Ulrike Kristin Schmidt

Gesammelte Texte

Farbe in der dritten Dimension

Ursus A. Winiger und Elisabeth Kaufmann-Büchel präsentieren ihre Arbeiten in der aktuellen Ausstellung des Künstlerverbandes Visarte-Ost im Katharinen. Beide beschäftigen sich mit Farben und Flächen im Raum.

Zum sechsten und letzten Male präsentiert Visarte-Ost im Rahmen der Ausstellungsreihe «Visarte-Ost performs Visarte-Ost» zwei durch das Los bestimmte Künstler im Katharinen. Den Raum teilen sich diesmal Elisabeth Kaufmann-Büchel und Ursus A. Winiger. Beide zeigen je eine unabhängig voneinander entwickelte Arbeit. Dennoch wirken die Werke wie zwei in Form und Ausdruck verschiedene Thesen zu ein und demselben Themengebiet. Kaufmann und Winiger widmen sich der Farbe und Fläche im Raum und setzen dreidimensionale Körper in den Kontrast zu linearen Strukturen.

Die in Liechtenstein lebende Künstlerin, seit 1994 Mitglied im Visarte Berufsverband Visuelle Kunst, bewegt sich mit ihrer Malerei im Bereich des Ungegenständlichen und beschränkt sich dabei nicht auf das Tafelbild. Im Katharinen installierte sie zahlreiche Holzplatten in vielfältigen Farben und bewegt sich dabei im Spannungsbereich zwischen Skulptur, Relief und Gemälde. Die einzelnen Tafeln liegen in zwei Ebenen auf kleinen, von oben nicht sichtbaren Sockeln, und scheinen dadurch über dem Boden zu schweben. Dadurch und durch die unterschiedliche Tönung und Struktur verleiht Kaufmann ihrer Arbeit einen harmonischen Rhythmus. Reizvoll wirkt dabei das Spiel zwischen zufälligen Texturen wie der faserigen Oberfläche einer lasierten Pressspanplatte und bewusst erzeugten Strukturen, etwa bei den mit Streifen bemalten Teilen. Diese komplexe Gestaltungsidee wird von Kaufmann optisch durch die Kanten der einzelnen Elemente gerahmt. Sie wirken dunkler und geben dem Ganzen eine gliedernde Kontur. Den optischen Gegensatz dazu bildet die Arbeit Ursus A. Winigers. Denn sie wird wesentlich durch die weissen Konturen dominiert. Der seit 1967 freischaffend tätige Rapperswiler Künstler, der seit 1971 mit über vierzig Arbeiten eine beeindruckende Werkanzahl für Kunst am Bau im Kanton St. Gallen geschaffen hat, zeigt im Katharinen einen freistehenden, vierseitigen Holzpfeiler. Die Aussenhaut wird durch einzelne Leisten gebildet, die nur an jeweils einer Seite farbig bemalt sind. Zwischenräume und Seiten sowie die abgeschrägten Kanten sind weiss gestrichen.

Winiger entwickelte aus dem Kanon der Grundfarben heraus ein System, dass sich in seiner Gesamtheit erst im Umschreiten der Arbeit erschliesst. Benachbarte Farben gehen ineinander über, Kontraste werden geschaffen und teilweise scheinen die Töne in den weissen Zwischenräumen der Balken zu verschwinden. Der Betrachter wandert von Blau zu Grün, von da zu Rot und Gelb, kommt zu einer Seite, die alle Farben vereint, und schliesslich dorthin, wo alle Farben in Weiss gebrochen und von Schwarz überdeckt werden. Nie sind mehr als zwei Seiten sichtbar, was geradezu zur Bewegung herausfordert.

Während Kaufmanns Werk durch die sonoren, intuitiv gesetzten Töne einen angenehmen Wohlklang erzeugt, der das Auge fesselt und die Gedanken anregt, konfrontiert uns Winiger mit einem eher wissenschaftlich orientierten Zugang zur Farbe. Ähnlich den Vertretern der konstruktiven Kunst, versucht Winiger Farbe und Formen auf der Grundlage wissenschaftlicher Recherche zu systematisieren und malerisch umzusetzen. Dass das Ergebnis dabei allzu exakt und trocken wirkt ,vermeidet er teilweise durch den bewussten Einsatz der natürlichen Unregelmässigkeiten des Holzes. Zwar fällt es Winigers streng analytischen Herangehensweise im Vergleich zur lebendig und ausdruckstark wirkenden Arbeit Kaufmanns schwerer zu überzeugen, dennoch ergänzen sich beide Positionen gerade in der Zusammenschau im Katharinen auf sehenswerte Art und Weise.

Stadt, Land, Eis

Doug Aitken inszeniert im Kunsthaus Bregenz fesselnde Bilder von urbanem Leben und unberührter Landschaft.

Ein. Aus. Ein. Aus. Ein. Gleichmässig atmet es im Erdgeschoss des Kunsthauses Bregenz. Wo die nur sparsam mit Kunstwerken bestückte Eingangshalle den Besucher begrüsste, ist nun eine beinahe intime Wohnzimmeratmosphäre entstanden. Mit runden Sitzpodesten unter gläsernen Lautsprecherkuppeln lädt Doug Aitken dazu ein, innezuhalten und zu lauschen. Ein, aus, ein, aus. Mit einem Male wird der zu hörende Luftstrom immer schneller ausgestossen, stoppt plötzlich, um sich zu einem ekstatischen Rhythmus zu steigern. Der Raum selbst scheint durch das Geräusch zu leben. Doch obgleich es einen mit seiner Vitalität fesselt, drängt die Neugier in die oberen Etagen der Räume.

