Ulrike Kristin Schmidt

Gesammelte Texte

Die Haut des Eisbären ist schwarz.

Zu den aktuellen Bildern von Arnaldo Ricciardi

Schwarz saugt das Licht auf, schwarz besitzt Tiefe, schwarz ist ein Fenster in die Unendlichkeit. Aber das Schwarz ist nie alleine. Auf winzigen Unebenheiten erscheinen Glanzpunkte, das Bindemittel reflektiert das Licht, matte Stellen schlucken es. Diese kleinen Ereignisse feiern in der Malerei von Arnaldo Ricciardi zahlreiche Höhepunkte: Immer wieder verklumpt die Farbe oder fasert andernorts trocken aus. Tiefere Farbschichten scheinen durch und darüber liegende verdichten sich zu einem satten, undurchlässigen Ton. Die Malerei ist lebendig, die Farben interagieren. So lässt Weiss das Schwarz noch schwärzer erscheinen. Dagegen hellt Schwarz selbst das gleissendste Weiss noch auf. Rot bringt eine Fläche zum Lodern und durch farbliche Abstufungen zum Pulsieren. Blau wiederum öffnet Fenster in einen neuen Raum.

Arnaldo Ricciardi inszeniert Kontraste. Der Künstler weiss um die Kraft der Farben in ihrer reinsten, unvermischten Form sowie um die Wechselwirkung der Töne und Helligkeiten. Kontraste entstehen aber auch, wenn reine Farben auf stark vermischte, gebrochene Farben treffen. Dieser Qualitäts- oder Intensitätskontrast, wie er von Johannes Itten in seiner Systematik der Sieben Farbkontraste genannt wird, besteht im Werk Arnaldo Ricciardis einerseits innerhalb einzelner Bilder und andererseits über den gesamten Werkzyklus hinweg: Für seine aktuellen Gemälde mischt Arnaldo Ricciardi Farben immer wieder so stark, dass sie sich einer einfachen Benennung entziehen: Grautöne kommen sowohl innerhalb eines reinen Schwarzweissspektrums vor als auch mit Anteilen aller drei Primärfarben. Sie werden in Farbschichten übereinander gelegt und eingebunden in andere Mischtöne. Im Reigen dieser ausgewogenen Kompositionen setzt Ricciardi starke Akzente, indem einzelne Arbeiten von so klaren Primärfarben dominiert werden, dass sie in den gesamten Zyklus ausstrahlen. So gelingt es dem Künstler, eine Spannung über alle Werke hinweg auszubauen und zu halten.

Katalogtext, 2018

Kunst auf Achterbahnfahrt

Philippe Glatz und Matthias Bildstein malen, bauen, drucken, zeichnen und stellen den Kunstkosmos auf den Kopf. Ihre Ausstellung im Kunstmuseum Thurgau zeigt einen umfangreichen Ausschnitt ihrer aktuellen Arbeit.

Rosa war die Farbe der Prinzenkleider, Rosa ist die Farbe der italienischen Sportzeitung und der Financial Times. Rosafarben ist das grossformatige Gemälde, betitelt mit «Party Hard» von Bildstein ǀ Glatz. Das Bild ist riesig, aber die Party ist vorüber. Die abstrakte Malerei ist zur blossen Geste verkommen. Die Abstrakten Expressionisten, die Neuen Wilden haben es vorgemacht, jetzt wird zitiert – wild durch die Malstile hindurch, aber durchaus virtuos. Bildstein ǀ Glatz beherrschen ihr Handwerk. Der 1979 in St.Gallen geborene Glatz und der 1978 in Hohenems geborene Bildstein haben es an der Akademie bei denen studiert, die sich selbst als grosse Maler inszenierten. Aber sie führen den Mythos nicht einfach weiter, sondern treiben ihn auf die Spitze, um ihn danach zu unterlaufen.

Bildstein ǀ Glatz lassen im Kunstmuseum Thurgau den Testosteronspiegel so weit steigen, dass es ins Absurde kippt. Sie mischen die grossen Malergesten mit inszenierten Stunts, Raketenautos und Trendsportutensilien. Sie feiern sich, lassen die Kunst ins Leere laufen und vergessen bei allem Grössenwahn die Ironie nicht: «Neben den Religionen ist die Kunst heute der einzige Ort, an dem die Unsterblichkeit erlangt werden kann. Das bedeutet für Skeptiker eine begrenzte Auswahl an Möglichkeiten. Also gehen wir aufs Ganze.» Passenderweise in der Karthause Ittingen. Die Klosterkirche mit ihrem rosafarbenem Stuck korrespondiert nun mit «Party Hard» und die Askese der Mönche mit dem Selbstoptimierungstrieb der Kletter- und Bouldergilde. Die grossen architektonischen Würfe finden ihren Widerhall im Doppelloop.

