Wenn das Nashorn tanzt

by Kristin Schmidt

So rasch am Puls der Zeit war noch kaum je eine Ausstellung: Das Kunsthaus Bregenz zeigt mit «Unvergessliche Zeit» Werke zur Coronakrise. Und bestätigt, dass Künstlerinnen und Künstlern mit gutem Grund als Seismographen der Gesellschaft gelten.

Die Grenzen sind seit heute offen, die Masken nicht mehr obligatorisch – die Fahrt nach Österreich fühlt sich fast so an wie noch Anfang März. Dazwischen liegt eine Zeit, die vollständig anders war, eine Zeit, die noch sehr lange zu tun und zu reden geben wird und bei der nicht ganz auszuschliessen ist, dass sie noch einmal wiederkommt. So oder so – eine denkwürdige Zeit, eine «unvergessliche Zeit». Unter diesem Motto versammelt das Kunsthaus Bregenz künstlerische Werke aus den vergangenen Wochen. Sie reflektieren direkt oder indirekt das Eingeschlossensein, die entstandenen physischen oder psychischen Versehrungen, die längerfristigen Folgen für Individuum und Gesellschaft. Direktor Thomas Trummer sieht die zeitgenössischen Künstlerinnen und Künstler dabei in einer wichtigen Rolle für die Deutung der Zeit und vergleicht sie mit Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen, George Grosz oder Erich Maria Remarque. So wie der eine das Bild des dreissigjährigen Krieges für die Nachwelt prägte und die anderen beiden das des Ersten Weltkrieges, seien auch heutige Gegenwartskünstler und -künstlerinnen deutlich mehr als blosse Chronisten der aktuellen Zeit. Sie erzählten nicht einfach die Geschichte nach, sondern übersetzen die Geschehnisse in nachhaltig wirksame literarische und visuelle Bilder.

Einer, auf den dies in besonderer Weise zutrifft, hat seine ausgestellte Serie zwar schon vor längerer Zeit gemalt, aber dies tut ihrer Brisanz keinen Abbruch: Markus Schinwald hat in den 1990er Jahren Bildnisse aus dem 19. Jahrhundert überarbeitet. Mit grosser malerischer Finesse hat er den Dargestellten goldene Drähte um die Gesichter gelegt und ihnen Masken übergezogen. Während die Drahtspangen die Individualität der Porträts steigern, bewirken die Masken das Gegenteil; sie beherrschen das jeweilige Gemälde, bezwingen den Blick und hinterlassen doch nur eine Leerstelle im Antlitz. Mühelos lenken die Bilder die Gedanken aus dem Kunsthaus heraus, hin zu Fragen über die unterschiedliche Akzeptanz von Masken in unterschiedlichen Gesellschaften, über ihren tatsächlichen Verwendungszweck und die möglichen und unmöglichen Trageweisen.

Ania Soliman beweist die Aktualität der Ausstellung in zweierlei Hinsicht. Ihr Wort-Bild-Tagebuch zeichnet einerseits die Tage des Ausnahmezustandes in Paris nach, andererseits schildert sie ihre Situation als Fremde in Frankreich, die ihr von Einheimischen aufgedrängt wird und die der jüngsten Rassismus-Debatte Beispiele liefert. Auf quadratischem Papier stellt die Künstlerin markante Motive ins Zentrum und umlaufend einen Text in roter Schrift. Sie verweist zeichnerisch auf Bildschirmoberflächen, Computerbefehle, Programmanweisungen, manchmal auch auf politische Zeichen oder Flaggen. Solimans Originalblätter sind vor Ort zu sehen und zugleich online unter https://www.instagram.com/aniasoliman/. Dort wird die Serie weiter fortgesetzt.

Ebenfalls ein fortlaufendes Projekt ist William Kentridge’s The Centre for the Less Good Idea (lessgoodidea.com). Der südafrikanische Künstler thematisiert seit Jahrzehnten die kolonisierte Gesellschaft, die Unterdrückung, Ausgrenzung und Flucht. Seine virtuosen zeichnerischen Arbeiten stehen aber nicht im Zentrum der Ausstellung, sondern einminütige Kurzfilme, die für das 2016 in Johannesburg gegründete Veranstaltungszentrum entstanden. Eingesandt wurden sie von Künstlern und Künstlerinnen, die ursprünglich dort live auftreten sollten. Aufgrund der aktuellen Situation blieb ihnen wenig mehr als der eigene Körper, die eigene Stimme, als eine Kamera, Papier, Stift und Schere. Entstanden sind sowohl expressive wie auch humorvolle Sequenzen über Isolation, Freiheit, Sehnsucht und Kooperation. Die Fragmente, gefilmt in Ateliers und Wohnungen, dokumentieren die Suche nach transdisziplinären, kollaborativen und alternativen künstlerischen Formaten. Aber es lässt sich nicht verhehlen, das die zehn Kurzfilme Kentridges aus dieser Menge deutlich herausragen. Selbst dann, wenn er seine eigene Ratlosigkeit in dieser Zeit inszeniert, ist er künstlerisch präzise und souverän. Seine Bilder gehören zu denen, die nachhaltig wirken und eine neue Erzählung über die Zeit initiieren.

Weitere Arbeiten in der Ausstellung stammen von Helen Cammock, Annette Messager, Rabih Mroué und Marianne Simnett.

Wenn das Nashorn tanzt