Denn die vergangenen Ausstellungen mit Künstlern wie Douglas Gordon, Pierre Huyghe oder Olafur Eliasson haben gezeigt, dass das Kunsthaus Bregenz immer wieder mit atemberaubenden Inszenierungen einer jüngeren Künstlergeneration aufwartet. Zu dieser gehört auch Doug Aitken. Geboren 1968 in Kalifornien, ist er von der Film- und Musikstadt Los Angeles geprägt. Urbanes Leben, die Situation des Einzelnen im geschäftigen Treiben seiner Umwelt, die Randgebiete und blinden Flecken der Städte sind ebenso seine Themen wie die Weite unberührter Landschaft. Trotzdem Aitken im Videofilm sein bevorzugtes Ausdrucksmittel gefunden hat, wäre es zu kurz gegriffen, ihn als Videokünstler einzuordnen, hat er doch den Umgang mit dem Medium entscheidend bereichert. Er erweitert den eigentlichen Projektionsraum zu einer Installation mit kalkulierten architektonischen Eingriffen. Die Zweidimensionalität der Leinwand wird aufgehoben, der Betrachter ist umgeben von riesigen beweglichen Bildern. Ununterbrochen ändert sich die Zeit- und die Raumwahrnehmung. So auch im ersten Stock des Kunsthauses. Inmitten eines an einer Seite offenen Kreuzes aus Leinwänden wandert der Blick zwischen drei Projektionen hin und her. Industrie, Politik, Konsum, Reisen, Arbeit und soziale Ordnung: Die Bilder wiederholen, überschneiden sich, werden gegeneinander ausgespielt. Ihr evokatives Potenzial steigert sich durch die ungewohnten Zusammenklänge, ihren schnellen Wechsel. Hier kommt die Musikvideogeneration auf ihre Kosten. Ein anderes Szenario bietet sich ein Stockwerk höher. Die Installation wirkt leichter, offener als die eben gesehene, die Bilder ruhiger, gewaltiger.

Sechs Leinwände fügen sich zu zwei Bogen, die durchschritten und umkreist werden können. Von allen Seiten bietet sich ein überwältigender Blick auf einen Gletscher. Es ist ein Rieseln, Tropfen, Reissen und Splittern. Die Sonne brennt, das Eis schmilzt. Den Kontrast zu diesem beinahe immateriellen Panoramabild erwartet den Betrachter dann im obersten Geschoss. Wieder rieselt und tropft es, doch in einer monumentalen Architekturkulisse versammeln sich die Rinnsale nach und nach zu einem Wasserfall. Durch das in einem Holzzylinder geschlossene Rundbild fesselt den Betrachter ein noch stärkerer Panoramaeffekt. Aitken versteht sich auf perfekte Inszenierungen und hat im Kunsthaus Bregenz erfahrene Helfer auf diesem Gebiet zur Seite. Wo in der Vergangenheit Eisschiffe schmolzen oder Filmbilder in nachtschwarzer Umgebung ihr suggestives Potenzial entfalteten, findet er sich in guter Gesellschaft. Einer Gesellschaft allerdings, deren Arbeit ob ihrer Perfektion und Wirkungskraft stark nachklingt und präsent bleibt. Aitken muss sich mit seinen Vorgängern messen lassen; er schafft es, dass trotz inhaltlicher und gestalterischer Parallelen keine Langeweile aufkommt.

Mann und Maus im Strudel

Das ganze Spektrum der Art brut: Die neue Ausstellung im Museum im Lagerhaus zeigt Arbeiten von rund dreissig Künstlern aus der Sammlung von Geneviève Roulin.

Geneviève Roulin näherte sich der Kunst von zwei sehr unterschiedlichen Seiten. Zum einen besass sie als Kuratorin und stellvertretende Direktorin der Collection de l’Art brut Lausanne einen wissenschaftlich fundierten und institutionalisierten Zugang zur Kunst der Aussenseiter. Auf der anderen Seite war die 2001 im Alter von knapp 54 Jahren Verstorbene selbst leidenschaftliche Kunstsammlerin.

Sie verliess sich dabei ganz auf ihr Gefühl; unbefangen kaufte sie, was ihr gefiel, ohne sich um Kategorisierungen oder Katalogisierungen zu kümmern. Oft entwickelten sich aus ihren beruflichen Kontakten mit Künstlern langjährige Freundschaften, die in grossen Werkgruppen in ihrer privaten Sammlung resultierten.

