Ulrike Kristin Schmidt

Gesammelte Texte

Voyeure in der Sommerhitze

«17°» heisst die Doppelausstellung bei Paul Hafner. Der Titel könnte auch lauten: Was Sie schon immer über Damenhandtaschen wissen wollten, aber nicht zu fragen wagten.

In der Sommerhitze verschwimmen die Konturen der Landschaft; wenn die Luft über heissem Asphalt aufsteigt, flimmert es vor Augen – einen ähnlichen Effekt lösen Pascal Seilers Gemälde aus, die gemeinsam mit Werken von Carlo Schmidt ausgestellt sind. Der Ausstellungstitel «17°» verweist damit kaum auf die warme Jahreszeit, eher auf die tatsächliche Temperatur in den Räumen der Galerie, doch die Bilder Seilers tragen den Sommer in sich. Auf den ersten Blick muten sie wie ungegenständliche Farbkompositionen an. Feine, horizontale Linien reihen sich in Pastelltönen aneinander.

Aber mit dem richtigen Betrachterabstand tauchen inmitten der Streifen plötzlich Landschaften auf. Sie lassen sich kaum fixieren und hypnotisieren gleichzeitig das verwirrte Auge. Es sind Fantasielandschaften – oder das Appenzellerland -, über die Seiler einen dichten Linienteppich legt. In regelmässigen Abständen geben schmale Lücken den Blick auf den darunter liegenden Naturalismus frei. Das dynamische Flimmern resultiert nicht nur aus diesem Kontrast, sondern auch aus der Farbgebung der Rasterstruktur. Komplementärtöne sind nebeneinander gesetzt, kräftigere Farben konkurrieren mit zartem Grün, Blau oder Gelb. Darüber hinaus variiert in einem Gemälde die Streifenbreite und sorgt für zusätzliche Irritationen. Seiler ist nicht nur Maler. Paul Hafner zeigt neben den Gemälden ein Objekt des 1965 geborenen Schweizers: einen überdimensionierten, weiss gestrichenen Fingerring mit künstlichen Nelken statt eines Juwels. Die Skulptur wirkt isoliert im ausgestellten ¤uvre des Künstlers und beeinträchtigt mit ihrer vordergründig sentimentalen Aussage den angesichts der klar komponierten Gemälde gewonnenen positiven Eindruck von den Gestaltungs-ideen Seilers. Allerdings ist der Ring hier das Bindeglied zwischen seinen und Carlo Schmidts Werken. Direkt daneben wurde eine unregelmässig texturierte Fläche direkt auf die Wand gebracht. Was wie eine rein geometrische Form ohne gegenständliche Bezüge daherkommt, birgt einen romantisch-sentimentalen Gedanken.

Carlo Schmidt, 1958 geboren, ebenfalls Schweizer, schlägt vor, persönliche, starke Emotionsträger pulverisieren und auf die heimischen Wände übertragen zu lassen: das Lieblingsstofftier, der Brautstrauss, die Kinderwiege, die Ehefrau oder die Stelle einer Wiese, auf der sich ein Paar liebte. Schmidt macht Dinge sichtbar, die andernfalls verborgen blieben. Stets geht es dabei um die Erweiterung des Erfahrungshorizontes, gepaart mit einer Portion Voyeurismus. So auch, wenn er den Galeriebesuchern ein Nachtsichtgerät zur Ausleihe anbietet oder Passantinnen bittet, ihre Handtaschen zu entleeren, um Behältnis und Inhalt im Kunstkontext ausstellen zu können. Der Dame Handtasche ist ein von mysteriösen Ahnungen umwobenes Thema. Hier wird das Geheimnis nun gelüftet und der Betrachter staunt über mehrere leere Zigarrettenpackungen, Unmengen von Süssigkeiten oder Hausschlüssel in Plastiktüten und fragt sich, ob es nicht schöner gewesen wäre, weiterhin von intimen Dingen in Damenhandtaschen nur zu träumen. «17°» präsentiert zwei Künstler, die zwar zusammen arbeiten, aber nur wenige Berührungspunkte haben, in einer leisen, unaufgeregten Ausstellung, die bereits dadurch im Grösser, Lauter, Bunter des Kunstbetriebs auffällt, obgleich sie nur wenig Überraschungen zu bieten hat.

