Ulrike Kristin Schmidt

Gesammelte Texte

Nachtblaumaler und Raureiferin

Im Auftrag der Uelliger Stiftung haben Jost Hochuli und Louis Ribaux ein Buch mit Notizen und Skizzen von Karl Uelliger herausgegeben. Das Museum im Lagerhaus begleitet die Publikation «Karl Uelliger – Skizzen und Notizen»mit einer kleinen Ausstellung.

Karl Uelliger war in vielen Techniken zu Hause: Ob Tempera, Acryl, Holzschnitt oder die Hinterglasmalerei – in den verschiedensten Arbeitsmethoden kam der 1914 geborene und vor zehn Jahren gestorbene Künstler zu seinem ganz eigenständigen Ausdruck. Sogar die Fassade seines Hauses in Dicken diente ihm als Untergrund für seine Malerei. Während dieses grosse Bild leicht die Blicke auf sich zieht, sind die allerkleinsten Werke Uelligers erst vor kurzem entdeckt und von Ruedi Bannwart und Madeleine Hunziker gesammelt und geordnet worden.

Das Ergebnis dieser Arbeit wird nun auf zweierlei Weise vorgestellt: mit einer Präsentation im Museum im Lagerhaus und einem Buch, herausgegeben von Jost Hochuli und Louis Ribaux im Auftrag der Karl und Hanna Uelliger Stiftung, veröffentlicht in der Verlagsgesellschaft St. Gallen. Hier ist nun ein kleiner Teil des bislang unbekannten Uelliger zu sehen, des Uelliger, der stets Notizbüchlein, Briefumschläge, Abreissblöcke, Merkheftchen oder selbstklebende Etiketten in den Taschen verbarg, um die zu jeder Zeit herbeifliegenden Gedanken in Wort oder Bild festzuhalten. Kein Zettel war zu klein, als dass er nicht noch für eine Zeichnung oder einen Satz Platz bot. Karl Uelliger beobachtete, dachte, fühlte und kritzelte schliesslich. Mal verkündet er: «Heute will ich meine Fantasie in der Sonnenkutsche fahren lassen», dann wieder sind es «Schneeflocken gesehen in Herisau», die seine Aufmerksamkeit fesseln. Erlebte Szenen aus dem Alltag kontrastieren mit poetischen Traumsequenzen. Da sitzen Menschen auf Kirchtürmen, reiten auf Wolken oder sitzen einfach nur auf einer Bank und warten, oder erscheinen Kreationen wie das Familienei, der Nachtblaumaler, der Spätsonderling, der Langnachtmorgen, die Raureiferin oder ein Sonnenregenbriefschreiber. Die Schrift steht dabei gleichberechtigt neben dem Bild. Es gibt ebenso Zeichnungen ganz ohne Text, wie es Verse oder Aphorismen ohne Illustrationen gibt. Und mitten in all dem steht plötzlich «Billet bestellen».

Karl Uelliger mischt Text und Bild, Beiläufiges und Philosophisches, und es ist eine Stärke des neu erschienenen Büchleins, genau das wieder aufzugreifen. Bereits vor dem Blick zwischen die Buchdeckel erfreut es den Leser und Betrachter ob der bei Gestaltung und Produktion an den Tag gelegten Sorgfalt. Und der gute erste Eindruck setzt sich im Innenteil fort. Texte und Bilder erscheinen in geistreichem Wechsel. Tagebuchaufzeichnungen und eine Kurzgeschichte geben ebenso aufschlussreiche Einblicke in Uelligers Kosmos wie eine Seite mit einer Liste besonders schöner Bildtitel wie «Dorfwinde erzählen Gassensagen», «Der Abendgänger nimmt die Nacht zum Schutzengel» oder «Mein Hausberg hat Wolkenfest zum Frühlingsanfang». Hier werden die Worte beinahe selbst schon zum Bild. Bei der Edition der Texte wurde mit grosser Achtung vor dem Original vorgegangen. Und das gilt auch für die nahezu vollständig in Originalgrösse reproduzierten Bilder. Die Druckqualität vermittelt einen Grossteil der Spontanität und Frische von Uelligers Skizzen. Das lässt sich leicht überprüfen bei einem Vergleich mit den im Museum im Lagerhaus ausgestellten Werken. Die zarten Linien, der mitunter zaghaft wirkende Strich, ja sogar die Grauwerte einer Bleistiftschraffur gingen im Buch nicht verloren. «Das Ganze ist mehr wie die Summe der Teile» zitierte Karl Uelliger auf einem seiner Zettel Aristoteles, und angesichts von Buch und Ausstellung möchte man hinzufügen: Doch jeder noch so kleine Teil lohnt der genauen Betrachtung.