Bereits seit dem vergangenen Jahr steht «Loop» vor der Kartause Ittingen zwischen Schafen und Obstbäumen und wartet nicht etwa auf wagemutige Skater, sondern ist das 15 Meter hohe Zeichen für Konzept und Übermut bei Bildstein ǀ Glatz. Die beiden haben sich inzwischen einen Namen gemacht mit Projekten, die an die Grenzen gehen. Sie bauen solange das Geld reicht, sie spannen Leinwand auf Keilrahmen, die grösser sind als ihr Atelier, sie konstruieren Plattformen, die kentern, noch bevor sie erklommen wurden, und sie entwerfen einen Doppelloop, der in der lilafarbenen Sternchenästhetik der Jahrmarktbuden daherkommt, aber nicht zu benutzen ist. Seine beiden Enden ragen ins Nichts oder besser: in den imaginären Raum. Die Gedanken nehmen Fahrt auf, so wie sie das idealerweise in einer Klosterkirche tun. Sie werden hinaus katapultiert aus der Idylle der Kartause in die Realität, in der sich Kunst, Kommerz und Kritik treffen.

So wie es in der Kartause einen Klosterladen gibt, so gibt es bei Bildstein ǀ Glatz einen Shop, in dem sie selbstgestaltete und produzierte Produkte anbieten. Statt Klosterbier und Echinacea, werden T-Shirts und Accessoires verkauft. Stapelweise umfangreiche Kataloge gehören auch dazu, eigens für die Ausstellung produziert, aber das ganze bisherige Schaffen des Künstlerduos beleuchtend.

Wem das alles ein bisschen zu viel Bildstein ǀ Glatz ist, sollte sich «Konstellation 9. Alles fliesst.» nicht entgehen lassen. Hier wird ein Ausschnitt aus der Sammlung des Kunstmuseum Thurgau präsentiert mit Werken unter anderem von Lisa Schiess, Simone Kappeler, Alexandre Calame und Roman Signer. Die Arbeit des St. Galler Künstlers lässt immer wieder neue dynamische Kreise aus Licht und Wasser entstehen und funktioniert als kleine, gute Ergänzung seiner aktuellen Ausstellung im Kunstmuseum St.Gallen.

Der schöne Schein

David Claerbout zeigt im Kunsthaus Bregenz grossformatige Projektionen. Die computeranimierten Reisen durch Natur und Zivilisation faszinieren und befremden zugleich.

Nichts ist mehr so, wie es war. Nichts ist mehr das, was es zu sein scheint. Dies gilt zumindest für die Welt der Fotografie und des Filmes. Die Digitalisierung hat nicht nur neue Speichermedien hervorgebracht. Sie hat sich auch auf die Entstehung der Bilder und auf deren Wahrnehmung ausgewirkt. Bildbearbeitungsprogramme sind allgegenwärtig, warum sollte noch jemand glauben, dass sie nicht benutzt werden?

Der veränderte Status der Fotografie interessiert David Claerbout. Der belgische Künstler ist überzeugt: «Die Zeit der Fotografie als glaubwürdiges Medium ist vorbei. Sie existiert zwar noch als Ritual, aber nicht mehr als Analogie und Beweismaterial.” In Claerbouts aktueller Ausstellung im Kunsthaus Bregenz lässt sich intensiv nacherleben, wie weit sich Sujet und Bild, Realität und Fotografie voneinander entfernt haben. Bereits die Arbeit im Erdgeschoss, projiziert auf eine raumhohe, schräg gestellte Wand, unterläuft die Vorstellungen davon, was ein Bild ist und wie es entsteht. Zunächst sieht alles ganz einfach und bekannt aus: Schwarzweissaufnahmen eines Strandes in Dinard in der Bretagne lassen Sommergefühle aufkommen. Menschen stehen im Sand und blicken in die Ferne. Häuser umrahmen die Bucht und werden vom stillen Wasser gespiegelt.

Jedes Bild bleibt für etwa zwanzig Sekunden stehen, dann folgt das nächste. Mehr und mehr fügen sie sich zu einem Gesamtbild der kleinen Stadt und der Menschen dort. Alles mutet an wie ein und dieselbe Aufnahme. So stehen die Menschen stets am selben Ort und in denselben Konstellationen und scheinen nur von unterschiedlichen Standpunkten aus aufgenommen worden zu sein. Aber der angenehme Eindruck eines unbeschwerten Sommertages weicht immer mehr einer rätselhaften frostigen Atmosphäre. Der Grund: Nichts an diesen Bildern ist echt im Sinne einer fotografischen Aufnahme. Claerbout hat die ganze Szenerie aus Studioaufnahmen und Personenscans zusammengesetzt und untersucht, wie sich Materialität auch im digitalen Medium konstruieren lässt. Das Ergebnis ist ästhetisch perfekt und doch befremdend, so wirken Wasserspritzer gläsern und eisig, statt perlend und vergänglich.