So zeigt das Museum im Lagerhaus gleich zwölf Arbeiten Edmond Engels. Der Künstler übersetzt alltägliche Szenen in ein Liniengespinst, das in einen wilden Strudel verwandelt schon mal Mann und Maus mit sich reissen kann. Weisse Linien über einem erdigen Hintergrund definieren Figuren, die sich zaghaft aufeinander und auf Architektur beziehen. Einen anderen Aspekt aus dem Schaffen des gebürtigen Franzosen mit Wohnsitz am Genfersee zeigen seine Silhouettenbilder, beispielsweise die Katze, in deren Bauch sich zwei aufgeweckte Mäuslein tummeln. Gemälde werden hier zu Skulptur und umgekehrt. Engel macht aus zwei Gattungen eine, und doch behält jede die ihr eigene Aussagekraft. Nur schwer lässt sich ein grösserer Kontrast vorstellen als zwischen diesen Bildern und den Grafiken Rosemarie Koczys, deren Werk das Lagerhaus bereits früher vorgestellt hat. Während Engels Gemälde von versponnenen Traumwesen bevölkert werden, blicken uns bei Koczy Gestalten mit riesigen schwarzen Augen traurig an. Sie scheinen allen Schmerz der Welt erfahren zu haben. Nicht anders als die 1939 geborene Künstlerin selber: Koczy verbrachte ihre frühesten Lebensjahre in den Vernichtungslagern der Nationalsozialisten und zeichnet nun gegen das Vergessen an. So unterschiedlich die Werke, so deutlich der rote Faden in Roulins Sammlung: Viele Bilder werden von gross ins Format gesetzten Menschen, Tieren oder Fabelwesen bevölkert. Da sind die archaischen Gestalten bei Michael Nedjar, die vieläugigen Menschen in militärischer Strenge von Ignacio Carles-Tolrà oder der von brustwarzenähnlichen Gebilden umschwirrte Frauenakt Anne Loutrels. Einen anderen Schwerpunkt bilden die zu ornamenthafter Dichte addierten Figuren. Marco Raugei strickt grafische Teppiche aus Katzen und Mäusen, François Burland kombiniert Versatzstücke unterschiedlicher Epochen und Kulturen in ekstatischem Getümmel, dem er mit einem dynamischen Liniennetz Halt gibt, und Christine Sefolosha verbindet Mensch und Tier zu einem flammenden Dschungel aus Leibern. Die Negativform des einen wird zur Positivform des anderen. Während hier das Einzelne nur in der Gesamtheit existiert, gelingt es mit der Präsentation der Sammlung Roulin, die unterschiedlichen Positionen so zu verbinden, dass die individuellen Aussagen ihre Gültigkeit bewahren.

Bereichert wird die sorgfältig zusammengestellte Schau durch einen Ausschnitt aus Curt Burgauers Arsenalen. Der Tod des Kunstförderers und Mitbegründers des Museums im Lagerhaus liess die Präsentation nun zu einer kleinen, aber ausdrucksstarken Gedächtnisausstellung werden mit Werken von Hans Krüsi, Niklaus Wenk und anderen.

Körperräume

Übersicht und Nähe im Werk von Josef Felix Müller

Nach der Gemeinsamkeit zwischen Bergsteigern und Künstlern befragt, würde wohl mancher erst zögern. Für Josef Felix Müller jedoch liegt es auf der Hand. Beides sind Grenzgänger. Sie beschreiten neue Wege und haben mit Widerständen zu kämpfen. Der Vergleich kommt nicht von ungefähr, setzt doch der St. Galler seit einiger Zeit seine Leidenschaft für die Berge künstlerisch um. Bei der mehrmonatigen Arbeit an seinen grossformatigen Gemälden kommt er den Gipfeln so nahe wie sonst nur ein Alpinist und kennt schliesslich jedes Detail, jede Senke, jeden Felsspalt. Ausgangspunkt der Bilder sind Luftaufnahmen, über die der Künstler ein Raster legt. Dies hilft ihm, die Vorlage detailgetreu in ein grösseres Format zu übersetzen. Schicht um Schicht wird aufgetragen, bis jedes Detail stimmig und optisch scharf wiedergegeben ist.

In Müllers Atelier im St. Galler Westen fühlt sich der Besucher wie auf einer Aussichtsterrasse mit schneebedeckten Gipfeln ringsum. Gleissend blauer Himmel wölbt sich über Bergpanoramen. Scharfe Schatten zerschneiden das Weiss des Schnees, das an manchen Stellen bräunlich, ocker oder grünlich verfärbt ist. Nur schwer lässt sich angesichts dieser Gemälde erahnen, dass die überlebensgrossen Holzskulpturen, die das Erdgeschoss des Ateliers bewachen, von derselben Hand stammen: Hier die naturgetreue Wiedergabe eines in der Realität unendlich viel grösseren Gebirges, dort die durch die Arbeit mit der Motorsäge vereinfachte und vergröberte Darstellung der Menschen.

Müller ist gepackt von einer neuen Lust an der Malerei. Doch wer in seinem Schaffen weit genug zurückblickt, entdeckt, dass der Künstler eigentlich als Maler begonnen hatte. Nachdem der 1955 in Eggersriet Geborene eine Ausbildung zum Stickereientwerfer absolviert hatte und 1978 zu den Mitbegründern eines Ateliers für Textilentwürfe gehörte, wandte er sich der Kunst zu. Nach den Zeichnungen alltäglicher Dinge in den späten Siebzigern entstanden 1980 die Übermalungen. Die letzte Schicht dieser Bilder gibt nichts mehr preis vom Darunterliegenden, menschliche Figuren halten verdeckt, was in den Situationen zuvor geschah. Anders in den grossformatigen Gemälden der frühen Achtzigerjahre: In drei für die Ausstellung FRI-ART 1981 gemalten Bildern verdeckte Müller erstmals seine Visionen nicht mit anderen Motiven und löste damit einen Skandal aus. Vorwürfe der Blasphemie und Pornografie wurden laut. Die Justiz verkannte, dass Müllers Intention nicht die Provokation war, sondern er seine Bilder dem Menschen und seinen Entdeckungs- und Schöpfungsprozessen widmete. Entsprechend reduziert sind die von Aktfiguren bevölkerten Bilder. Vor monochromer Kulisse agieren Frauen und Männer mit- und gegeneinander. Erst nach den Fribourger Ereignissen fühlte sich Müller herausgefordert, die Hintergründe für die juristischen Aktionen künstlerisch zu ergründen. Den folgenden Bildern haftet eine starke sexuelle Komponente an. Mensch und Tier finden sich in mystischen, triebhaften Verstrickungen, deren Ausgangspunkt doch wieder die Sucht und Suche nach Leben ist. Wenig später setzt Müller dies schliesslich in seinen Holzskulpturen um.

