Ulrike Kristin Schmidt

Gesammelte Texte

Geknüll und Geröll

Wie eine Biene fügt Daniel Zimmermann Wabe an Wabe. Die jüngsten Bilder des Zürcher Künstlers sind zurzeit in der Galerie Wilma Lock ausgestellt.

Die Visualisierung der Zeit wurde oft versucht und scheiterte ebenso oft. Auch Daniel Zimmermann reizt die so genannte vierte Dimension, aber der 1958 geborene Maler will sogar noch mehr. Er widmet sein Gemälde gleich der Quadratur der Dimensionen und fasst obendrein alle Elemente seines aktuellen Schaffens damit zusammen. Auf der dreigeteilten Leinwand fügen sich drei Flächen zu einem Raum, in dem sowohl seine erst vor kurzem entwickelten Wabenstrukturen Platz finden wie auch einer seiner «Knüller». So nennt er die seit 1996 entstehenden Zeichnungen von zusammengeknülltem Papier. In der aktuellen Ausstellung in der Galerie Wilma Lock sind 15 dieser Blätter zu sehen und damit dennoch nur ein kleiner Teil der Serie ohne Ende.

Was zunächst kaum mehr zu sein scheint als akribische Objektstudien eines akademisch geschulten Künstlers, entpuppt sich schnell als Spiel mit unendlichen Flächen. Geballt, gefaltet, zerknüllt, verzwickt – der schnelle Griff ins Papier liess variantenreiche Landschaften entstehen, die trotz der gekonnten zeichnerischen Wiedergabe nicht entschlüsselbar sind. Statt Origami dient das weisse Blatt unterhaltsamer Chaosforschung und entwickelt dabei grosses Potenzial, denn Zimmermann träumt bereits davon, das abgemalte Papiergeknüll zurück in die Dreidimensionalität zu übersetzen. Die nummerierten Flächen eines wieder geglätteten «Knüllers» wären dann der Bauplan für eine Universalskulptur. Was laut Ausstellungstitel mit viel Understatement als «Virtuelles Geröll» daherkommt, hat also grosse Potenziale. Das gilt auch für die Gemälde mit dicht gedrängten vieleckigen Formen. Die zunächst monoton scheinende, mosaikartige Oberfläche belebt sich, schwingt vor und zurück, offenbart sich als sorgfältig austariertes Gefüge mit Richtungsströmen und sogar gegenständlichen Bezügen. Der Künstler betätigte sich bienengleich im Wabenbau und erdachte sich ein kompliziertes Regelwerk für die Farb- und Formgebung: Hier ruht auch im grössten Durcheinander eine verborgene Ordnung.

Alles Glück der Erde

«Traum Welt Pferd» ist keineswegs eine Ausstellung nur für Pferdenarren: Die aktuelle Schau im Museum im Lagerhaus ist dem Vierbeiner gewidmet. Ein breites Spektrum von Kunstwerken von der Jahrhundertwende bis heute wird abgedeckt.

Was wäre der Cowboy ohne Pferd, was die Hochzeitskutsche ohne Schimmel, was ein Fiaker ohne Ross? Pferde begleiten den Alltag des Menschen seit Urzeiten. Dabei kam ihnen stets eine Sonderstellung zu. Kaum einem anderen Haustier werden so viele positive Eigenschaften nachgesagt, kaum ein anderes dient so zu repräsentativen Zwecken, keines weckt grössere Emotionen.

Kein Wunder also, dass diese treuen Vierbeiner durch alle Epochen hindurch das Thema künstlerischer Auseinandersetzung waren. Früheste Höhlenmalereien, griechische und römische Skulpturen, barocke Herrschergemälde oder religiös motivierte Grafikfolgen widmeten sich immer auch dem Pferd in seinen unterschiedlichsten Rollen. Und obgleich die Bedeutung des Pferdes als Arbeitstier im vergangenen Jahrhundert stark abgenommen hat, hat es nichts von seiner Anziehungskraft verloren.

Davon zeugt die aktuelle Ausstellung im Museum im Lagerhaus unter dem Titel «Traum Welt Pferd». Sie versammelt ein denkbar breites Spektrum von Werken der Aussenseiterkunst aus der Zeit der Jahrhundertwende bis heute. Die Werkliste zählt stattliche 114 Positionen, und dabei sind ausgewählte Serien sogar zusammengefasst. Mehr als ein kurzer Galopp also – doch sehr schnell geht die Begeisterung der Künstler an ihrem Sujet auf den Betrachter über. Selbst wer kein ausgesprochener Pferdenarr ist, wird in ihren Sog gerissen. Das liegt zum einen an der Kraft und Spontaneität der oft vereinfachten Darstellungen, fernab akademischer Präzision. Da darf ein Pferd auch gern einmal fünf Beine haben – Hauptsache, es wirkt so lebendig, wie es der Künstler vor sich sah. Zum anderen liegt die Spannung in der Hängung der Ausstellung begründet. Da die Werke im Wesentlichen zu inhaltlich homogenen Gruppen zusammengefasst wurden, bieten sich durch formale Unterschiede innerhalb dieser Gruppen immer wieder Vergleiche an.