Auch in allen anderen Werken experimentiert der Künstler am Grenzbereich zwischen fotografischem Abbild und computergestützter Bilderzeugung. Die Arbeit «Travel» im ersten Stock des Kunsthauses übersetzt Entspannungsmusik in ein künstliches Waldstück. «Radio Piece (Hong Kong)» im zweiten Obergeschoss zoomt von einem Bild eines idyllischen asiatischen Gärtchens hinaus ins Zimmer, in dem das Bild hängt, bis vor eine Fassade des 1993 abgerissenen Slums von Kowloon in Hongkong. In der obersten Etage zeigt «Olympia» eine Kamerafahrt rings um das von den Nationalsozialisten errichtete Olympiastadion in Berlin.

Aber eine Filmkamera war hier wie auch in den anderen Arbeiten nicht im Spiel. Stattdessen wurde das Stadion im Computer nachgebaut und mit einer sogenannten Game Engine animiert. Nun altert das Stadion in Echtzeit – 1000 Jahre lang. Claerbout hat Wissenschaftler ausrechnen lassen, wie sich die Steine, die bauliche Struktur und vor allem die Botanik rund um das Gebäude verhalten werden. Das Computerprogramm wurde sogar mit dem echten Berliner Wetter gekoppelt, damit die digitale Wirklichkeit der Realität so nahe kommt wie möglich. Der Aufwand ist also enorm und das Befremden schleicht sich immer aufs Neue ein. Dennoch sind Claerbouts Werke faszinierend und einnehmend, das liegt nicht zuletzt an ihrer Stille und Langsamkeit: Sie verlangen Geduld und belohnen mit Einsichten.

Kunst im Boot mit den Flüchtlingen

Braucht Palermo eine Manifesta? Die Stadt bietet einem kunstinteressierten Publikum ohnehin schon viel, aber nun setzt die europäische Wanderbiennale noch eines drauf und verbindet sich gekonnt mit den Brennpunktthemen der ganzen Insel – und der europäischen Flüchtlingspolitik.

Darf Kunst politisch sein? Muss sie es sein? Was bedeutet politische Kunst überhaupt? Sind eine Künstlerin und ein Künstler, die Haltung beziehen zu gesellschaftlichen Brennpunktthemen automatisch politisch? Muss eine gesellschaftlich relevante Aussage zusätzlich ästhetisiert werden, um Kunst zu sein, oder genügt der Kontext in dem sie gezeigt wird? Laura Poitras zum Beispiel: Die US-amerikanische Dokumentarfilmerin wurde bekannt durch ihre Recherchen rund um Edward Snowden. Sie entschied sich schliesslich, ihre Dokumentationen im Architektur- und Kunstbetrieb zu zeigen, um ihnen eine breitere Rezeption zu sichern.

Aktuell ist ein Werk Laura Poitras´ an der Manifesta 12 in Palermo zu sehen. Sie ist damit eine jener Teilnehmerinnen, die eigens für die alle zwei Jahre stattfindende, nomadische Ausstellung einen Arbeitsauftrag erhielten. Mit ihrer Videoinstallation schlägt sie den Bogen vom grössten Auffanglager Europas, das sich auf einem ehemaligen US-amerikanischen Militärgelände befindet, über den bisher nicht aufgeklärten Flugzeugabsturz nahe Ustica 1980 bis hin zum MUOS (Mobile User Objective System), das nicht nur im Verdacht steht, potentiell für Kriegszwecke errichtet worden zu sein, sondern auch für die Umwelt und die Gesundheit der Bevölkerung vor Ort höchst problematisch ist: Migration, Rassismus, geheime und offensiv genutzte Netzwerke, ökologische Probleme, aber auch gesellschaftliche Verantwortung und Engagement sind diesem Werk eingeschrieben und sind zugleich die Kernthemen der gesamten Manifesta.

Das diesmal verantwortliche Viererteam – Bregtje van der Haak, Andrés Jaque, Ippolito Pestellini Laparelli und die Zürcherin Mirjam Varadinis – setzt auf Fragestellungen, die spezifisch sind für Palermo und die Stadt zugleich mit Brennpunkten auf der ganzen Welt vernetzen.