Verhaltensforschung mit der Kamera

Alkoholiker benehmen sich auffällig, verlieren die Kontrolle, zeigen Gefühle in grosser Intensität. Gillian Wearing hat sie zum Sujet von Videoarbeiten gemacht, die jetzt im Kunsthaus Glarus ausgestellt sind.

Alkoholismus wird oft als Randgruppenphänomen zur Seite geschoben, selten nur ist er über Selbsthilfegruppen hinaus ein Thema. Wenn Betroffene heftig und enthemmt Aufmerksamkeit beanspruchen, blickt man lieber weg. Nicht so die britische Künstlerin Gillian Wearing. Sie konzentriert sich auf die Andersartigkeit der Alkoholiker, ihr unangepasstes, herausforderndes Verhalten.
Das Kunsthaus Glarus zeigt unter dem Titel «Trilogy» vier ihrer Arbeiten aus den Jahren 1998 bis 2000. Im Zentrum der Ausstellung steht die grossformatige, dreiteilige Videoprojektion «Drunk», 1999. Aus einem Filmshooting mit Strassenalkoholikern 1997 im Studio der Künstlerin entwickelte sich eine mehrjährige Zusammenarbeit mit einigen der Beteiligten. Das Schwarzweissvideo «Drunk» entstand in einem leeren, weissen Raum, in dem die Gefilmten völlig frei agieren konnten. Das soziale Umfeld der Alkoholiker bleibt ausgeblendet. Sie handeln losgelöst von einem erkennbaren Kontext als Menschen in einem universellen, zeitlosen Raum. Psychologische Phänomene wie Enthemmung, Kontrollverlust, Primärinstinkte und die Intensität der Gemütszustände rücken in den Vordergrund. Wearing thematisiert nicht das persönliche Schicksal ihrer Akteure. Fern von dokumentarischem Interesse bleibt immer sichtbar, dass die 1963 in Birmingham geborene Künstlerin eingreift, manipuliert, interpretiert und verändert. Sie zeigt in ihren Arbeiten Abläufe rückwärts, montiert Endlosschleifen oder lässt in «Prelude» (2000) eine Off-Stimme über verstorbene Zwillingsschwester im Bild sprechen. Für die Arbeit «I love you» engagierte sie Schauspieler, die den Heimweg zweier angetrunkener Paare mit kleinen Veränderungen achtmal in Szene setzen. Wearing steuert die Blicke auf Menschen, die durch ihr Verhalten die festgelegten Normen des Zusammenlebens durchbrechen und so das Gefüge des Miteinanders stören. Stets herrscht durch die Bearbeitung des Materials und durch das Bewusstsein der Gefilmten um die Existenz der Kamera eine Distanz, die allerdings vom unkontrollierten Gebaren der Akteure mühelos überbrückt wird. Zwar erzeugt der Verzicht auf Farbe und Mobiliar eine irritierende Ästhetisierung, dennoch drängt das (selbst)zerstörerische Potenzial der Vorgänge den Betrachter zu grundsätzlichen Reflexionen zum Thema Alkoholismus. So auch in der Fotoserie «Theresa» (1998). Die Künstlerin bat die verschiedenen Partner Theresas um kurze Stellungnahmen zu ihrer Lebensgefährtin, die sie direkt neben den Fotografien der Paare präsentiert. Hass, Liebe, Ekel, Abscheu und Bewunderung liegen hier sehr nahe beieinander. Die Arbeit verstört und berührt zugleich. Trotz des Verzichts auf dokumentarische Neutralität und abseits ihrer künstlerischen Untersuchungen menschlicher Verhaltensphänomene lassen sich Wearings Werke als deutliche und engagierte Kommentare zu aktuellen Konfliktthemen lesen.

Verbrämte Brutalität

Gewalt ist beängstigende Realität. Wie kann die Kunst damit umgehen, ohne die Faszination von Gewalt zu zelebrieren? Diese Frage stellt das Museum Bellerive Zürich, in der aktuellen Ausstellung.