Besonders gelungen ist die Auswahl in den beiden linken Seitenräumen. Im vorderen wird eine Brücke geschlagen von den schemenhaften, archaisch wirkenden Tiergestalten Christine Sefoloshas über die mit Glassteinen geschmückten überirdischen Wesen Bertram Schochs, den Pferdehimmel Hans Krüsis bis zu Karl Uelligers Sonnenreiter. Das Pferd zeigt sich hier in unterschiedlichen Facetten als Abbild des göttlichen Prinzips. Im hinteren der beiden Räume sind dagegen Darstellungen des Pferdes als Arbeitstier in städtischem oder bäuerlichem Umfeld vereint. Selbst wenn es mitunter nur ein Bilddetail von vielen ist, behält es auch hier stets seine Würde und wird von den Künstlern mit liebevollem Blick betrachtet. Dieses innige und dennoch von Ehrfurcht geprägte Verhältnis der Maler zu ihrem Sujet zieht sich wie ein roter Faden durch die Ausstellung. Einen Höhepunkt findet es in Joseph Giavarinis «Pferdeträger», einer Umkehrung des Reiterprinzips. Vollständig wird die Präsentation jedoch erst durch eine Arbeit, die auch die dunkle Seite eines Pferdedaseins in Erinnerung ruft: Christine Sefolosha zeigt einen schwarzen Pferdeschädel mit aufgerissenem Maul und vermittelt so eine Ahnung vom Leid der gequälten Kreatur. Längst ist es zur Gewohnheit geworden, den kleinsten Raum für eine Ausstellung in der Ausstellung zu reservieren. Diesmal hat ihn die Goldacherin Pia Hug in ein opulent ausgestattetes Märchenzimmer verwandelt. Unterm Seidenbaldachin glitzert und funkelt es von den prunkvoll bestickten Wandteppichen und verführt zum Innehalten. Wer genauer schaut, findet sie auch hier: die Tiere, auf deren Rücken das Paradies vermutet wird.

Erinnern und Wahrsagen

Rolf Graf befasst sich in seinen jüngsten Arbeiten in der Galerie Kulli mit der Vergangenheit; er richtet den Blick aber ebenso in die Zukunft.

Erinnerungen tauchen plötzlich und unvermittelt auf. Die unterschiedlichsten Sinneseindrücke können der Auslöser sein: Ein bestimmter Duft kann ebenso längst Vergessenes wieder auftauchen lassen wie Bilder oder Melodien. In der aktuellen Ausstellung mit Werken von Rolf Graf in der Galerie Susanna Kulli genügt ein Bildtitel, um die Assoziationskette zu starten: Denn wer erinnert sich nicht an den Western-Klassiker und die Melodie des Goldgräbersongs «My Darling Clementine»?

Die gleichnamige Arbeit des 1969 in Heiden geborenen Künstlers besteht aus beigefarbenen Ornamenten, auf blaue Styrodurplatten aufgetragen. Gleich einem Fries weit über Augenhöhe an die Galeriewand montiert, regt sie nicht nur aufgrund ihres Titels unser Gedächtnis an, sondern auch mit ihrer formalen Gestaltung. Ist es das Dachgesims, unter dem Henry Fonda als Wyatt Earp im Schaukelstuhl sass, oder ein hiesiges Bauernhaus? Sehen wir darin die ertrinkende Clementine des Goldgräberliedes oder, wie es der Künstler vorschlägt, die Horizontlinie der Malerei Cezannes? Rolf Graf lässt dem Betrachter breiten Raum. Da er sich seit langem mit den Mechanismen der Erinnerung auseinander setzt, weiss er um ihre diffuse, schwer zu steuernde Wirkung – und arbeitet genau mit diesen Wahrnehmungsphänomenen. Indem «My Darling Clementine» nur vage formale Andeutungen anbietet, besitzt es das Potenzial, komplexe, vielfältige Gedankengänge auszulösen.

