Eine Künstlerin, ein Architekt, ein Mathematiker

by Kristin Schmidt

Vera Marke

An den Falten kommt keiner vorbei, auch in der bildenden Kunst nicht. Vera Marke ist durch die Theorie zur Falte gekommen, durch die Theorie und das Tuch: Die Künst- lerin beschäftigte sich früh mit der geschichte der heiligen Veronika, jener Frau, die der Legende nach Jesus auf dem Kreuzweg ein Schweisstuch reichte. Der im Tuch zurückgebliebene Abdruck wurde als real angenommene Darstellung des Antlitzes Jesu zur kostbarsten Reliquie der Christenheit. Wenig verwunderlich ist es darum, dass mehrere «originale» Tücher, mehrere Varianten der geschichte und viele, viele künstlerische Adaptionen des Themas existieren. Das Urbild jedoch wird als das einzig wahre, da nicht durch Menschenhand geschaffene Bild gedeutet, ein Aspekt, der Vera Marke besonders interessierte: «Was ist ein Bild? Ich denke nicht vom Motiv her, sondern von der Entstehung des Motivs. Was also ist Malerei? So komme ich zur Falte.» Denn kein Tuch ohne Falte. Vera Marke malt Falten und ist doch keine Faltenmalerin. Es geht der Künstlerin um das, was die Falten verbergen, und um das Paradoxon, dass sich im Verdecken etwas zeigen lässt. Was verbirgt sich dahinter? Hier kommt der Raum ins Spiel: «Malerei findet ja auf einer zweidimensionalen Fläche statt. Die dritte Dimension, wie sie gerade auch in der Falte sichtbar wird, ist im gemälde eine Illusion.» Zur räumlichen Illusion kommt die taktile. Denn: «Die Malerei befriedigt unsere Seh-Lust, hat mit dem Schauen zu tun.» Sie schafft sinnliche Reize, die sich im rein Visuellen abspielen. Meister darin waren die Künstler des Barock: «Das ist eine Virtuosengeschichte. Wer zeigen wollte, dass er malen kann, musste Falten hinknallen. Der Pinsel referiert mit der Fläche, der Strich und die Fläche reden sozusagen miteinander.» Die Fresken gianbattista Tiepolos sind Vera Markes Lieblingsbeispiele: «Die Kleider lösen sich vom Körper, sind keine Kleider mehr, gehen unendlich weiter, in die Wolken, in die Stuckatur, in die Unendlichkeit. Was Deleuze schreibt, hat Tiepolo schon längst gemalt – das All-Eine, die Totalität von Allem, das ganze Universum.» Deleuze also: «Die Falte. Leibniz und der Barock», ein gedanklicher Faltenwurf, ein Werk, dass sich an jeder Stelle aufschlagen und sich synchron zu Leibniz’ Denken entfalten und zusammenfalten lässt.

Paul Knill

Auch Paul Knill lassen das Buch und die Beschreibungen der charakteristischen Barockfalte nicht mehr los: «Der Barock (…) krümmt die Falten um und um. Treibt sie ins Unendliche, Falte auf Falte, Falte nach Falte.» Der Architekt kam während seines Studiums an der Akademie Düsseldorf mit Deleuzes Schrift in Kontakt, vermittelt durch seinen Philosophieprofessor Paul Good. Seither denkt Paul Knill, Zentralpräsident des Bundes Schweizer Architekten, über die Falte nach, untersucht ihre gestalterischen, statischen, raumbildenden und materiellen Qualitäten: «Am Anfang der Falte steht Materie, Fläche. Faltungen produzieren Raum, bieten Licht und Schatten Projektionsfläche. Im rechten Winkel vorgenommen, bilden sie Winkel, Nischen, schachtelartige Räume. Faltwerke können nicht nur aus Rechtecken und Quadraten bestehen – mit Parallelogrammen, Trapezen, Dreiecken erhöht sich die Komplexität der Gebilde. Gekurvt, gekrümmt, gebogen entstehen fliessende Räume». Faltungen werden für Tragwerke genutzt; anhand eines mehrfach längs gefalteten Papierblattes lässt sich dies schön veranschaulichen. Aus Faltungen können Texturen entstehen, im grösseren wie im Kleinen. Eines ist ihnen allen gemeinsam: «Falten bestehen aus Flächen, deren Kanten miteinander verbunden sind. So lassen sich Räume um- schreiben. Der Gegensatz zu Faltungen sind Strukturen, additive Systeme aus Stützen, Füllungen, Platten. An deren Anfang steht das Konzept.» Bauen mit Holz basiert auf Struktur. Daher sind Falten in Paul Knills Entwürfen trotz seiner Faszination dafür eher selten konstituierende Elemente. Für die Einfriedung des Landsgemeindeplatzes Trogen hat der Architekt die Mauer aus einer Faltung heraus konzipiert. Sie entwickelt sich um einen kleinen garten herum und produziert an einer Ecke einen kleinen Raum als Unterstand. Die auf der einen Seite raue, auf der anderen glatte Oberfläche wechselt am Knick und zeigt, dass Falten immer eine Innen- und eine Aussenseite haben.

Emil Müller

Ein Möbiusband hat das nicht: Es sieht zwar aus wie ein Band mit zwei Rändern, ist in Wirklichkeit nur ein einziger Rand in Form einer Acht. Und was aussieht wie die Fläche des Bandes, ist keine Fläche, weil sie dazu zwei Ränder haben müsste. Sie hat weder Oben noch Unten. Mathematisch gesehen ist das Möbiusband eine nicht-orientierbare Mannigfaltigkeit. Auch wenn die Falte hier

sogar im Wort vorkommt, wird es schnell kompliziert. Aber der Mathematiker Emil Müller beschreibt dieses gebiet der Mathe- matik so, dass es auch Laien verstehen kön- nen: «Mannigfaltigkeiten sind ein Spezial- gebiet der Topologie, dort gibt es keine Fal- ten und keine Ecken: Alles ist eine Kugel oder ein gegenstand mit Loch. Ein Möbiusband ist allerdings weder noch, weil es nicht orientierbar ist.» Und die Falten? Die gibt es an ganz anderer Stelle: «Die String-Theorie geht davon aus, dass wir in einem elfdimensionalen Raum leben. Sieben Dimensionen sind aber eingefaltet und dadurch nicht zu sehen. Manche sagen, das sei Humbug, weil man damit alles beweisen könne, wodurch gar nichts bewiesen sei.» Aber die Faltungen führen auch zu weit handfesteren Ergebnissen. Emil Müller erklärt das seit der Antike populäre Problem des Würfels, dessen Volumen verdoppelt werden soll: «Mit Zirkel und Lineal lässt sich die Verdopplung nicht konstruieren. Mit neun Falten allerdings lässt sich die Aufgabe lösen. Damit konstruiert man die dritte Wurzel von Zwei – ein kleiner Zaubertrick. Die Mathematik kennt viele solcher Zaubertricks.»

Obacht, Heft 17, 2013/13