Während in den Gemälden dynamische Leidenschaft auf das Sujet beschränkt blieb und die Malweise verhalten anmutet, sind die Skulpturen auch formal ein Ausdruck ungebändigter Schaffensimpulse. Müller entriss mit der Motorsäge seine Skulpturen förmlich dem Stamm. Die raue Oberfläche, das gespaltene Holz und die zersplissenen Fasern künden von der Gewalt der Arbeit. Die entstandenen Körper sind schematisiert, ihre Glieder grob und die Gesichter auf ihre Hauptmerkmale reduziert. Umso unmittelbarer wirken die verletzten Leiber mit ihren fehlenden Armen oder Köpfen. Erneut steht der seinen Instinkten und Lüsten ausgelieferte Mensch im Mittelpunkt. Beispiele dieser bildhauerischen Arbeit sind die Figurengruppen in der Abdankungskapelle im Friedhof Feldli St. Gallen sowie das dreiteilige Werk für den Ergänzungsbau der HSG. Zu Beginn der Neunzigerjahre gibt es eine weitere Zäsur. Müller beginnt seine Skulpturen zu glätten bis hin zu makellosen Oberflächen. Daneben entstehen weiterhin Gemälde. Hier kehrt Müller zur Methode des Schichtens zurück. Farblasur wird über Farblasur gelegt. Den Skulpturen und Bildern jener Zeit ist eines gemeinsam: Der Künstler rückt seinem Sujet näher und näher. Tränen und innere Organe sind die Themen seiner Skulpturen, Hautoberflächen und Grossansichten des menschlichen Körpers die Inhalte seiner Malerei.

Diese Thematik setzt sich fort bis heute, auch wenn es an den Bergbildern vielleicht nicht sofort einleuchten will. Doch Müllers Ansatz ist anschaulich: «Die Berge sind für mich wie eine Ausdehnung des Körpers. Ich kann mich als das Ganze empfinden und gleichzeitig als ein winziger Teil dieses Systems.» Gleichzeitig eröffnen die Bilder geistigen Raum. Der Künstler versenkt sich malend in ihnen, sodass das Motiv in den Hintergrund tritt und Überlegungen zur eigenen Befindlichkeit und zur Kunst die Gedanken ausfüllen. Die Gemälde sind nicht allein Abbild eines Berges, sondern Aussagen über Struktur und Bedingung des Lebens. Damit ist Müller seinem Leitgedanken trotz aller scheinbaren Brüche treu geblieben. Zwar schlug er formal neue Wege ein, doch er vergleicht dieses Vorgehen treffend mit dem eines Architekten, der auf jede neue Fragestellung eine neue Antwort finden muss. Es bleibt also spannend, wie seine zukünftigen künstlerischen Lösungen aussehen. Wenn Josef Felix Müller aber heute den Jahrespreis für bildende Kunst 2002 von der St. Gallischen Kulturstiftung erhält, dann nicht nur für ein vielseitiges und relevantes künstlerisches Œuvre, sondern auch für sein Engagement in der Kunstvermittlung. Als Gründer des Vexer-Verlages und Mitbegründer der Kunsthalle St. Gallen stellt Müller einerseits die Kunst in ein öffentliches Umfeld. Zum anderen ging es ihm stets darum, das Selbstbewusstsein einer Region aufzuwerten. Seine Erkenntnis «Inzwischen hat sich die Region im Bereich Kunst und Kultur emanzipiert» findet nicht zuletzt ihren Beweis in der heutigen Preisverleihung.

St. Gallen : Katharina Grosse im Kunstmuseum

Katharina Grosse (*1961) ist Malerin und doch auch wieder nicht, wenn Malern der Kontakt zum Maluntergrund mit Pinsel oder ähnlichem Gerät unterstellt wird. Zwar gibt es da ihre grossformatigen Tafelbilder, bei denen die Farbe mit breiter Bürste und gleichmässigen Schwüngen aufgetragen ist. Zum anderen sind aber seit der Ausstellung im Projektraum der Kunsthalle Bern 1998 gesprayte Wandarbeiten eine feste Grösse in ihrem Schaffen. Das jüngste Beispiel dafür ist im Kunstmuseum St. Gallen im Rahmen der ersten grossen Einzelpräsentation der international agierenden, deutschen Künstlerin in der Schweiz zu sehen.