Doch Graf vermag nicht nur Vergangenes heraufzubechwören, sondern richtet den Blick auch in die Zukunft. So bietet die Einladungskarte zur Ausstellung mit dem Bild einer umgestürzten Tasse keinen formalen, sondern einen inhaltlichen Hinweis. Der Kaffeesatz steht hier für eine der bekanntesten Arten der Wahrsagerei. In der Antike übernahm diesen Part die Ornithomantie, die Deutung und Weissagung aus dem Vogelflug. Während seines einjährigen Romstipendiums der Eidgenossenschaft hat sich Rolf Graf vom wissbegierigen Blick in den Himmel inspirieren lassen. Die grossformatige Projektion «Fortune Tellers» zeigt Tausende von Staren über der abendlichen Metropole. Das Bild könnte poetischer und meditativer kaum sein. Wie von unsichtbaren Kraftfeldern beeinflusst, formieren sich die Vögel zu wolkenartigen Gebilden, sie sich in Sekundenschnelle wieder auflösen. Wieder bleibt es dem Betrachter überlassen, aus diesen unsteten Bildern zu lesen. Während die antiken Wahrsager auch den Vogelschrei für ihre Orakel interpretierten, blendet Graf den Ton aus. Damit bekommt die Arbeit eine weitere Dimension. Sie ist nicht mehr nur ein schönes Bild für die Sehnsucht, die Zukunft zu kennen, sondern besitzt zugleich eine starke formale Wirkung. Losgelöst von der städtischen Umgebung werden Stare zu Bildpunkten, deren wechselnde Anordnung immer neue Räume konstruiert.

In dieser Arbeit finden sich damit Grafs grundsätzliche Interessen vereint, denn neben dem ästhetischen Suggestionspotenzial spielen Raum und Architektur die andere wichtige Rolle in seinem Werk. Ihr widmet er «Carpaccio», eine ebenfalls in Rom entstandene, umfangreiche Fotoserie. Die grossformatigen Aufnahmen zeigen Orte, die eigentlich keine sind, fernab des hauptstädtischen Lebens. Ob im Museo Etrusco, in der Cincecittà oder dem Instituto Svizzero – Graf zeigt ein Gespür und eine Beobachtungsgabe für verfremdende bauliche Interventionen, für unbewusste Unterwanderungen des Bestehenden und für banale Versionen von Illusionsarchitektur. Die Stille der Bilder regt unmittelbar dazu an, die Brüche zwischen repräsentativen Bauten und zweckdienlichen Provisorien zu suchen.

Wirkungsvolle Gegensätze

Wächst es gerade oder fällt es in sich zusammen? Bewegt es sich oder atmet gar? Das grosse graue Plastikgebilde in der Kunsthalle Wil gibt Rätsel auf. Mit nichts gefüllt als Luft schwebt es in dem schmalen lang gezogenen Raum, der noch zusätzlich verengt ist durch vierreihig angeordnete Dreiecke. Deren gelbgrüne und bedrohlich scharfkantige Spitzen bedrohen die matt glänzende Haut des grauen Ungetüms. Weicht es zurück oder behauptet es sich?

Lucie Schenker inszeniert mit «Spitz» und «Kumulonimbus» ein wirkungsvolles Gegensatzpaar und zeigt zugleich die Gemeinsamkeiten zwischen beiden. Hier wie dort ist Transparenz ein ganz wesentlicher Gestaltungsaspekt. Doch während die Wolke das Licht im Inneren umschliesst, senden es die Acrylglas-Dreiecke wieder nach aussen. Sie scheinen das Licht einzufangen und von innen heraus zu strahlen. Seit die St. Galler Künstlerin vor vier Jahren das Wirkungsprinzip selbst reflektierenden Materials für sich entdeckte, nutzt sie es in immer neuen Varianten. Schwungvoll schreibt sie grelle Chiffren in den Raum, fügt endlose Schwünge zu einer leuchtenden Spirale oder verwickelt sie zu einem glimmenden, unentwirrbaren Knäuel ohne Anfang und Ende. Faszinierend dabei ist, dass selbst dieses technoide Material sich erst durch die Arbeit der Künstlerin zu dem fügt, was es ist. Beinahe hundert Meter neongrüner Vierkantstäbe bändigt sie für manche der «Skripte» mit einem speziellen Heissluftföhn. Und selbst die Teile der Wolke fügte sie selbst zusammen. Im Spiel zwischen ausgeklügelter Form, visuell reizvollem Material und konsequenter Handarbeit entwickeln die Arbeiten Vitalität und Spannung.

Nur die Landung zählt

Aleksandra Mir inszeniert ihre Heimkehr zur Erde. In ihren Werken reist die Künstlerin in luftige Höhen und wieder zurück. Daneben zeigt die aktuelle Ausstellung in der Kunsthalle St. Gallen Arbeiten von Regula Engeler und Patric Kaufmann.