Der Gegensatz zur Manifesta 11 in Zürich könnte kaum grösser sein. Dort wurde vor zwei Jahren mit „What People Do For Money“ ein Motto gewählt, das an beliebig vielen anderen Orten erfolgreich mit Inhalten hätte gefüllt werden können. So wird denn auch von jener Manifesta kaum mehr in Erinnerung bleiben als die Bade-Kino-Holzplattform im Zürichsee und die geruchsintensive Installation im Migrosmuseum.

Die Manifesta 12 hingegen schraubt sich mit ihren Themen, mit inhaltlich präzise formulierten Werken sowie mit der eindringlichen Verzahnung von Kunst und aktuellen Lebenssituationen auf Sizilien ins Gedächtnis hinein. So schärft beispielsweise der Palermitano Roberto Collovà das Bewusstsein dafür, dass mit dem jahrzehntelangen Verklappen von Bauschutt vor der Küste Palermos nicht nur die Geographie verändert und die Strände vernichtet worden sind, sondern auch Schadstoffe das Meer belasten. Zur Lebenssituation gehört aber auch das Bewusstsein um die grosse, grossartige Vergangenheit und ihr Kontrast zum heutigen Alltag vieler Sizilianerinnen und Sizilianer. Das Verhältnis zur Geschichte spiegelt sich in den Ausstellungsorten selbst. Die Palazzi Forcella De Seta, Costantino oder Ajutamicristo befinden sich in unterschiedlichen Verfallsstadien ohne nahe Aussicht auf Rettung. Und im Palazzo Butera wird restauriert und geputzt, doch auch er ist weit entfernt von seinem früheren Glanz. Nun profitiert aber die ausgestellte Kunst nicht einfach von der morbiden Schönheit der alten Paläste, sondern über diese zugegeben ästhetische Symbiose hinaus stellen sich immer wieder sinnvolle Querverbindungen ein, wenn etwa aus den Fenstern des Palazzo Ajutamicristo nicht nur die Dächer Palermos zu sehen sind, sondern auch die Mobilfunkantennen auf den weit entfernten Hügeln, die längst zum Landschaftsbild dazu gehören. Künstlerische Auseinandersetzungen mit diesen unsichtbaren Signalen und Netzwerken sind im Palazzo Ajutamicristo unter dem Titel „Out of Control“ versammelt. Auch der Ausstellungsteil im Palazzo Forcella De Seta ist mit diesem Motto überschrieben. Hier stehen die Migrantinnen und Migranten im Vordergrund, ihre Fluchtumstände und die Situation nach der Ankunft, wenn es eine solche überhaupt gibt. Die künstlerischen Arbeiten sind so aufwendig recherchiert, präzise formuliert und in einer Dichte präsentiert, sie das nur selten an einer internationalen Grosssausstellung zu sehen ist. Kader Attia etwa lässt den unerträglichen Status papierloser Migrantinnen und Migranten in Frankreich untersuchen, denn: „Du existierst nur, wenn Du sichtbar bist.“ Die Gruppe „Forensic Oceanography“ widmet sich mit „Liquid Violence“ und „Mare Clausum“ den Bootsflüchtlingen auf dem Mittelmeer und den dramatischen Konsequenzen der politisch nicht legitimierten Rettungseinsätze – eine Arbeit, die es trotz ihres dokumentarischen Anspruches schafft, die Menschen auf den Booten eben nicht als Zahlenmenge zu behandeln, sondern als Individuen zu begreifen. Eine Arbeit, die besonders berührt, liefert John Gerrard eigens für die Manifesta: Er reiste an jene Stelle, an der im August 2015 an einer österreichischen Autobahn 71 tote Flüchtlinge in einem Kühllastwagen entdeckt wurden und nahm dort Tausende von Einzelbildern auf. Sie sind zu einer Computersimulation zusammengefügt, in der kein Auto und kein Mensch zu sehen sind, kein Laut zu hören ist. Einzig der Standstreifens neben den Fahrbahnen der A4 wird in langsamer Bewegung umkreist: schön wie ein Landschaftsgemälde von Gerhard Richter, beklemmend und eindringlich, wie es kein Fernsehbild je vermitteln kann.

Eine andere herausragende Arbeit hat Uriel Orlow realisiert. Bereits in seiner Ausstellung in der Kunst Halle Sankt Gallen vergangenen Frühling verwob er die Botanik mit politischen Aussagen. In Palermo nutzt er drei Bäume für solche Kontextualisierungen. Einer steht am ehemaligen Wohnhaus Falcones ein anderer wurde von St.Benedikt im 16. Jahrhundert gepflanzt: Der Heilige mit afrikanischen Wurzeln tat als Franziskanermönch nicht nur Wunder, sondern auch Dienst in der Klosterküche. Für Orlow berichteten nun afrikanische Migranten, die sich in Palermo als Köche durchschlagen, neben Benedikts Zypresse über ihre Vergangenheit und ihre Wünsche. Dieses Werk schlägt damit zugleich die Brücke zu einem anderen wichtigen Manifestaort: den Botanischen Garten. Er ist das Sinnbild für die gesamte Ausstellung. Hier lässt sich Artenvielfalt als Metapher für Migration lesen, hier zeichnen sich ökologische Probleme ab und nicht zuletzt ist ein Botanischer Garten weit mehr als eine Stadtoase, er ist immer auch ein Ort für die Forschung, für Verwurzelung, Werden und Wachsen – und somit der richtige Ort für eine Ausstellung, die sich dringende gesellschaftliche Veränderungen erhofft.

