Sehnsuchtsort und Sorgenkind

by Kristin Schmidt

Der Wald und die Alpen liefern eindrucksvolle Bilder. Auch in der Gegenwartskunst spielen sie eine gewichtige Rolle wie der Kunstraum Kreuzlingen am Beispiel von Moritz Hossli zeigt.

Je tiefer der Wald, desto grösser das Geheimnis. Wenn die Bäume dicht an dicht stehen, wenn das Blätterwerk kaum noch Sonnenlicht hindurchlässt ist, wenn die Wege immer schmaler werden und das Unterholz immer undurchdringlicher – dann scheint die Zivilisation fern und die Natur nah. Und nicht nur sie: Der tiefe Wald ist voller Mythen. Er birgt Sagengestalten, Irrlichter und Fabelwesen. Diese Vorstellung wirkte keinesfalls nur in früheren Jahrhunderten. Auch heute noch erzeugen Hexen im Horrorgenre den gewünschten Gruseleffekt.

All die romantischen, märchenhaften, schaurigen Geschichten trägt der Wald für immer mit sich. Auch Moritz Hossli entkommt ihnen nicht. Der Obwaldener Künstler, der auch in Luzern und Berlin zu Hause ist, hat den Wald gefilmt. Die Aufnahmen hat er verfremdet und mit Ton unterlegt. Das Ergebnis ist im Kunstraum Kreuzlingen als riesige 3D-Projektion zu sehen. Die Farben von Gestrüpp und Bäumen sind reduziert auf Blau und Grau, der Himmel hinter ihnen ist schwarz. Die Kamerafahrt geht unter den Ästen hindurch, um die Stämme herum, sie neigt sich mal zur einen mal zur anderen Seite. Dank der dreidimensionalen Effekte scheinen die Zweige und Blätter zum Greifen nah – und doch bleibt alles zweidimensional und auf die Projektionswand begrenzt, das Bild verlässt die Fläche nicht.

Hossli spielt mit der Technik und der Illusion. Auch der Ton trägt seinen Teil dazu bei. Das Rezept dafür ist altbekannt: Kaum grollt, knarzt und dröhnt es, kippt die Atmosphäre ins Bedrohliche. Säuselt es, erscheint die Szenerie näher an Dornröschens Rosenhecke als am Lebkuchenhaus und den verlorenen Kindern.

Der Künstler lotet den schmalen Grat zwischen Idylle und Unbehagen aus und fügt sich dabei in die lange Reihe derer, denen der Wald unerschöpfliche künstlerische und literarische Anregungen bot.

Auch die Eisfelder der Alpen waren Anlass mancher Bildschöpfungen. Allerdings sind Ehrfurcht und Faszination von einst heute der Sorge gewichen. So liess sich Hossli von dem Gelübde der Bewohnerinnen und Bewohner zweier Walliser Gemeinden inspirieren: Vor mehr als 300 Jahren begannen sie, mit päpstlicher Erlaubnis gegen das Wachstum des Aletschgletschers zu beten. Seit 2010 dürfen sie mit vatikanischer Zustimmung um das Gegenteil bitten, auf dass der Gletscher nicht verschwinde, ist er doch nicht nur ein ökologischer Faktor, sondern auch Wahrzeichen und Touristenattraktion.

Die geänderten Zeiten lassen sich in der Arbeit Hosslis deutlich ablesen. Im Untergeschoss des Kunstraumes zeigt der Künstler eine Zweikanal-Videoinstallation. Mit einem Drohnenflug hat er die Gletscher gefilmt und dabei nicht nur das Eis dokumentiert, sondern vor allem auch die riesigen Stoffbahnen, die zu dessen Schutz ausgelegt worden sind. Es ist das Bild einer Paradoxie: Die Produktion und Installation der Tücher gehören zu jenen Techniken, derentwegen die Gletscher schmelzen. Und der Mensch ist immer mittendrin. Bei Hossli ist er mit einer Wärmebildkamera aufgenommen als fast schon überdeutlicher Verweis auf den menschlichen Einfluss auf das Klima. Aber «Periglazial» hat nicht nur ökologische Bezüge. Auch in der Kunstgeschichte ist das Werk fest verankert. Die Faltenwürfe der Vliese erinnern an die Faltenkaskaden der Gotik ebenso wie an barocke Draperien. Die Risse der Tücher hingegen muten wie Wunden an und führen inhaltlich zum Gletscher zurück: Er ist von der mächtigen Naturerscheinung zum Patienten geworden.