Was haben ein Agatha-Christie-Krimi, eine Clinton-Biografie und die Swissair-Geschichte gemeinsam? Einen himmelblauen Buchumschlag. Die Aufzählung liesse sich endlos fortsetzen mit «Die Maschine. Dein Helfer», «Kleine Sternenkunde» und «Enzyklopädie der Heiligen». Ob spiritistische oder technische Ratgeber: Hilfe von oben versprechende Einbände sollen die Schriften zum kommerziellen Erfolg führen. Eine ganze Bibliothek dieser Verheissungen versammelt Aleksandra Mir in der Kunsthalle St. Gallen und gönnt den Betrachtern die Frontalansicht der blauen Pracht. Geordnet nach farblichen Varianten statt nach inhaltlichen Kriterien ergeben die Bücher ein optisch reizvolles Wandfries, das jedoch mehr ist als visuelle Spielerei.

Es kündet von Aleksandra Mirs grosser Passion, der Luft- und Raumfahrt. Auch wenn die Ausstellung in der Kunsthalle St. Gallen mit ihrem Titel «Welcome back to Earth» die Heimkehr auf irdischen Boden ankündigt, widmet sich die 1967 in Polen geborene und in New York lebende Künstlerin ganz und gar der Fliegerei und damit einer der letzten Männerdomänen. Mit federleichter Ironie nimmt sie sich des maskulin besetzten Feldes an. In ihrem 1999 abgeschlossenen und durch ein Video dokumentierten Projekt «First Woman on the Moon» hisste Mir auf einem niederländischen Stück Küste als erste Frau auf dem Mond die amerikanische Flagge. Was bei Armstrong und Aldrin noch als Akt einer Besatzermacht wirkte, wird bei ihr zu einer grossen Strandparty mit sozialem Charakter. Selbst der jüngste Feriengast schaufelte Sand für den Mondkrater und ist einer von Dutzenden Zeugen für Mirs Ankunft auf dem Erdtrabanten. Ausserdem hat die Künstlerin Fundstücke von der Reise mitgebracht. In zwei sandgefüllten Vitrinen finden sich Muscheln, Latschen und Pillen. Zwar nicht unbedingt Dinge, die auf dem Mond zu vermuten gewesen wären, doch wer weiss, was Armstrong und Aldrin zu finden gehofft hatten. Mir spielt mit den Erwartungen und bleibt offen für alles Unberechenbare. Dies bestimmt insbesondere auch ihr jüngstes Projekt «Plane Landing». Eigentlich sollte es bereits anlässlich der derzeitigen Ausstellung abgeschlossen sein, doch noch künden allein die Computerzeichnungen von dem grossen Experiment. Mit Hilfe des Spezialisten Cameron in Bristol, Erbauer des weltumrundenden Breitling Orbiter II, entsteht ein Ballon in Form eines Flugzeugs. Was zunächst einfach klingt, ist beinahe ein Ding der Unmöglichkeit, denn kreuzförmige Ballons fliegen eigentlich nicht. Da hilft also nur das Know-how aus Bristol und kräftiges Daumendrücken, denn wenn das Projekt gelingt, sind in New York, Paris, dem Nahen Osten und auch am Seealpsee Landungen des Fliegers geplant. Abgesehen vom technischen Aspekt birgt sich darin ein weiterer für Spannung sorgender Faktor, denn überall werden die Betrachter anders auf das mit Halteseilen in der Landeposition eingefrorene Flugobjekt reagieren. Es kann nur spekuliert werden, ob es in der Schweiz als Symbol für den Swissair-Niedergang, in New York für die Ereignisse im September 2001 und im Nahen Osten als Kriegsmaschine gelesen wird. Also heisst es am 13. September: auf ins Säntis- gebiet!

Zuvor gibt es aber noch einiges in der Kunsthalle zu entdecken. Neben weiteren sehenswerten Arbeiten Mirs sind neu interpretierte Super-8-Filme und das Video «Voyages Opaques» der jungen St. Galler Künstlerin Regula Engeler zu sehen. Die Chronik von Naturkatastrophen bestimmt ein bemerkenswert inszeniertes Wechselspiel aus verwackelten Standbildern und Filmausschnitten. Obgleich statisch festgehalten, geraten die Szenen durch die Art des Filmens in Bewegung und beschwören ihre ursprüngliche Dynamik herauf. In der gross projizierten Nahansicht gelingt es nur schwer, sich der Schönheit der Zerstörung zu entziehen, die doch eigentlich eine Zerstörung des Schönen ist. Ausserdem erwartet die Besucher die neue, steil ansteigende Bar des 1979 geborenen Zürchers Patric Kaufmann, die spätestens nach dem dritten Glas zu einer echten Herausforderung wird. Bar, Treppe, Arena, die zunächst für die Dauer eines Jahres installierte «New Bar» ist für viele Nutzungen offen, was auf weitere interessante Projekte in der Kunsthalle hoffen lässt.

