Sonja Hugentobler – Sensibles System, 2017

by Kristin Schmidt

Eine Vier, eine Vier! Oh nein, eine Sechs! Ein oder zwei Würfelaugen entscheiden übers Auf oder Ab. Glück hat, wer die 55 erreicht, mit der Wippe geht’s dann in einem Schwung bis zur 81. Aber Vorsicht bei der 109! Hier rutscht der Leiterwagen zurück zur 99. Es passiert viel bis zum Ziel und der Zufall dominiert: Beim Leiterlispiel entscheidet nicht die Leistung sondern das Würfelglück. Das freut die Einen und frustriert die Anderen – seit mehr als 100 Jahren schon. Das Spiel ist längst im kollektiven Gedächtnis verankert. Grosseltern haben es mit ihren Enkelkindern gespielt, und diese spielen es nun selbst bereits wieder mit ihren Kindern und Kindeskindern.

Sonja Hugentoblers Grossmutter konnte leider nie mittun. Sie war zu jener Zeit, als alle gemeinsam am Familientisch spielten, fast vollständig erblindet. Eine kleine Schwarzweissfotografie zeigt die Grossmutter inmitten einer Kuhherde stehend. Die Tasche der zierlichen Frau ist kariert. Helle und dunkle Felder im Wechsel, so wie beim Leiterlispiel. Visuell baut Sonja Hugentobler eine Brücke in die Erinnerung. Die Trogener Künstlerin hat auf ein Stück grundierte Leinwand ein Feldersystem gezeichnet. Die Linien sind mit Grafit von Hand aufgetragen. Die Strichführung ist lebendig, konzentriert, sucht einen geraden Weg, verengt und verdichtet sich. An manchen Stellen gehen die Linien über die Grenzen der Felder hinaus, bahnen sich noch ein Stück weiter, deuten das Ausschnitthafte des Werkes an. Auch die helle gelbe Farbe bleibt nicht innerhalb der Linien gebannt. Zart lasierend aufgetragen geht sie über das angedeutete Feld hinaus, öffnet den Raum in eine unbestimmte Weite.

Hier ist die Malerei das Spiel. Sie lässt sich nicht begrenzen, sie ist schlicht und doch reich an Nuancen, sie geht von einem System aus und bleibt doch ungebunden. Das Leiterlispiel liefert die formale Ausgangslage. Es ist vage präsent im Trägerkarton, in den rechteckigen Feldern, den Doppellinien dazwischen und im Wechsel von gebrochenem Weiss und Gelb. Anfang und Ziel, im Spiel die wichtigsten Felder, haben sich verflüchtigt, die Ziffern und die nach oben oder nach unten führende Bewegung, symbolisiert durch niedliche Bildchen, haben der Zeichnung und der Malerei das Feld überlassen. Es geht nicht mehr darum zu gewinnen oder zu verlieren, dem Würfel die Entscheidung zu überlassen. Sonja Hugentoblers Arbeit löst sich vollständig von der Spielvorlage. Im neuen Feldersystem ist für vieles Platz, auch für die Tasche der geliebten Grossmutter.

Sonja Hugentobler wurde 1961 in Chur geboren und lebt und arbeitet als freischaffende Künstlerin seit 2006 im Palais Bleu in Trogen.

Auftrittstext, Obacht 27, Nr. 2/2017