Von Schweinen und Menschen

by Kristin Schmidt

Rhona Mühlebach erhält den Adolf-Dietrich Förderpreis 2021. Im Kunstraum Kreuzlingen zeigt sie eine neue Videoinstallation. Zusätzlich sind Arbeiten ihrer schottischen Studienkollegin Holly McLean zu sehen.

«Sollen wir uns mit den wilden Schweinen zusammentun?» fragt sich die Beobachterin mit dem Feldstecher. Aus der sicheren Distanz kann sie den robusten Vierbeinern durchaus etwas abgewinnen. Auch die Tiere selbst weisen gerne auf ihre Qualitäten hin. Mit kehligen Stimmen preisen sie ihre wunderschönen Borsten und ihr Dasein als Überlebenskünstler. Sie können sogar zweimal im Jahr Junge bekommen, wenn es ihnen gut geht. Und es geht ihnen so gut, dass sie in Grossstädten als Problem gelten, wie die zitierten Schlagzeilen beweisen: Wildschweine überfallen Spielplätze, lassen sich in Siedlungen nieder, erfreuen sich am Hausmüll.
Die Künstlerin Rhona Mühlebach hat recherchiert in der Wildschweinszene und lässt die Schwarzkittel ausführlich zu Wort kommen. Mit einem schiefen Grinsen zwischen den kräftigen Hauern verraten sie einiges an Lebensweisheit.

Aufwendige Videoarbeiten

Einen Wildschweinfilm hat Mühlebach dennoch nicht geschaffen, sondern ein dichtes Erzählkino mit einer Geschichte übers Aussterben, übers Bleiben, über neue Kontakte und alte Lebensformen. Die 1990 geborene und in Dettighofen aufgewachsene Künstlerin wird jetzt als 19. Preisträgerin mit dem Adolf Dietrich-Förderpreis der Thurgauischen Kunstgesellschaft ausgezeichnet. Die Jury würdigt damit Mühlebachs aufwendig komponierte Videoarbeiten, mit denen die Künstlerin seit einigen Jahren aufgefallen ist. Gekonnt verknüpft sie Bild-, Gefühls- und Wissensebenen, verflicht reale Bilder mit computeranimierten, richtet den Blick in die Vergangenheit, um daraus aktuelle Aussagen ableiten zu können. Bei all dem stellt sie den Menschen ins Zentrum der Betrachtung, selbst dann, wenn die Wildschweine sprechen.
Wer sich in den tiefen Polstersesseln im Kunstraum Kreuzlingen niederlässt, wird rasch in Bann gezogen von der seltsamen Welt auf dem grossformatigen Bildschirm. Da sucht eine Neandertalerin den Anschluss zur heutigen Welt. Eine Kommissarin berichtet von ihrem harten Berufsalltag, aus dem sie mit der Wildschweinbeobachtung zu entfliehen versucht. Und ein Arzt berichtet, wie er seine Frau getötet hat. Hat er sie von einer Krankheit erlöst? Hat er sie kaltblütig ermordet?

Wildschweine als Lebensratgeber

Mühlebach erzählt in ihrer Videoinstallation «Excitement is not part of my feeling repertoire» vom Sterben und Aussterben. Das ist erwartungsgemäss keine eindimensionale Geschichte. Es könnte so sein, aber auch ganz anders. Viel wichtiger als die gezeigten Ereignisse sind die Gefühle: Wie empfindet eine Neandertalerin? Wie glaubwürdig sind die Tränen des Frauenmörders? Beweint er nicht vielmehr sich selbst?
Rhona Mühlebach bettet die Szenen in sorgfältig ausgewählte Landschaftsaufnahmen: Aufgeforstete Wälder in Schottland, eine Nachtidylle mit blinkendem Windrad im Hintergrund oder eine künstliche Höhlenumgebung dienen als Kulisse. Diese Orte eint, dass der Mensch sie sich angeeignet oder sie geformt hat. Schön sind sie trotzdem und still – wenn nicht plötzlich wieder die Wildschweine auftauchen und gute Tips für alles und jeden bereit halten.

Künstlerinnen im Dialog

Die Präsenz des Menschen und seine Rolle in der Welt ist ein verbindendes Element zwischen der Arbeit Rhona Mühlebachs und jener von Holly McLean. Die Schottin zeigt zwei Videoarbeiten im Untergeschoss des Kunstraumes. Eingeladen wurde sie von der Adolf Dietrich-Förderpreisträgerin. Kennengelernt haben sich die beiden Frauen beim Kunststudium in Glasgow.
Holly McLean arbeitet ebenfalls mit der Videokamera, anders als Mühlebach überschreitet sie dabei die Grenzen zwischen Fiktion und Dokumentation. Die agierenden Frauengestalten sind reale Charaktere. Sie berichten über ihren Alltag, der aber ganz unalltäglich sein kann wie im Beispiel der Astrophysikerin. Wie Mühlebach thematisiert auch McLean das Verhältnis des Menschen zur Natur. Deren Nähe wird einerseits ersehnt, andererseits versucht der Mensch, sich von natürlichen Prozessen zu lösen. Gelingt die Befreiung? Oder bleibt sie eine feministische Utopie? Die Ausstellung gibt keine Antworten, aber vielleicht wissen die Wildschweine, wie es weitergeht.