Arsenal der Chiffren

Wo andere in die Ferne schweifen, liegt für Stefan Vollenweider das Sehenswerte doch so nah. Unterwegs «mit dem Panoramawanderstab» – wie er seine aktuelle Ausstellung in der IG, Halle Rapperswil (Kulturzentrum Alte Fabrik) nennt – blickt er nicht etwa zu entlegenen Gipfeln, sondern auf das, was ihm direkt vor die Nase oder die Füsse kommt.

Plastiktrinkbecher und Käsewachs, Ziegelsteine in einer Aktentasche, ein Architekturmodell oder eine weggeworfene Gummimatte, Backwaren jenseits des Verfalldatums, Plastikverpackungen und Arbeitsmaterialien des Zeichners – ebenso dies und das ordnet er in einer garagenähnlichen Box zu einem geheimnisvollen Archiv des Alltags. Wer eintritt, fühlt sich schnell wie ein Voyeur, der Intimes beäugt, das sich ihm nicht erschliesst und gerade deshalb die Neugier provoziert. Alle Entschlüsselungsversuche laufen ins Leere. Der Rapperswiler Vollenweider, 1950 in Kaltbrunn geboren, ist ein Spurensucher und Sammler. Mit der Akribie eines Archäologen bewahrt und sortiert er, um die Fundstücke einem breiten, an der Erkenntnis der Welt interessierten Publikum sichtbar zu machen. Was in dem Verschlag in der Dreidimensionalität funktioniert, übersetzt der Künstler mühelos und beinahe noch faszinierender in zwei Ebenen. Über Hundert Zeichnungen zeigen mehr oder weniger verschlüsselte Dinge, denen nur auf den ersten Blick der Charakter des Beiläufigen anhaftet. Auf den zweiten taucht der Betrachter ein in einen bewusst gestalteten Kosmos, ein Arsenal der Chiffren des zeitgenössischen Lebens. Auch hier bleibt vieles undeutbar, doch wie im begehbaren Magazin weckt gerade das die Wissbegierde und den Entdeckerinstinkt des Betrachters.

Im eigenen Lebensfilm

Stefan Rohner präsentiert mit «on stage» seine jüngsten Arbeiten bei Paul Hafner. Sie zeigen Ausschnitte aus Rohners Lebenskosmos mit ihm selbst in der Hauptrolle.

Jede Fotokamera hat einen Sucher. Blickt der Fotograf hindurch, sieht er das, was sein Motiv werden könnte auf der anderen Seite der Kamera. Es gilt noch immer als Fehler, wenn die beiden Seiten nicht klar getrennt bleiben, der Fotograf selbst in seinen Aufnahmen zu sehen ist, und wenn es nur sein Schatten ist, der ins Bild fällt.

Der St. Galler Stefan Rohner aber verweigert sich diesem Tabu. Bei ihm steht der Apparat nicht mehr zwischen Motiv und Fotograf. Seit einigen Jahren schon spielt er auf ganz verschiedene Art und Weise in seinen eigenen Fotografien mit. Er mimt einen Bauarbeiter in allerlei skurrilen Situationen, agiert mit Alltäglichem wie Einkaufswagen, Plüschtieren und Bügeleisen auf ungewohnte Weise, montiert das eigene Antlitz in Schneekugeln und Osternester oder bändigt einen gelben Plastikschlauch, der sich wie eine Riesenschlange aufzuführen scheint. Und nie lässt er Zweifel aufkommen, dass er selbst es ist, der seine Werke belebt, denn seine blaue, runde Brille ist längst so etwas wie ein Markenzeichen.

Noch bis vor kurzem liess sich Rohner, 1959 in Herisau geboren, stets bei seinen Fotografien helfen. Er beauftragte andere Fotografen, den Auslöser zu betätigen, bearbeitete seine Werke mit dem Computer nach oder bat Freunde, ihn zu begleiten und abzulichten. In seinen jüngsten Arbeiten hat Rohner nun den direktesten Weg eingeschlagen, den es gibt, um Fotograf und Motiv zugleich sein zu können, mit einer Technik, wie sie wohl so einigen verwackelten Urlaubsbildern zugrunde liegt, wenn der Kamerabesitzer selbst mit aufs Bild wollte: mit der Kamera in der ausgestreckten Hand, dem Finger auf dem Auslöser und dem Blick in Richtung Objektiv. In der aktuellen Ausstellung in der Galerie Paul Hafner zeigt Stefan Rohner die 54-teilige Serie «Filmstills / Selfportraits». Fast alle Bilder entstanden auf die beschriebene Weise und unterscheiden sich doch erheblich von den Selbstportraits der Gelegenheitsknipser. Rohner trägt seit zwei Jahren bei ausgewählten Gelegenheiten eine Weitwinkelkamera mit sich und stellt so die Bilder in ein Spannungsfeld zwischen Inszenierung und Zufall.

