Ästhetik statt Attacke

by Kristin Schmidt

Der Mann mit den Schnitten in der Leinwand: Das Museum Liner in Appenzell zeigt «Zeichen und Zeichnung» von Lucio Fontana in einer durch das Museo d’arte Mendrisio kuratierten Ausstellung.

Hieb, Stich, Schnitt – Lucio Fontanas ungewöhnliche wie innovative Art, die Leinwand zu bearbeiten, hat den Künstler berühmt gemacht. Seine «Concetti Spaziali» gelangten seit den 1960er-Jahren in zahlreiche wichtige Museen und Sammlungen weltweit. Doch zu diesem Zeitpunkt ist der 1899 geborene Künstler bereits über 60 Jahre alt. Was also passierte zuvor? Wie hat sich das Werk entwickelt? Auf welchen theoretischen und ästhetischen Grundlagen steht es?

Diesen Fragen lässt sich derzeit im Museum Liner in Appenzell nachgehen. Die Ausstellung «Lucio Fontana 1946–1960. Zeichen und Zeichnung» widmet sich einem fest umrissenen Zeitraum: 1946 erklärt Fontana im «Manifesto Bianco» den völligen Neubeginn der Kunstformen, und 1960 hat er mit den Leinwandschnitten den deutlichsten Ausdruck seiner Absichten gefunden. Dazwischen liegen Untersuchungen in verschiedensten Medien und auf diversen Formstufen, die alle ein Ziel haben: der Kunst den Raum zurückzugeben, und zwar nicht einfach dreidimensional, sondern durchaus kosmologisch gedacht.

Es ist weder Zufall noch zu übersehen, dass Fontana dabei immer auch den Barock und seine grossartigen Raumprogramme im Kopf hat. Besonders augenscheinlich wird dies in einer Installation, die unter Verwendung der Originalelemente von 1949 extra für das Museum Liner realisiert wurde, das «Ambiente spaziale a luce e nera»: In einem vollständig abgedunkelten Raum schweben mit fluoreszierenden Farben bemalte und mit Schwarzlicht angeleuchtete, riesige Pappmaché-Teile über Kopfhöhe. Der Betrachter wird entführt in einen Kosmos, der zugleich fremdartig und verspielt wirkt. Es existierten nur noch eine Zeichnung und eine Fotografie zu diesem Werk. Seine Umsetzung ist eines von vielen Beispielen für das Engagement und die Sorgfalt, mit denen diese Ausstellung erarbeitet wurde.

Immer wieder wurde Fontanas Behandlung der Leinwand als Angriff gelesen, als Demontage und Verletzung, doch die Ausstellung zeigt: Es geht nicht darum zu zerstören, sondern zu öffnen, zu erweitern, nicht um Negation, sondern um positive Energie.

Wenn etwa Leinwände beidseitig perforiert werden, ergeben die herausstehenden Stoffränder neue grafische Effekte. Oder wenn ein tiefblaues, mit Löchern übersätes «Concetto» von hinten angeleuchtet wird, sieht man plötzlich den Sternenhimmel funkeln: Das ist Ästhetik statt Attacke.

Mit diesem späten Werk (1968 stirbt Fontana) schliesst sich der Ausstellungsparcours. Zurück im ersten Raum fasst die dreiteilige «Chronologische Skizze der Werkentwicklung» alles Gesehene zusammen. Fontana liefert darin eine Art Grammatik seines Schaffens, hält die wichtigsten Schritte fest – das Schlüsselwerk der Ausstellung.

Ein Schlüsselwerk gibt es in der gleichzeitigen Ausstellung in der Kunsthalle Ziegelhütte nicht, denn hier stehen die «Sammlungsschätze» im Blickfeld.

Mit der Schenkung von über 1000 Liner-Werken kam 1998 auch ein grosszügiges Legat an Kunstwerken der klassischen Moderne und der Gegenwartskunst ins Haus, darunter Preziosen wie ein frühes Gemälde von Piet Mondrian oder Liebhaberstücke wie ein Stickbild Alighiero Boettis. Ernst Ludwig Kirchners Gemälde eines Schwingfestes gesellt sich zu einer Plastik von Hans Arp. Daneben gibt es Werke jüngerer Generationen, etwa ein Relief Beat Zoderers, ein Triptychon des Thuner Künstlers Dominik Stauch oder Objekte von Susanne Windelen, sowie internationale Klassiker der 1960er- und 1970er-Jahre.

Eine vielseitige Mischung also, die zeigt: Es muss nicht immer die korrekte Chronologie oder das stringente Thema sein, manchmal eröffnen gerade Seitenblicke spannende neue Perspektiven.