Der Titel «Der weisse Saal trifft sich im Wald» deutet bereits auf das Herzstück der Ausstellung, auf die Wandarbeit im grossen Oberlichtsaal. Flächen wie diese lassen sich weder mit der Spraydose noch mit Pinsel oder Malerbürste bewältigen. Grosse arbeitet mit Spritzpistole und Kompressor. Dies hat vor allem die Befreiung vom Diktat einer begrenzten Fläche zur Folge. Die feinen Farbnebel verteilen sich überall, Architekturelemente stellen kein Hindernis dar. Allerdings begegnete der Künstlerin in St. Gallen eine besondere Herausforderung, denn der Oberlichtsaal wird von einem Gesims beherrscht, dessen Dominanz durch das Spiel von Farbe und weiss gebliebenen Vertiefungen noch verstärkt wird. An anderen Stellen behaupten sich die aufgesprühten Pigmente, etwa wenn Grosse ohne Rücksicht auf Türsturz, Laibung oder Ecken in den Nachbarraum hinüberarbeitet. Für Grosse bedeutet der Griff zur Spritzpistole nicht nur räumliche Freiheit, sondern gleichzeitig wird damit die materielle, physische Verbindung vom Maler zum Bild unterbrochen. Ohne den Umweg über den Pinsel treffen die Farben ungehindert auf die Oberfläche. Statt sich in einem bestimmten Duktus zu manifestieren, wird die grosse Geste direkt in den Raum übersetzt. Sehen ist hier gleich Sprayen. Jede Entscheidung findet ihren unauslöschlichen Ausdruck auf der Wand. Stärker noch als in den früheren Sprayarbeiten lassen sich in St. Gallen die Bewegungen der Künstlerin, ihr Agieren im Raum nachvollziehen, da sie die früheren, nahezu monochromen Farbwolken zugunsten einer stärker linearen Gestaltung auflöst – ein Prinzip, das seit zwei Jahren auch in ihren Tafelbildern Einzug gehalten hat. Allerdings begibt sich Grosse hier in die Nähe einer rein dekorativen Ornamentik. Die Kraft der grossen Geste droht in einem kalligraphischen Verwirrspiel unterzugehen.

Im Gegenteil dazu überzeugen ihre Farbflächenbilder durch die Unmittelbarkeit und die Konzentration auf die Grundbedingungen der Malerei, auf Farbe und Farbauftrag. Hier bleibt jeder Schritt angefangen vom Auftragen des Untergrundes bis hin zur letzten Farbschicht sichtbar. Die Reduktion auf eine überschaubare Palette lässt die von Katharina Grosse bevorzugten Farben wie Neongrün, Pink, leuchtendes Gelb und metallische Töne umso stärker hervor treten. In den Gemälden zeigt sie sich dann wieder als Künstlerin, die eine traditionelle Technik mit Attributen der Gegenwart belebt und zu einem plausiblen Ausdruck führt.

Bademoden in Öl

Die aktuelle Ausstellung in der Galerie Paul Hafner zeigt einen kleinen Ausschnitt der Arbeit des österreichischen Künstlers Ronald Kodritsch. Mal hintergründig exotisch, mal derb und frivol, doch immer sehenswert.

Der Kontrast könnte schärfer nicht sein: St. Gallen liegt im grauen, dunklen Herbstregenwetter. Doch in den Räumen der Galerie Paul Hafner herrscht Urlaubsstimmung. Ronald Kodritsch hat die Südsee in die Ostschweiz gebracht. Vokabeln aus den Prospekten der Reiseveranstalter drängen sich auf, denn hier gibt es traumhaft schöne Strände, weissen Sand, Palmen, tiefblaues Meer, sonnenbeschienene Idylle, daneben Kreuzfahrtschiffe der Luxusklasse und über allem ein strahlend blauer Himmel.

Der 1970 in der Steiermark geborene Künstler findet seine Sujets dort, wo der Verdacht des Kitsches nicht weit entfernt ist. Ob Fototapeten der Achtzigerjahre oder Reklame für exotische Ferien in der Ferne, die Vorlagen haben eines gemeinsam: Sie sollen die Sehnsucht des europäischen Reisenden wecken.