Er selbst bezeichnet die Serie als eine Art «autobiographisches Theater» und deutet damit bereits auf die ihr innewohnende Ambivalenz. Zum einen sieht der Betrachter Momentaufnahmen eines realen Lebens, doch immer bleibt im Bewusstsein, dass 54 Aufnahmen aus zwei Jahren nur eine sehr begrenzte Auswahl an Momenten festhalten können. Rohner, der gerne Schauspieler geworden wäre, doch dem Wunsch der Eltern folgte, einen «rechten Beruf» zu erlernen, spielt sich selbst in einer Reihe ausgewählter Szenen. Sie zeigen einen Menschen unterwegs und damit zugleich ein Panorama zeitgenössischen Lebens. Es reicht vom Rostbratwurstverkäufer im Berliner Regen über den Strassenmusiker vorm Kölner Dom bis zum Punkerpärchen vor der Pariser Brasserie. Ob in Zürich, London, Dresden oder Trogen: Rohner vermischt Unspektakuläres mit Besonderem und zeichnet damit ein facettenreiches Bild seiner Umgebung. In der Gesamtheit haftet seinem Werk etwas Philosophisches an. Der Mensch kann hier beinahe beiläufig seine Geschichte bis zu den Anfängen zurückverfolgen und sie in nächster Nähe zu vermeintlichen zivilisatorischen Errungenschaften sehen. Die Serie funktioniert sowohl als Abbild eines grossen Ganzen wie als persönlicher Lebensfilm. Rohner vergleicht sie mit den autobiographischen Sequenzen, wie sie von Menschen auf der Schwelle vom Leben zum Tod in Sekundenbruchteilen wahrgenommen werden: Wir stehen jetzt auf einer Bühne, aber den Film sehen wir im letzten Augenblick.

Das Leid der Stiere

Mit zwei Ausstellungen gleichzeitig startet das Museum im Lagerhaus St. Gallen ins Jahr seines 15-jährigen Bestehens. Die Ausstellung mit Werken von Ignacio Carles-Tolrà wird bereichert mit Sammlungswerken.

Vögel sehen aus wie Schildkröten und Schildkröten wie Vögel. Oder gehört die Spezies keiner von beiden Arten an? Vielleicht sind es Kreuzungen aus Nashorn und Einzeller. Sie verändern sich von Bild zu Bild und bleiben seltsam gestaltlos. Mal haben sie sechs Beine und mal vier. Mal stülpen sich die Körperkonturen zu weiteren Gliedmassen aus, mal lässt der Umriss die Aussenwelt in die Körper hinein. Das ganze fröhliche Treiben findet in kunterbunten Tönen auf üppig kolorierten Hintergründen statt.

Doch die Ausstellung im Museum im Lagerhaus zeigt nicht nur die heitere Seite Ignacio Carles-Tolràs, sondern lässt auch der anderen Seite des spanischen Künstlers Raum. Auf ihre Grundmerkmale reduzierte Tiere führen nachdenkliche Dialoge. Grosse, leere Augenpaare sitzen wie Brillen auf dem Kopf und verstärken den traurigen Eindruck. Für den Künstler sind Tiere nicht Nutzvieh, sondern fühlende, denkende und verletzbare Individuen. Mit seiner äusserst reduzierten und dennoch auffallend vitalen, energiegeladenen Bildsprache, an der nicht selten die Farbigkeit das auffälligste Gestaltungsmittel ist, gelingt es ihm, im Wortsinn das Wesentliche eines Tieres zu erfassen. Besonders zeigt sich dies in der berührendsten Serie des Künstlers, der «Taurovacherie». Was sich nur sehr ungenügend mit «Kalberei mit Stieren» übersetzen lässt, stellt das vom Menschen ausgenutzte Tier in den Mittelpunkt. Carles-Tolrà richtet mit diesen Blättern seinen Blick in die Stierkampfarenen. Die verdutzten, von der Waffe getroffenen Tiere bäumen sich auf, die Zunge fährt ihnen im Todeskampf aus dem Maul, das Leiden ist unermesslich. Im Schmerz verwandeln sie sich in Monster, bis nichts Tierähnliches mehr in ihnen ist. Gleich gegenüber jedoch zeigt sich der Übeltäter im Triptychon «Der moderne Mensch». Ausgestattet mit mindestens drei Augen, die auch Knöpfe sein könnten und Fühlern, die Ohren und Mund ersetzen, ist er zum Aufnehmen äusserer Reize gemacht und somit ausreichend für das Angebot der modernen Unterhaltungsindustrie ausgerüstet.

