Wundersame Wesen

by Kristin Schmidt

St.Gallen — Rotkäppchen als Wolfshirtin, ein Bäreichhörnchen, ein gestiefelter Vogelkater – Marlies Pekarek sortiert die Tierwelt neu. Die Künstlerin hat eigens für die Winterausstellung in der Stiftsbibliothek St.Gallen eine künstlerische Intervention entwickelt. Unter dem Motto «Tiere» sind im Barocksaal der Bibliothek ausgewählte Bände zu sehen. In Vitrinen offenbaren die Bücher ihr bildreiches Innenleben und ihre mitunter merkwürdigen Inhalte. Die Spannbreite reicht von Arzneien mit Hundewelpen zu Enzyklopädien, in denen sich Fabelwesen verstecken, von Empfehlungen zur Nutztierhaltung bis zu Heiligenattributen oder zu Ratschlägen, wie eine Löwengebärmutter zur Empfängnisverhütung eingesetzt werden kann.
Marlies Pekarek knüpft formal insbesondere an die Bordüren an, die als Schmuckranken die Seitenränder der Bücher zieren und zwischen deren Blättern und Blüten sich einzelne Tiere tummeln oder sogar ganze Jagdszenen integriert wurden. Die St.Gallerin hat auf umlaufender Höhe die Regalbretter leergeräumt und nun dort ihre Tierplastiken verteilt. Einer Bordüre gleich ziehen sie sich nun auf der Höhenlinie knapp unter Augenhöhe durch den ganzen Saal. Es ist eine seltsame Parade: Vogelkörper mit Säugetierköpfen, Menschenhäupter auf gefiedertem Leib, Chimärengottheiten blicken einander verwundert an, reihen sich auf oder verschwunden zuhinterst im Dunkel des Bücherkastens. Sie versammeln sich in kleinen Herden oder werden wie Solitäre einer Wunderkammer präsentiert.
Die Mischwesen basieren auf der Sammlung der Künstlerin. Insbesondere bei ihren Auslandsatelieraufenthalten erwarb sie Nippes- und Kunsthandwerkfiguren. Eigens angefertigte Abgüsse davon kombinierte sie neu: Diese schwarzen und weissen Gips- und Wachsrepliken formieren sich nun zu einer Prozession, die mit dem gealterten Holz und den braunen Buchrücken auf den anderen Regalbrettern kontrastiert. Als seien sie aus den Büchern gestiegen, erinnern sie an die Gedankenwelten, die sich zwischen den vielen geschlossenen Buchdeckeln verbergen, aber auch daran, dass der Wunderglaube keinesfalls immer nur in historischer Ferne liegt.