http://m12.manifesta.org/

https://www.saiten.ch/kunst-im-boot-mit-den-fluechtlingen/

Alles dreht sich um sich selbst

Erinnert sich noch jemand an „Singles“? Jenen Film Anfang der 1990er Jahre, in dem Eddie Vedder, Jeff Ament und Stone Gossard von Pearl Jam mitspielten, und der als Porträt der Jugend in Seattle gehandelt wurde? Eine der Hauptdarstellerinnen flog darin in einem Video durch die Grunge-Metropole. Sie befand sich auf der Suche nach dem perfekten Mann und im Bewusstsein, nicht weniger als diesen verdient zu haben, denn sie selbst erschien sich perfekt: „Expect the best“ verkündete sie ihrem potentiellen Zukünftigen.

Können wir von soviel Selbstbewusstsein nur noch träumen? Müssen wir uns immer noch weiter optimieren? Ständig Puls und Herzfrequenz kontrollieren, um das effizienteste Training absolvieren zu können? Während des Trainings Podcasts hören, um noch schlauer zu werden? Nur noch Bio essen, nicht der Ökologie wegen, sondern, um dem eigenen Körper nur das Gesündeste zuzuführen? Und warum das Alles? Um in den sozialen Netzwerken glänzen zu können?

Das Vögele Kultur Zentrum in Pfäffikon spürt dem aktuellen Selbstoptimierungstrieb nach und setzt auf sein bewährtes Ausstellungskonzept: Dokumentarisches Material, Objekte aus der Alltagskultur, wissenschaftliche und Publikumsbeiträge werden mit Gegenwartskunst kombiniert. Mitmachexponate laden zu hautnahen Reflexionen ein. Thesen werden nicht nur formuliert, sondern handfest in den Raum gestellt. Dieser gleicht im aktuellen Fall sinnigerweise einer Turnhalle. Schwedenkästen und Sprossenwände stehen bereit, Spielmarkierungen ziehen sich an den Wänden entlang. Das davor aufgestellte Rad ist jedoch nicht den Turnhallen entlehnt, sondern dem Hamsterkäfig. Die Künstlerin Sarah Hepp aus Zürich hat diese goldene „Tretmühle“ entworfen und ein schlüssiges Bild für Optimierungsanstrengungen gefunden: Alles dreht sich nur noch um sich selbst. Einen anderen Aspekt thematisieren Stefan Panhans´ Klettergriffe. Sie bestehen aus Präparaten zur körperlichen oder geistigen Leistungssteigerung und sind so zerbrechlich, dass sie den bequemen Weg zum idealen Ich als Illusion entlarven. Pillen, Kapseln, Pülverchen – auch der St. Galler Hans Thomann visualisiert diese leeren Versprechungen der Optimierungsindustrie. Also doch Sport treiben? Oder in die Schönheitschirurgie?

Noch vor drei Jahren hiess es, schöne Menschen erzielten höhere Löhne. Nun hat eine neue Studie das Gegenteil herausgefunden. Was bleibt uns also? Entspannt die Studien und Optimierungstrends vorbeiziehen lassen wie die Wölkchen am Sommerhimmel.

Ein Saitensommertip

Gekonnt geblufft

Endlich die Nr. 1 sehen, echt und in Farbe, die Crème de la Crème im Thurgau zu Gast, im Kunstmuseum. Matthias Bildstein und Philippe Glatz präsentieren das Sahnehäubchen unter den Ausstellungen, die Meisterstücke unter den Kunstwerken und vor allem: ein unerschütterliches Selbstbewusstsein. Das Künstlerduo feiert mit „Nr.1“ im Kunstmuseum Thurgau seine erste museale Ausstellung. Und sich selber. Und die Kunst. Und das Spektakel. Nichts weniger, aber noch einiges mehr.