Kodritschs Bilder allerdings brechen mit den Klischees, denn ihr eigentliches Thema ist nicht das Urlaubsparadies, sondern die Malerei. Zwar scheint es anfangs schwer, sich von den verheissungsvollen Darstellungen zu lösen, doch bald fesselt die malerische Geste den Blick. Der junge Österreicher garniert die Traumstrände und den wolkenlosen Himmel mit pastosen Farbtupfen und Strichen. Mitten im makellosen Blau sitzt ein dicker grüner Farbstrahl. Unter Palmenwedeln blinkt es gelb, rot und weiss. Das Meer wird von heruntergelaufenen Farbschlieren durchkreuzt. Diese Gesten wirken zunächst unbegründet und manieriert, doch Kodritsch hat ein geeignetes Mittel gefunden, um uns zu zeigen, wie schwer es ist, sich von der Wahrnehmung des Gegenstandes zu lösen und sich ganz auf die Malerei einzulassen. Zu gern möchte man die Striche den Schiffen zuordnen oder der Vegetation, aber sie verweigern sich der Deutung und bleiben ein Stück freier Malerei. Kodritsch beschränkt sich allerdings in seiner Kunst nicht auf das eine Medium. Neben Malerei, Videoarbeiten und Zeichnungen bilden Skulpturen einen weiteren Aspekt seiner Arbeit. In der Galerieausstellung gibt es dafür nur ein Beispiel, die Plastik «In the Mood»; ein Stück schwarzen Humors, nicht nur aufgrund der homogenen Farbigkeit. Der aus Tonklumpen zurechtgedrückte Elefant, der mit seinem Rüssel einen ebenso grob modulierten Batman befriedigt, ist das Bindeglied zwischen Kodritschs Paradiesbildern und seiner Serie der «Bikinimädchen», zwischen implizierter und offenkundiger Erotik, die sich allerdings ganz schnell in ihr Gegenteil verkehren kann. Denn Kodritsch übertreibt ganz augenscheinlich gern, er trägt ein bisschen zu viel Humor zur Schau, legt seine Spässe etwas zu derb an, vereinfacht ein wenig zu sehr. Doch gerade das rückt seine Ölbilder in die Nähe von Künstlern wie Kippenberger und Polke, deren hintergründige Witze den Ernst der Kunst unterwanderten. Kodritschs «Bikinimädchen» sind reduziert auf ihren Unterleib und eine gerade noch als solche erkennbare Anatomie. Bekleidet sind sie mit dem legendären Stoffdreieck, das hier auch in Varianten vom Hot Pant bis zum Stringtanga vorkommt.

Doch was ist das da rings um das Stoffteilchen? Hier spriesst es überall: gelockt, gekringelt, gefärbt. Das erotische Mysterium des Badehöschens ist durch extravagante, haarige Vielfalt entzaubert. Voyeuristische Blicke weichen einer kindlich naiven Schaulust. Ob dieser Begeisterung für inzwischen weit gehend ästhetisch sanktionierten Schamhaarexhibitionismus ist man fast erleichtert, dass Kodritsch das während einer durchzechten Partynacht aus einem Wortspiel geborene Ausstellungsmotto «Blood Red Chili Pampers» nicht auch noch in ein Gemälde übersetzt hat. Zuzutrauen wäre es ihm, und vielleicht käme sogar ein weiteres seiner zwar frivolen und doch sehenswerten Werke dabei heraus.

Kirschensteine und Latexlingerie

Das Zürcher Museum für Gestaltung zeigt die Arbeiten der Preisträger des Eidgenössischen Wettbewerbs für Design. Das Spektrum reicht von Modeentwürfen bis zu Computeranwendungen.

In der Schweiz kann an sieben Fachhochschulen Design studiert werden, in Fachrichtungen wie Visuelle Kommunikation und Gestaltung, Industriedesign, Textil- und Modedesign oder Innenarchitektur. Allerdings gehört die starre Aufteilung in Sparten der Vergangenheit an. Immer mehr wird fächerübergreifend gearbeitet.

Dem trägt seit diesem Jahr auch der Eidgenössische Wettbewerb für Design Rechnung. Statt wie bisher in neun Bereiche aufgeteilt, wurde erstmals nach Produktionsbedingungen unterschieden, das heisst zwischen Unikaten oder Kleinserien und solchen Arbeiten, die nach einem vorgegebenen oder selbst entwickelten Ziel realisiert und seriell produziert werden.

Dennoch hat die Ausstellung der 24 prämierten Projekte im Museum für Gestaltung in Zürich unter dem Titel «Swiss Design 2002: Netzwerke» ihre zwei Schwerpunkte: Visuelle Kommunikation und Modearbeiten. Letztere reichen von sofort Tragbarem wie den von den Bernerinnen Maja Abplanalp und Maria Pia Amabile entwickelten Handschuhen, Nackenwärmern und Nierengurten mit wärmespeicherndem Kirschensteininnenleben bis hin zu Experimentellem von Rachel Imboden aus Lausanne mit ihrem zwischen Hosenbeinen gespannten Tornetz für den Strassenfussball. Einen weiteren Akzent setzen die Latexdessous des Zürchers Daniel Hermann. Nach intensivem Studium der in St. Galler Archiven aufbewahrten Spitzenkreationen verband er die traditionellen Formen mit zeitgenössischen Materialien. In einem eigens entwickelten Verfahren werden die Spitzen in Latex gegossen. Das Biedermeierliche erhält Fetischcharakter und bleibt dennoch elegant. Die Bernerin Sandra Lemp hingegen setzt auf Unfertiges. Statt perfekt gestalteter Mode bietet sie Kleidungsstücke mit unvernähten Säumen zum individuellen Anpassen oder auch für den in den Neunzigern etablierten Schmuddellook. Jüngste Technik erwartet den Konsumenten beim «Dresscode 0.55» des Baslers Raphael Perret. Er übersetzt die von Menschen in einem virtuellen Raum hinterlassenen Spuren in vom Computer berechnete Stoffmuster und liefert damit ebenso ein Beispiel für fächerübergreifendes Arbeiten wie der einzige St. Galler Preisträger, Christoph Zellweger, mit seinen «Fremd-Körpern». Diese eigentümlichen und nur bedingt tragbaren Schmuckkreationen aus organisch geformten Edelstahlteilen und nachträglich bearbeiteten künstlichen Hüftgelenken leiten sich aus Formen und Materialien der Prothesentechnik ab. Sie strahlen die Perfektion der auf den reinen Gebrauch hin entwickelten Gestaltung aus.

