, hintereinander, ernst und verhalten. Auf ein unsichtbares Zeichen hin erobern sie rennend den Festspielplatz. Sie reissen sich die Felle vom Leib, rangeln und raufen. Sie sind angekommen. Seit Dezember waren sie unterwegs, haben die Wälder durchstreift, Bäche durchwatet und Gipfel erklommen, sind im Persianer über den Schnee oder gemähtes Gras gerutscht.

Fünfmal sind die wilden Wesen der Grenze zwischen beiden Appenzell entlanggewandert. Sie hatten gehört vom Festspiel in Hundwil und dem Jubiläum der beiden Kantone. So die Vorgeschichte der „Grenzwechsel“. Gisa Frank alias frank-tanz performance hat dieses künstlerische Projekt in Kooperation mit dem Theater zum Kantonsjubiläumsjahr entwickelt. Sie lud zu kleinen performativen Scharmützeln ein, die allen Beteiligten neue Blicke aufs Appenzellerland bescherten.

So auch am vergangenen Sonntag. Es war die letzte Grenzwanderung mit Start in Gonten und Zielort Festspielplatz in Hundwil. Etwa zwei Dutzend «äägni, frönti ond schreegi» Gestalten machten sich auf den Weg und mit ihnen Figuren aus dem Festspiel: Kinder und Hunde von Hundwil, Zaungäste, die Historikerin, Chormitglieder. Still hintereinander schreiten sie vom Bahnhof aus durchs Dorf und hinauf in Richtung Hundwiler Höhe. Doch bald schon weicht das Wandern anderen Bewegungsformen. Alle werfen sich zu Boden, erheben sich und kämpfen sich armrudernd voran, dann lausen sie sich oder stehen Kopf. Beiläufig werden choreografische Elemente gesammelt für einen wilden Auftritt beim Grenzstein der Hundwiler Höhe.

Gisa Frank ist mittendrin. Immer wieder erspäht sie besondere Orte wie eine Krete oder den Vorplatz einer Scheune, an denen sich das Rudel neu formiert und flüchtige Bilder in die Landschaft setzt. Die Tänzerin und Choreographin arbeitet seit langem daran, dem Tanz neue Räume zu eröffnen und die Kunstform zu erweitern: Ab wann wird Bewegung in der Natur als bewusst gestaltet wahrgenommen? Wieviele Spielregeln braucht es und wieviel Freiheit ist möglich? Beides ergänzt sich auch bei den Grenzwechseln. So trennt sich die Gesellschaft auf einen Pfiff hin in zwei Gruppen, die anschliessenden Seitenwechsel und Raufereien folgen eigenen Gesetzen. Oder ist da speziell Innerrhodisches oder Ausserrhodisches zu spüren? Unwillkürlich kommt es zu kleinen Geschichtslektionen angesichts der Frage nach der Trennung der beiden Kantone. Diese ging schliesslich kampflos vonstatten. Aber es ist den Grenzwechslern anzumerken, dass es gut tut, mit dem ganzen Körper zu agieren, auch oder gerade weil viele mittun, die keine tänzerische Ausbildung haben.

Am Sonntag war Olivia Clerici die einzige Innerrhödlerin der Gesellschaft, so trug sie auch die Fahne Innerrhodens. Es war ihr zweiter Grenzwechsel. Zwar waren alle Akteure des „dreizehnten Ortes“ jedes Mal eingeladen mitzuwandern, aber während der intensiven Probenzeit sind viele froh um einen Ruhetag. Die Ausserrhodische Fahnenträgerin, Marlies Longatti, ist hingegen jeden Grenzwechsel mit gelaufen – im Dezember von Büriswilen bis zum St.Anton, im Februar von Gais über den Hirschberg, im April von Teufen nach Stein, im Juni von Urnäsch über Blattendürren zur Schwägalp. Über die Wandergesellschaft sagt sie: „Mittlerweile ist es eine Familie geworden.“ Denn viele waren an diesem Sonntag nicht zum ersten Mal dabei und reisten aus Zürich, Basel, St. Gallen oder Winterthur an, um sich dem wilden Rudel anzuschliessen. Und viele von ihnen haben Appenzeller Wurzeln. So traf sich nicht nur die Freie Szene mit der offiziellen Grossveranstaltung, sondern die Heimwehappenzellerin mit dem zugezogenen Westschweizer oder der Alteingesessene mit der angereisten Schaulustigen. Der Tanz hat sie über die Grenzen hinweg zusammengebracht.