Der Auftakt zur Schau steht bereits seit über einem Jahr vor der Kartause Ittingen. Inmitten von Obstbäumen, Bienengesumm und Blumenwiesen haben Bildstein ǀ Glatz einen Doppelloop von knapp 15 Metern Höhe platziert. Als formgewordene Dynamik und dekoriert wie eine Jahrmarktattraktion ragt er in den Sommerhimmel auf und steht mit allem ringsum in Kontrast. Er ist eine grosse Plastik, aber auch eine grosse Täuschung, denn benutzen lässt er sich nicht. Statt dessen beschleunigt er die Gedanken und schleudert die Fragen zu Kunst, Event und Handwerk bis in die Ausstellung hinein. Hier zeigen sich der 1979 in St.Gallen geborene Glatz und der 1978 in Hohenems geborene Bildstein als malerische Perfektionisten und bastelnde Bildhauer. Wie sie ihre Motive gekonnt aufs Blatt werfen, welche skulpturalen Qualitäten Bronze einem Objekt verleiht, haben sie im Akademiestudium gelernt. Wie sie alles Akademische mit ihren Inhalten und Inszenierungen wieder unterlaufen können, testen sie immer aufs Neue aus. Sie mischen Pop Art mit den Neuen Wilden, Combine Paintings mit Hobbykellerkunst und würzen das Ganze mit einer Portion Mythos in Person des Stuntman Brutus. Nur er ist verwegen genug, die Abschussrampen und Raketenautos des Künstlerduos zu testen. Eines davon steht in der Ausstellung und bezeichnenderweise besitzt es einzig eine Temperaturanzeige bis 350° C und einen Ein-Aus-Schalter: On oder off – ganz oder gar nicht, Bildstein ǀ Glatz machen keine halben Sachen.

Ein Saitensommertip

Obsession Zeichnung

Johnny Cash komponierte «Walk the Line» 1955. Die Linie ist darin weniger ein Strich als eine Lebenseinstellung, die sich mit Anstand und Konsequenz übersetzen liesse oder: sich und seinen Themen treu bleiben wie es in der aktuellen Ausstellung im Zeughaus Teufen geschieht.

Teufen: Klaus Lutz und Johann Ulrich Fitzi: Der eine ein Experimentalfilmer und literarisch inspirierter Performancedarsteller, der andere ein autodidaktischer Zeichner und biedermeierlicher Landschaftschronist – zwei die nicht zusammengehören, aber zusammenpassen, wenn der Kontext stimmt. Den setzt Ueli Vogt, Kurator des Zeughaus Teufen, auf inzwischen gewohnt unbefangene Weise. «Walk the Line» überschreibt er die nunmehr zehnte grosse Ausstellung im Zeughaus. Und wie bereits in der Vergangenheit konstruiert er damit einen Rahmen, der grosszügig aufnehmen kann, was im Haus bereits vorhanden ist, was eigens geschaffen wurde oder was längst einer Präsentation harrt so wie das durch den Kanton Appenzell Ausserrhoden vor einiger Zeit erworbene Zeichnungskonvolut von Fitzi (1798–1855).

Der Autodidakt streifte mit Stift und Papier durchs Appenzellerland und hielt es so akribisch fest, dass seine Zeichnungen als Material für die Denkmalpflege taugen. Der eigenständige künstlerische Ausdruck tritt in ihnen weit hinter den dokumentarischen Anspruch zurück. Sie als reine Fleissarbeit zu präsentieren, griffe jedoch viel zu kurz. Stattdessen rückt sie die Kombination mit Lutz (1940–2009) und den Werken junger zeitgenössischer Künstlerinnen und Künstlern in neues Licht.

Von Lutz sind unter anderem der zwölf Meter lange «Pas de deux» und das Robert Walser gewidmete «Zimmerstück» zu sehen – beide von ähnlicher Obsession geprägt wie Fitzis Oeuvre. Auf andere Weise setzten sich Fitzis akribische Bleistiftlineaturen in Sandra Kühnes mit der Schere geschnittenen Wegenetzen fort und in Christian Kathriners grafischen Rastern. Sie finden ihren Kontrast in Anna Beck-Wörners Klebebandlinien, die über Balken und Wände des Zeughauses mäandern. Sie erhalten Antwort in Karin Karinna Bühlers typografisch durchgestalteten Wortbildern. Hier zeigt sich eine weitere Besonderheit im Zeughaus: Immer wieder dürfen sich Werke aus den Ausstellungen im Haus dauerhaft einnisten und bieten sich aus dieser Position heraus als Dialogpartner an. Kathriner hatte beispielsweise anlässlich der Eröffnung im Jahre 2012 für den Asphaltplatz vor dem Gebäude ein Trajektorenfeld entworfen. Es sichert nicht nur den Bezug zur Baumeisterfamilie Grubenmann, deren Werke im dritten Obergeschoss gewürdigt werden, sondern bietet sich jetzt sogar zur wörtlichen Umsetzung des Ausstellungsmottos an.