Zellweger gehört zu den Preisträgern, die statt eines Geldbetrages einen Praktikumsplatz für sechs Monate annehmen. Das Interesse an interdisziplinärer Arbeit ist aber ein Aspekt der neu geschaffenen Praktikumspreise. Zum andern orientiert sich das Bundesamt für Kultur mit dieser praxisnahen Förderung junger Designer an dem steigenden Bedürfnis nach Kontakten in der Arbeitswelt. Dafür hat man mit der Präsentation ein schönes Bild gefunden, indem die gesamte Halle des Museums für Gestaltung in ein Stadion verwandelt wurde.

Geschulte Freiheiten

In derAusstellung in der Galerie vor der Klostermauer der Thurgauer Malerin Dora Koller ist in jedem Bild spürbar, dass hier eine geübte Zeichnerin mit gut geschultem Blick am Werk ist.

Dora Koller widmet ihre ganze Aufmerksamkeit der menschlichen Aktfigur. Jedoch ist weniger die Anatomie als das Verhältnis der Dargestellten zum Umraum und der Ausdruck einer Körperhaltung ihr Thema. Mal sind die Figuren in ein Liniengewebe eingebettet, mal ist ihnen ein Gegenstand wie beispielsweise eine Vase zur Seite gestellt, um den Raum zu definieren. Koller schafft Bezugspunkte und -systeme, balanciert Bildgewichte aus und organisiert die Flächen. Dennoch verlieren ihre Bilder nie die Leichtigkeit, sondern behalten etwas Spielerisches und Unbeschwertes ganz gleich in welcher Technik sich die gelernte Sekun-darlehrerin aus St.Margarethen TG ihnen nähert. Da gibt es Gemälde mit Ölfarben auf Papier oder Leinwand, Ölfarbenbilder kombiniert mit Bleistift, reine Kohle- und Bleistiftzeichnungen oder Blätter mit Kohle und Kreide. Daneben unternimmt sie auch Experimente wie etwa die Bleistiftzeichnung auf einem grob mit weisser Farbe eingestrichenen Papier.

In ihren Ölstudien setzt Koller Farbflächen aneinander. Figur und Umgebung werden nahezu gleichwertig behandelt, erst der gezeichnete Umriss definiert die Darstellung. In anderen Arbeiten werden helle und dunkle Töne nebenei-nander gesetzt, ohne dass für diese Hell-Dunkel-Inszenierung Licht und Schatten ausschlaggebend sind. Mitunter dienen breite Farbstreifen auch als Kontur und Akzent, doch das Wichtigste bleibt in den Bildern stets die Linie.

Es ist offensichtlich, dass den gezeigten Arbeiten unzählige Stunden des Aktstudiums vorausgehen. Koller hat sich freigezeichnet. Ihr genügt eine einzelne Linie, um den Schwung der Hüfte bis hinauf zum Hals festzuhalten oder die komplizierte Drehung eines Modells auf das Papier zu bannen. Der Bleistift wird niemals steif oder unsicher geführt. Hier sitzt jeder Strich.

Zuweilen werden Körperformen mehrmals umfahren und somit herausgearbeitet, aber auch da bleibt die Dynamik erhalten. Nur in einer vierteiligen Serie gelingt dies nicht: Die Bewegungsstudien einer trommelnden Person fallen gegenüber den Aktdarstellungen etwas ab. Ausgerechnet hier wirken die multiplizierten Linien, die die schnellen Gesten des Trommlers wiedergeben sollen, erstarrt und ohne jegliches Leben. Nicht kurze, harte Linien wie diese sind Kollers Stärke, sondern die zarten und dennoch selbstbewussten Gesten, wie sie etwa in einer sechsteiligen Serie auf farbigem Papier zum Einsatz kommen. Gross sind die Akte ins kleine Format gesetzt. Bleistift und Farbe sind hier auf eine Weise miteinander kombiniert, die zeigt, dass Dora Koller nach ihren Studien bei Karl Fürer in St. Gallen in beiden Medien eine eigenständige und klare Sprache gefunden hat und sie überzeugend miteinander verbinden kann.

Netzwerk

Breite Farbbänder schwingen über die Fläche. Schmalere sind locker miteinander verschlungen. Flecken undefinierbarer Tönung sitzen auf dem gebrochenen Weiss des Hintergrundes und seinen verwischten Schattierungen. Oberflächen glatt wie Email schimmern und reflektieren das einfallende Licht.

Virtuos setzt Mark Francis in seinen jüngsten, in der Galerie Wilma Lock ausgestellten Werken unterschiedlichste Elemente aus der grossen Palette malerischer Ausdrucksmöglichkeiten zusammen. Da mischen sich fotorealistische Anklänge mit tachistischen Farberuptionen, klar konstruierte Bildstrukturen werden von malerischen Zufallsprodukten überlagert. Dies alles verbindet sich zu einem vielschichtigen, detailreichen Gefüge, das sowohl Fern- als auch Nahsicht lohnt: Nur aus grösserem Abstand offenbart sich die komplexe Gesamtkomposition, der aufs Detail fokussierte Blick dagegen gerät zur Entdeckungsreise inmitten mikros- kopisch feiner Verästelungen und Farbgewebe. Das Grosse Ganze setzt sich aus unzähligen kleineren Elementen zusammen, ganz so wie dort, wo Mark Francis seine Anregungen findet: Zellstrukturen, Pilzgeflechte, Arterien, Venen und Körperflüssigkeiten sind seit Jahren seine Inspirationsquelle. Der 1962 geborene Künstler sammelt wissenschaftliche Abbildungen der Fauna und Flora und setzt sie auf suggestive Weise in seinen Gemälden um. Gegenüber seinen früheren Bildern mit Ansammlungen von Punkten in schwarz-weiss hat Francis sein Vokabular erweitert und verweist damit nicht nur auf die Landschaften der lebenden Natur, sondern auch unsere Strassenkarten, Leitungssysteme und Schaltpläne. Jedes Bild wirkt wie ein Ausschnitt aus einem grösseren Netzwerk, jede Linie darin wie das Stück einer unendlich langen Ader.