Carles-Tolrà hat sich keinem Formenkanon, keiner Proportionslehre unterworfen. Grosszügig füllt er das ganze Format, egal ob er einen Vogel darstellt oder einen Elefanten. Dieser selbstbewusste Umgang mit der vorhandenen Fläche zeigt sich bereits in frühen Arbeiten des Rot-Kreuz-Angestellten, eine Konstanz, die selbst Künstlerkollege Jean Dubuffet beeindruckte. Die gelungene Überschau hat in einer umfangreichen Schenkung durch den Künstler einen schönen Anlass, der zugleich Ausgangspunkt einer weiteren, gleichzeitigen Präsentation im Museum im Lagerhaus ist. Pünktlich zum 15-Jahr-Jubiläum des Museums werden unter dem Titel «Von Sammlern beschenkt» grosszügige Gaben an die Stiftung für schweizerische naive Kunst und Art brut gewürdigt. Ähnlich wie bei der aktuellen Präsentation im Kunstmuseum ist auch in der Davidstrasse der eigene Bestand das Thema einer sehenswerten Werkschau. Es gibt Wiedersehen mit alten Bekannten, aber auch Blicke auf selten gezeigte Schmuckstücke. Hans Bleiker etwa ist mit Skulpturen vertreten. Daneben erwarten den Betrachter die mosaikartigen Paläste Alois Weys oder eine Werkgruppe von Louis Sutter. Wie ein Bildhauer die Skulptur mit unzähligen Schlägen aus dem Stein herausarbeitet, entringt er dem Blatt sein Sujet mit ungezählten Strichen. Die sparsam gezeichneten Rinder von Hans Krüsi bilden wiederum einen interessanten Kontrast zu denen von Carles-Tolrà. Obwohl sich beide auf die Grundmerkmale des Tieres konzentrieren, haben sie eine völlig verschiedene Ausdrucksweise gefunden. So ermöglichen die beiden Präsentationen unter einem Dach unerwartete Entdeckungen.

Farbtraum – Traumlicht

Das Berliner Duo Jochen Stenschke und Susanne Windelen ist die erste Doppelausstellung zweier zeitgenössischer Künstler im Museum Liner in Appenzell. Sie lebt von Kontrasten und Berührungspunkten.

Ungewöhnliche Materialien und Gegenstände verwandeln das Museum Liner in Appenzell zu einem Labor zweier Künstler, die auf den ersten Blick vor allem eines gemeinsam haben: die Vorliebe für überraschende Kombinationen und den sehr experimentellen Umgang mit vorgefundenen Dingen. Obgleich der in der Fläche arbeitende Jochen Stenschke und die Bildhauerin Susanne Windelen, beide Jahrgang 1959, unterschiedlichste Medien verwenden, vereint sie die Neugier auf die Aussagekraft des Fremdartigen.

Stenschkes Bilder etwa wirken wie Aquarelle mit mal sattem, mal lasiertem Farbauftrag. Doch bereits der Geruch im Raum führt auf eine andere Fährte: Es schmeckt ölig wie beim Pommes-frites-Stand auf dem Jahrmarkt. Und tatsächlich sind die vermeintlichen Aquarelle mit Altöl gemalt. Schwarze Schlieren ziehen sich über das Papier. Dunkle Flecken beherrschen kleine Formate. Aber die vom Künstler aufgetragene Materie entfaltet eine effektvolle Eigendynamik: Das Fett wird vom Papier mehr und mehr aufgesogen, breitet sich aus und zaubert einen Kranz heller Töne wie eine nach aussen hin sich auflösende Aura um jedes Motiv. Den Bildern haftet zugleich etwas düster Geheimnisvolles oder Archaisches wie auch etwas Romantisches an. Im Kontrast zu diesen einfachen, monumentalen Formen steht die «Picknickecke», eine zwanzigteilige Serie fragiler Zeichnungen, die ausführlicher Betrachtung lohnt. Das Zusammenspiel unterschiedlichster mit leichter Hand hingeworfener Motive erinnert an Telefonkritzeleien ebenso wie an die automatisierten und von Träumen inspirierten Schreibspiele der Surrealisten.

Und hier gibt es nun doch eine weitere Gemeinsamkeit der beiden in Berlin wohnenden Künstler. Denn auch Susanne Windelens Arbeiten rufen in Erinnerung, was die Surrealisten zum Prinzip erhoben: die Allgewalt des Unbewussten. Nicht nur in der Arbeit «Traum» mit ihren schwebenden, weissen Amphoren finden sich derartige Anklänge. Auch die Arbeitstische unter von alten Lampenschirmen durchbrochenen Textilbahnen und die durch lange Schnüre verbundenen, überdimensionalen Stoffhände leben von der Faszination am Unerklärlichen, am Verborgenen und Verbotenen. Besonders gut zeigt sich dies an einer unter einem Holztisch hängenden Glühbirne: Schafft sie einen behaglichen Unterschlupf oder erhellt sie, was doch lieber unbeobachtet bleiben wollte? Der Zweideutigkeiten sind viele.