Keine Angst vor Rot, Gelb, Blau

Das Kunstmuseum St. Gallen präsentiert das skulpturale Werk Roman Signers und spannt mit der Ausstellung den Bogen von frühen Zeichnungen bis zu aktuellen Arbeiten. Die Werkauswahl zeigt die inhaltliche und ästhetische Stringenz eines seit einem halben Jahrhundert gewachsenen Oeuvres.

St. Gallen: Das Alterswerk? Mitnichten. Wird Alterswerk gleichgesetzt mit abgeklärt, bedächtig oder selbstzufrieden, dann trifft diese Kategorie nicht auf Roman Signer (*1938) zu. Die jüngsten Werke des Künstlers sind von derselben Experimentierfreude, Neugierde und Lust am Machen getragen wie die vor mehreren Jahrzehnten entstandenen. Roman Signer ist sich treu geblieben, ohne sich zu wiederholen oder sich zitieren zu müssen. Das zeigt die aktuelle Ausstellung im Kunstmuseum St.  Gallen eindrücklich. Anlass dafür ist weniger der runde Geburtstag als vielmehr eine bedeutende Schenkung: Ursula Hauser hat dem Museum ein Konvolut von 22 Zeichnungen aus den Jahren 1976 bis 1986 und «Blaues Fass: Schneise im Feld» geschenkt. Mit dieser Arbeit vertrat Signer die Schweiz an der Biennale di Venzia 1999 und sie legt im Oberlichtsaal des Kunstmuseums einen ebenso selbstverständlichen Auftritt hin wie im Pavillon in den Giardini. Die Basis dafür liegt in Signers planvollem Vorgehen, seinem fundierten naturwissenschaftlichen Interesse und seinem Gespür für die Ästhetik der Dinge und Materialien. Gegenstände kommen entweder in Primärfarben zum Einsatz wie die roten Ballons, die blauen Fässer, gelbe Bänder oder in schwarz wie Regenschirme und Gummistiefel. Die Gestalt der Dinge ist klassisch, unverspoilert.

Zu den sehr bewusst ausgewählten Gebrauchsgegenständen bilden Holz, Metall und Sand den natürlichen Kontrast. Daher wirkt es wie aus einem Guss, wenn im Kunstmuseum beispielsweise die «Spur» neben dem «Fahrrad mit gelbem Band» präsentiert wird. Das eine Werk entstand eigens für die aktuelle Ausstellung: ein Autopneu wurde durch feinen weissen Sand gerollt, seine Spur hat sich darin eingeschrieben. Das andere Werk ist 36 Jahre alt: Sogenanntes Vogelschreckband, auf den Gepäckträger eines Fahrrades montiert, rollt sich während des Fahrens ab und zwar in diesem Falle um die Säulen des Museumsfoyers herum. Das Besondere an dieser Arbeit: Sie wird an jener Stelle gezeigt, an der sie entstanden ist. Im Jahre 1982 war das damals baufällige Kunstmuseum geschlossen. Roman Signer konnte es für seine Arbeiten nutzen und hielt die Ereignisse auf Super-8-Film fest. Sechs davon sind jetzt im Kunstmuseum ausgestellt, dazu das per Fahrrad abgewickelte gelbe Band, das Signer – und so schliesst sich einer der Kreise in seiner Arbeit – auch an der Biennale 1999 zeigte.

Esst Euch doch selber!