Minusgrade im Museum

Der Franzose Pierre Huyghe hat für das Kunsthaus Bregenz eine alle Sinne ansprechende Landschaft entworfen. Antarktis, Lightshow und Eissporthalle geben sich ein Stelldichein.

Eis ist vergänglich. Ausstellungen sind es ebenfalls. Pierre Huyghe spielt mit dieser Analogie, denn seine Einzelpräsentation im Kunsthaus Bregenz wird ihr eigenes Herzstück überleben.

Zur Vernissage stand es noch in voller kristalliner Schönheit: ein Motorboot aus Eis. In einem unglaublichen Kraftakt wurde das in Frankreich geschnitzte Schiff in vier Blöcken nach Bregenz gebracht, dort im ersten Stock des Museums installiert, um nun langsam, aber stetig zu schmelzen. Bereits eine Woche nach der Eröffnung kündet nur noch ein nasser Fleck und bald darauf überhaupt nichts mehr von seiner ehemaligen Existenz. Was bleibt, ist die winterliche Atmosphäre des Raumes, denn der französische Künstler lässt es durch die Decke regnen, schneien und nieseln. Lichtblitze durchzucken den Raum, begleitet von dunklem Donnergrollen.

Pierre Huyghe gehört zur jüngeren, multimedial arbeitenden Künstlergeneration. In einem Prozess der wissenschaftlichen Recherche und künstlerischen Montage setzt er sich mit unterschiedlichen kulturellen und sozialgeschichtlichen Quellen auseinander und arbeitet auf der Basis bestehender Filme oder realer Personen. Während seine bisherigen Arbeiten oft eine ausgeklügelte Licht- und Tonregie aufwiesen, sind in Bregenz auch Naturgewalten Teil der Gesamtkomposition, die in diesem Falle musikalisch zu verstehen ist. Huyghe nennt seine eigens für die vier Etagen des Hauses geschaffene Installation «L’expédition scintillante. A Musical» («Die funkelnde Expedition. Ein Musical») und gibt damit auch Prolog und drei Akte vor.

Der Prolog, die unscheinbare und doch grosse schwarze Box im Erdgeschoss, verbirgt die Steuerung für die Choreografie dessen, was der Besucher auf seiner Reise durch die Stockwerke erlebt. Wer die frostige Luft, die plötzlich von oben herab rauschenden Wasser- und Schneemassen und die Tragik des schmelzenden Eisschiffes hinter sich lässt, den erwartet im zweiten Obergeschoss eine psychedelische Lightshow.

Doch statt den gesamten Raum zu beleuchten, konzentriert der Künstler die Kraft des Lichtes. Wie der kostbare Inhalt eines Schreins oder ein sich ständig veränderndes Gemälde wirken die Nebelwölkchen im Licht aus 300 Schein- werfern. Die Hintergrundmusik von Erik Satie, orchestriert von Claude Debussy, trägt das ihre zum sinnlichen Umgarnen des Betrachters bei. Im dritten Akt schliesslich blinkt die Deckenbeleuchtung zu elektronischen Klängen von Brian Eno über einer schwarzen Eisfläche, daneben fasst ein überdimensionales Poster den Parcours artifiziell zusammen, angefangen vom Schiff bis hin zu den Pirouetten und Schwüngen der zwei Eiskunstläuferinnen am Eröffnungsabend.

Während Pierre Huyghe auf den anderen Ebenen Bilder schuf, die umso aussagekräftiger wurden, desto weniger wörtlich sie genommen wurden, nimmt er den Betrachter hier etwas zu fest an die Hand. So erklärt er in einem illustrierten Büchlein, welches die möglichen Assoziationen zu dieser Reise durchs Kunsthaus sind. Da wird auf Edgar Allan Poe ebenso verwiesen wie auf Caspar David Friedrich oder Jules Verne, die Romantik wird genannt, Schwarze Löcher und Franz von Assisi. Die Arbeit zeigt sich in die europäische Kultur eingebettet. Doch gerade deshalb und aufgrund der sorgfältigen, alle Sinne ansprechenden Inszenierung funktioniert sie auch ohne Anleitung. Das Programmbuch nimmt der Installation nachträglich einiges von ihrer Imaginationskraft und ihrer Offenheit. Obgleich er selbst sich von Zonen des Nicht-Wissens fasziniert zeigt, verweigert der Künstler dem Betrachter diese Bereiche. Aber abseits des publizierten Kodes besitzt die Ausstellung das Potenzial, ein nachhaltiges Erlebnis im Raum zwischen Illusion, Fiktion und Wissen zu werden.