Wiedersehen macht Freude

Paul Hafner zeigt mit «Einblicke/Ausblicke» Werke aus dem Depot seiner Galerie – und macht auf Einzelausstellungen neugierig. So beginnt das Kunstjahr mit einer für seine Galerie neuartigen Ausstellung. Zu sehen ist eine Zusammenschau mit Werken verschiedener Künstler aus dem Galerieprogramm.

«Wir wollen Position beziehen. Es ist zu sehen, was wir zeigen und wie die Kombination der Künstler miteinander funktioniert», so der Galerist. Verbindungslinien zwischen den Künstlern werden auf diese Weise sichtbar, zugleich zeigt sich die Vielfalt der künstlerischen Ausdrucksformen. Skulptur ist ebenso vertreten wie Malerei, Grafik ebenso wie Fotografie.

Julia Bornefeld ist in zwei Medien zu Hause.Da sind zum einen ihre Bilder aus einem unergründbaren Materialmix. Auf Plastikfolie erzeugt sie mit sparsamer Farbgebung spröde Oberflächen. Schwarze und weisse Farbe in zahlreichen gebrochenen Tönen erzeugt Blasen, Aufwerfungen, Krusten und Flecken. Die Bilder wirken wie Funde aus längst vergangenen Tagen. Ein Eindruck, der in Einklang steht mit den Sujets der 1963 geborenen, in Kiel wohnenden Künstlerin: Glühbirnen, Lampenschirme oder ein Glas. Reduziert auf die Grundform des Gegenstandes wirken sie wie Abbilder seiner archaischen Urform. Durch den hohen Schwarzanteil der Werke, die Reduktion auf das Wesentliche und seine dominante Position innerhalb des gewählten Formates bekommt eine Glühbirne etwas Monumentales, beinahe Bedrohliches. Das Gleiche gilt auch für Bornefelds skulpturale Arbeit. Der Griff eines Regenschirmes mutiert zu einem Seil, die Gestellspitzen treffen sich an einem entfernten Punkt, und über alles legt sich körniger Kohlenstaub. Verkehrt herum aufgehängt mutet dieses Objekt wie eine Falle an.

Ob dieser mystischen Arrangements ist die Neugier geweckt auf eine Einzelausstellung, die Paul Hafner noch in diesem Jahr mit der Künstlerin vorhat. Im deutlichen Kontrast zu diesen düsteren Arbeiten stehen die hintersinnigen Fotografien Stefan Rohners. In Leuchtkästen montiert sind die Werke des Herisauers mehr als nur zweidimensionale Abzüge, sondern bekommen Objektcharakter. Zugleich beginnen die Farben zu strahlen, und der Blick für die Details wird geöffnet. Der Fahrer des Spielzeugbaggers etwa entpuppt sich als der Künstler selbst, und in dem Moment wachsen Sandkörner zu faustgrossen Gesteinsbrocken. Auch Rohner wird in diesem Jahr eine Ausstellung in der Galerie gewidmet sein. Gleiches gilt für den jüngsten der Runde, den Österreicher Tobias Pils, geboren, 1971, dessen grossformatige Zeichnung vom ausgewogenen Spiel zwischen Fläche und Linie, gross und klein, zwischen impulsiv und konzentriert lebt. Die unendlichen Variationen des Striches und der Reichtum der Binnenflächen lassen das Bild zum Erlebnis für das Auge werden. Dagegen entsteht in den kleineren Tuschearbeiten die Spannung besonders aus dem Zusammenklang zwischen zufällig entstandenen Strukturen und kontrolliert gesetzten, an kalligraphische Übungen erinnernden Linien.

Die jüngsten Arbeiten der Ausstellung präsentiert Adalbert Fässler aus Appenzell. Der Künstler, der in der Vergangenheit auch Objekte ausstellte, ist mit zwei Gemälden in der Schau vertreten. Versatzstücke aus der realen Welt werden in ein Spiel aus Linien und Formen integriert, die einen gemeinsamen Rhythmus hervorbringen. Die Linien verlieren sich im Labyrinth, treffen sich wieder, konstruieren und umrahmen Flächen, bis sie sich im Nichts verlieren. Kontrastreich der pastose Farbauftrag, abgetönte Farben bringen reines Blau oder Gelb erst richtig zum Leuchten. Die Bilder verführen mühelos zu einem dritten, vierten und weiteren Blick. Obgleich die meisten der ausgestellten Werke aus dem Depot kommen, so auch die ausgestellten Arbeiten von Michael Kienzer, Helmut Sennhauser und Hans Thomann, lässt sich viel Neues und Sehenswertes entdecken – vor allem entsteht eine gehörige Position Vorfreude auf das Kunstjahr in der Galerie.