Stroh zu Gold spinnen, zu Gold! Schon der Klang des Wortes war verheissungsvoll, sein Besitz so erstrebenswert, dass die alchemistische Kunst blühte. Wenn es das Rumpelstilzchen gegeben hätte, wenn es gelungen wäre, Gold herzustellen, vielleicht wäre die Weltgeschichte anders verlaufen. Aber das ist lange her und inzwischen wäre die Goldsynthese möglich, lohnt sich aber nicht. Die reiche Postindustriegesellschaft treiben denn auch ganz andere Dinge um. Wenn es beispielsweise gelänge, ein künstliches Herz zu entwickeln, das die Qualitäten eines echten Herzens besässe? Oder eine künstliche Gebärmutter in Serie ginge? Oder sich aus Stein eine Leber züchten liesse? Während in der Medizinforschung mit Hochdruck an Kunstherz und -uterus gearbeitet wird, wächst in der Kunst die Leber aus dem Stein: Thomas Feuerstein hat den Kunstraum Dornbirn in ein Labor verwandelt und alles ein paar Nummern grösser gebaut und mit kleinen Transformationen wie etwa Krakenarmen aus Glas versehen. In riesigen Glaskolben und Röhren brodeln rötliche Flüssigkeiten. Hier erzeugen Bakterien aus eisenhaltigem Pyrit eine Nährlösung. Pumpen und Schläuche leiten die Zellnahrung aus dem Bioreaktor weiter zu künstlich hergestellten Leberzellen, um sie zum Weiterwachsen anzuregen. Ein komplexer, tatsächlich funktionierender Kreislauf, über dem die Kopie einer Prometheusskulptur thront. Dem im Kaukasus angeketteten Prometheus zerfrass ein Adler die Leber als Strafe dafür, dass er den Menschen das Feuer gebracht hatte. Nun zerfrisst Schwefelsäure als Nebenprodukt der steinfressenden Bakterien die Kopie und der zerstörte Marmor nimmt in einem Gipsstalakmiten eine neue Gestalt an. Der Künstler spinnt diese Kreisläufe im Hörspiel zur Arbeit noch weiter und erzählt von einer Forschergruppe, die im Kaukasus chemolithoautotrophen Organismen auf der Spur ist. Klingt kompliziert und gipfelt in einer Zukunft, in der sich Menschen von eigenen Körperzellen ernähren, bis schliesslich das Oktoplasma von allen und allem Besitz ergreift und die ganze Erde sich selbst verdaut – eine Zombievision der anderen Art, gewürzt mit wissenschaftlichem, künstlerischem und philosophischem Anspruch.

Ein Saitensommertip

Der Baum als Linie

Die Kunsthalle Arbon und Simon Ledergerbers Baumobjekt sind beide sind Abbild ihrer Vergangenheit. Die sichtbare Industriegeschichte verbindet sich in der Ausstellung „Vom Wesen der Dinge“ mit Kunst und organischen Prozessen.

Die Kunsthalle Arbon besitzt den eigenständigen Charakter funktionaler,  gealterter Industriearchitektur. Hallendach und Tragkonstruktion sind an vielen Stellen mit Rostfarbe ausgebessert, die Wände dunkelgrau gestrichen. Der Asphaltboden ist an vielen Stellen porös und von Farbspuren durchsetzt. Einzig eine seitlich versetzte Säulenreihe unterteilt die grosse Fläche.

Diesen Raum adäquat zu bespielen, verlangt Selbstbewusstsein und ein Gespür für Materialien und Proportionen gleichermassen. Simon Ledergerber besitzt beides. Mit grosser Geste schreibt er in die Fabrikationshalle eine Linie. Sie steht nicht nur formal im Kontrast zu allem, was sie hier umgibt, sondern auch materiell: Die Linie ist aus hellem Holz. Einst war sie ein Baum mitten im Wald. Bis sie von Simon Ledergerber entdeckt wurde. Der Künstler aus Zürich suchte nach einem geeigneten Baum für ein Objekt. Er hatte die Ausstellungseinladung nach Arbon erhalten und wusste, jetzt darf es etwas Grosses sein. Zugleich gab es Rahmenbedingungen: Lage und Ort des Baumes mussten es ermöglichen, ihn aus dem Wald abzutransportieren. Die Länge des Stammes musste stimmen wie auch die gesamte Gestalt des Baumes. Gefällt werden durfte er nicht, das hätte Stamm und Wurzel voneinander getrennt. Ein Sturm kam dem Künstler zu Hilfe. Dann begann die Arbeit direkt im Wald. Simon Ledergerber entfernte Rinde und Äste, aber nur so weit, dass die Hauptwuchslinien erhalten blieben. Die Wurzel reduzierte er auf einen Arm. Dies erforderte bereits künstlerische Entscheidungen: „Wie stark will ich eingreifen? Welche Linien will ich gewichten? Wie soll die Spannung vom Boden nach oben geführt werden?“

So lag nach knapp drei Wochen statt einer Pflanze die helle Linie im Wald. Die Feinarbeit folgte dann in Ledergerbers Atelier in Biel. Zudem begann der Baum zu trocknen, Risse brachen auf, das Material arbeitete weiter. Diese Prozesse interessieren Ledergerber besonders und er untersucht sie auch in seinen grafischen Arbeiten. Hier bringt er Eisen auf eichenholzgegerbtes Papier, mischt Pflanzensäfte, Tusche und Petroleum, streut Eisenstaub in eine Essig-Wasser-Lösung. Die Ergebnisse sind kaum vorherzuzusehen, aber in jedem Falle bilden die Blätter die Dynamik der Vorgänge ab. Verborgen bleiben sie hingegen beim wassergefüllten Eisenkubus. Irgendwann wird sich das Wasser durchgearbeitet haben. Bis dahin jedoch  ist die verhüllte chemische Reaktion im geometrischen Körper das perfekte Gegenstück zur herausgeschälten organischen Form der Tanne.