Der Tick-Tack-Takt

by Kristin Schmidt


Jedes Ereignis hinterlässt einen zeitlichen Abdruck in uns. Aber auch die ereignislosen Zeiten haben es in sich. Das Vögele Kultur Zentrum untersucht mit „alles zur zeit. Über den Takt, der unser Leben bestimmt“ die Facetten von Rast und Unrast.

„Oh weh, oh weh, ich werde zu spät kommen!“ Das weisse Kaninchen mit der Taschenuhr eilt durch Lewis Carrols Erählung „Alice im Wunderland“.  Immer zu spät, immer unter dem Druck der viel zu schnell verstreichenden Zeit. Halt! Verstreicht die Zeit wirklich von alleine? Wo kommt dann der Zeitdruck her? Wie fühlt sich Ereigniszeit an im Gegensatz zur abstrakten Uhrzeit?

Die aktuelle Ausstellung im Vögele Kultur Zentrum geht der Zeit und der Zeitwahrnehmung auf den Grund. Der Einstieg ist passend gewählt: ein Wartesaal. Schmucklos ist er, kein Bild, keine Reklame zieht die Aufmerksamkeit auf sich, nicht einmal eine Uhr. Stattdessen zählt die Zeitanzeige des Künstlers Gianni Motti 5 Millionen Jahre rückwärts. Warten, warten, aber nicht bis zum hypothetischen Ende der Welt, sondern nur so lange bis das rote Licht auf grün wechselt und den Eintritt in die Ausstellung frei gibt. Das Zeitgefühl ist geschärft, die Sinne sind aufs Thema eingeschworen.

„Nur wer wartet, erwartet“ – das erste der sechs Kapitel lotet das Potential der Zwischenzeiten aus und feiert die Langsamkeit, besonders treffend mit der Liveschaltung in die Burchardikirche in Halberstadt. Dort wird ein Orgelstück von John Cage gemäss dem Komponisten so langsam wie möglich aufgeführt und wird 639 Jahre dauern.

Zu viel Muse kommt allerdings nicht auf, denn es kracht immer wieder. Der Moment drängt sich ins Bewusstsein, illustriert mit einer Arbeit von Ueli Berger: in kurzen Abständen fällt ein Schlagzeugstock auf eine Trommel. In den Intervallen wird die Zeit fassbar, aber auch in der Abfolge der Ereignisse. Sie ist der Gegensatz zur Gleichzeitigkeit. Aber selbst was synchron aussieht, ist es nicht unbedingt, so etwa in Roman Signers Fotoserie „gleichzeitig“. Die automatisch ausgelösten Kugeln fallen unterschiedlich schnell in den am Boden liegenden Tonklumpen.

„alles zur zeit“ punktet nicht nur mit sinnreich ausgewählten künstlerischen Arbeiten, sondern auch mit kulturhistorischen Objekten. So ist etwa ein französischer Revolutionskalender ausgestellt – wer die Macht hat, bestimmt auch über die Zeit. Die Zeit festzuhalten gelingt aber nur bedingt: Alte Speichermedien wie DAT-Kassetten oder Lochstreifen sind zu einem Vanitas-Stillleben unserer Zeit arrangiert. Nur wenige Schritte weiter aktiviert eine Duftstation ein anderes Speichermedium: Geruchssinn und Gedächtnis arbeiten aufs Beste zusammen. So tauchen wir dank Sonnencremegeruch in längst vergangene Sommer ein.

Jede Zeit hat eine Vergangenheit und eine Zukunft. Wie können wir letztere gestalten? Was aus ersterer lernen? Ein nachhaltiger Umgang nicht nur mit der Zeit, sondern auch mit den Ressourcen kann nicht oft genug gefordert werden. Eindrucksvoll zeigt Cornelia Hesse-Honegger die Deformation von Insekten im Umfeld von Atomkraftanlagen, auch ohne Havarien. Ihre langsam entstandenen, sorgfältig durchgearbeiteten Aquarelle sind bereits für sich genommen ein wertvoller Kommentar zu Zeit. Damit verweisen sie auch auf den Aspekt der Eigenzeit, auf ein Dasein abgekoppelt von der Uhr. Ob das Leben als langsam oder schnell empfunden wird, hat ohnehin nichts mit der Zeitmessung zu tun. Auf einer der gelben Wissenstafeln in der Schau ist zu lesen: „Wer auf ein langes Leben zurückblicken möchte, sollte so oft wie möglich aus der Routine ausbrechen.“  Eine sinnvolle Möglichkeit dafür bietet die Fahrt zur Zeitausstellung in Pfäffikon.