Leerstellen als Leitlinien

by Kristin Schmidt

Susann Albrecht schärft die Wahrnehmung für den Raum. Unter dem Motto „Der fragmentierte Raum“ zeigt sie ihre Arbeiten in der Galerie vor der Klostermauer.

Unterführungen, Brücken, Korridore halten die Menschen in Bewegung. Es sind Gangsituationen, dafür geschaffen, von einem Ort zum anderen zu gelangen. Überdies bieten sie in der Zentralperspektive einen weit entfernt gelegenen Fluchtpunkt und öffnen einen tiefen Raum. All diese Aspekte faszinieren Susann Albrecht. Die 1954 geborene St. Gallerin ist seit einigen Jahren mit der Kamera unterwegs, um besondere Raumsituationen und das Verhalten der dort anwesenden Passanten zu ergründen. Ein wichtiger Meilenstein war dabei ihr Aufenthalt im Rom-Atelier des Kantons St. Gallen 2009. Sie untersuchte damals monumentale Personendarstellungen im Verhältnis zur architektonischen Umgebung. Ein Beispiel dieser Werkphase ist derzeit in der Galerie vor der Klostermauer zu sehen. Doch auch ganz aktuelle Arbeiten sind ausgestellt.

Ob älter oder neu: Susann Albrechts Fotografien sind das Ergebnis strategischer Überlegungen, sensibler Wahrnehmung und einer Portion Zufall. Mit dem Fotoapparat begibt sie sich in den Stadtraum oder Räume im Übergangsbereich von Innen und Aussen wie überdachte Brücken, grosszügig durchfensterte Galerien und Arkaden. Dort wählt die Künstlerin eine Sichtachse aus und wartet. Erst dann, wenn die anwesenden Passanten in bestimmter Konstellation zueinander stehen oder gehen, nimmt Albrecht die Szenerie auf. Doch selbst dann kommt es vor, dass plötzlich jemand ins Bild läuft – ungeplant und dennoch willkommen, denn in der Summe aus Kalkül und Zufall entsteht eine sowohl ausgewogene als auch spannungsvolle Komposition.

Damit nicht genug. Weitere Akzente setzt Albrecht, indem sie die kleinformatigen Schwarzweissabzüge auf unkonventionelle Art vergrössert. Das Bild wird nicht etwa auf einem hochspezialisierten Drucker ausgedruckt, sondern Albrecht verwendet einfache Kopiergeräte. Die fotografische Vorlage wird dabei Stück für Stück, Bildausschnitt für Bildausschnitt vergrössert. Anschliessend werden die Fragmente zusammengesetzt.

Prozessbedingt entstehen dabei Leerstellen an den Rändern der einzelnen Blätter. Diese zerschneiden als weisse Linien das Motiv. Indem bestimmte Details zusammengefasst und andere durch diese Linien abgetrennt werden, lenkt Albrecht die Wahrnehmung des Betrachters. Die Anordnung der Personen und andere Einzelheiten des Bildes werden betont. Die Künstlerin wertet und gewichtet. Sie choreographiert ihre Aufnahmen. Und nicht nur das. Auch die Ausstellung selbst lebt von der durchdachten Anordnung der Einzelelemente, in diesem Falle der Werke. Im Untergeschoss der Galerie liegt der Fokus auf Aufnahmen des Aussenraumes oder von Übergangszonen. Im oberen Stock zeigt Susanne Albrecht den Innenraum. Einmal ist eine Frau in einem Buchladen zu sehen. Die Fragmentierung des Bildes legt so manches leicht zu übersehendes Detail offen, wie etwa das Fensterputzmittel im Büchergestell. Doch inmitten des dicht gefüllten Raumes widmet sich die junge Frau ihrer Lektüre und erinnert in ihrer Versunkenheit an die Frauenbildnisse Vermeers. Der Fotografie gegenüber hängt das Schwarzweissbild eines Mädchens, ebenfalls vor einem Bücherregal, ebenfalls vertieft, aber in das Spiel mit gefundenen, einfachen Materialien. Damit ergibt sich eine Brücke zu einem weiteren Werk, einer abfotografierten, floral verzierten Ofenkachel. Sie ist die einzig farbige Arbeit, und die einzige, bei der die Fragmentierung bereits vorhanden war. Es ist ein Foto eines Fundstückes, dessen Einzelteile Albrecht gesucht und zusammengesetzt hat. Auch hier sind Leerstellen selbstverständlicher Teil der Arbeit und geben Raum, die vorhandenen Dinge genauer anzusehen.