Gewaltbilder gehören längst zu unserem multimedialen Alltag. Sie erreichen uns in Fernsehdokumentationen aus Kriegsgebieten, aber auch in Spielfilmen oder Romanen: abstossende Bilder, denen wir uns dennoch kaum entziehen können oder wollen.
Zunehmend versuchen Künstlerinnen und Künstler, mit ihren Werken diese Ambivalenz, die Formen und Wirkungsweisen von Gewaltbildern zu ergründen. Der erste Blickfang im Zürcher Museum Bellerive, das in seiner aktuellen Ausstellung neun Werke zum Thema «Gewalt in der Gegenwartskunst» präsentiert, ist allerdings kein Kunstwerk. Maik Bischoff aus Zürich zeigt eine Sammlung von über hundert Spielzeugpistolen. Sie können von den Besuchern benutzt werden und regen im Kontext der Ausstellung die Diskussion über den Einfluss von Kriegsspielen auf die kindliche Psyche an. Ähnlich die Fotoserie «Guns» des Franzosen Yves Trémorin: Aus dem Dunkel scheinen effektvoll beleuchtete Teile verzierter Waffen auf, nur dass es sich bei diesen Preziosen auch um billige Spielzeugwaffen handelt.

Beeindruckend die Arbeit der Amerikanerin Lucinda Devlins: In «Omega Suites» lichtet sie Hinrichtungsstätten in den USA ab. Die Bilder sind voll kühler, kalkulierter Schönheit ohne Hinweise auf die Brutalität dieser juristisch legitimierten Tötungsmethoden. Dennoch erschrecken die Bilder und zwingen durch ihre direkte Fokussierung auf das Todesinstrument, Position zur Todesstrafe zu beziehen. Im Gegensatz zur Sterilität der «Omega Suites» steht der Zyklus «Sectarian Murder» des gebürtigen Belfasters Paul Seawright. Orte von Gewaltverbrechen in Nordirland fotografiert er mit feinem Gespür für Bildausschnitt, Licht- und Farbstimmungen und fügt die dazugehörigen Zeitungsmeldungen hinzu. Auch hier lassen die Bilder, ohne dass Gewalt sichtbar wird, ein tiefes Unbehagen zurück. Im Obergeschoss des Museums erwarten den Besucher die Installation «Sang» der Lausanner Künstlerin Elise Gagnebinde, eine Blutlache aus Kunststoff mit unheimlicher, weil nicht sichtbarer Ursache, das «Kit pratée» des Franzosen Éric Potempa, ein Piratenutensil für zeitgenössische Bilderstürmer, und drei Videoprojektionen. Der Zürcher Christoph Draeger schneidet in «Feel Lucky Punk?» Gewaltszenen aus Kinofilmen und nachgespielte Sequenzen dieser Filme ineinander. Ergebnis ist ein kurzweiliges Spektakel, das die Faszination an der Gewalt nicht leugnet.

Einen ähnlichen Ansatz wählt der französische Künstler Alexandre Périgot in «Kill Kill Choréographie», wenn er Freunde bittet, ihren eigenen Tod zu spielen, der dann oft an Spielfilmtode erinnert. Im Remake steckt in beiden Fällen eine unfreiwillige Komik. Hingegen wächst der Ernst im letzten Raum der Ausstellung zu bedrohlicher Intensität heran. Breda Beban, geboren im ehemaligen Jugoslawien, verknüpft die Aufnahme eines Plattenspielers und ein melancholisches Lied von Chet Baker mit Aufnahmen elegant über den Himmel ziehender Kampfflugzeuge, an deren Ende ein Bombenabwurf steht. Der stimmungsvolle Beginn endet im Bewusstsein um den Verlust vieler Menschenleben. Harmonie und Entsetzen überlagern einander. Dieser Aspekt der Gewalt, die Gleichzeitigkeit von Faszination und Grauen, zieht sich wie ein roter Faden durch die ausgestellten Werke. Die Zusammenstellung im Museum Bellerive ergibt ein sehr homogenes Bild, das aber eine Facette der Gewalt und ihrer Darstellungen vermissen lässt: diejenige, die erschüttert, erschreckt und anwidert, ohne dabei ansprechende Reize zu entfalten.