Rauhe Bilder, glatte Steine

Die St. Galler Erker-Galerie zeigt eine Doppelausstellung mit Skulpturen von Karl Prantl und Grafiken von Antoni Tàpies. Beide Künstler sind mit sehr unterschiedlichen Mitteln archetypischen Erfahrungen auf der Spur.

Im Jubiläumsjahr des Kantons gibt es zugleich auch manch anderen runden Jahrestag zu feiern. Drei dieser besonderen Daten sind Anlass für die aktuelle Ausstellung in der Erker-Galerie mit Werken von Antoni Tàpies und Karl Prantl. Beide Künstler feiern Ende diesen Jahres ihren 80. Geburtstag, und gleichzeitig ist es vierzig Jahre her, seit Tàpies die erste Ausstellung in der St. Galler Galerie gewidmet wurde. Während dieser Zeit gab der Erker-Verlag zahlreiche Tàpies-Bildbände heraus, ausserdem erschienen hier die gesammelten Schriften des Künstlers, bibliophile Bücher und Mappenwerke mit Originaldrucken.

Ein ganz besonders Augenmerk verdient das «Album St. Gallen», eine 1965 entstandene Mappe mit farbigen Lithografien des Künstlers, denn im ersten Galerieraum werden nun neben weiteren Beispielen aus dem grafischen Werk die Vorlagen zu acht der zehn Blätter gezeigt. Vor einem vergleichenden Blick in die aufliegende Mappe lohnt es sich, die einzeln präsentierten Gouachen anzusehen. Obgleich der in Barcelona geborene Tàpies vor allem für seine Materialbilder aus fixiertem Sand, aus Mörtel, Leim, Gips oder gefärbtem Zement und ab den achtziger Jahren für die Schamotteplastiken bekannt ist, ist seinem grafischen Werk eine ebenso grosse Bedeutung zuzumessen. Die betonte Stofflichkeit seiner Werke und ihr Realitätsbezug, der oft politisch gedeutet wurde, findet sich auch in diesem Medium wieder.

Ähnliches gilt für die typischen Bilddetails: Tàpies verwendet Buchstaben, Kürzel und mathematische Zeichen, jedoch ohne damit eine konkrete Sprache zu entwickeln. Inklusive der Abdrucke von Körperteilen verbindet sich alles zu einer undurchdringlichen Symbolsprache, die sich der oberflächlichen Deutung verschliesst und stattdessen tiefere Bewusstseinsschichten öffnet. Dies funktioniert in den Gouachen wie auch bei den etwas weniger unmittelbaren Lithografien, wie der direkte Vergleich zeigt. In den Gouachen sind es neben den impulsiven Gesten immer wieder die feinen Linien, die das Auge in seinen Bann ziehen, die unvergleichliche Transparenz einer zart aufgetragenen Farbfläche, die kreidigen Striche und nicht zuletzt die Arbeitsspuren des Künstlers: die mitunter kaum wahrnehmbaren, unbeabsichtigten Fingerabdrücke, die Schmutzspuren und das manchmal verletzte Papier. Die in den Lithografien als grosse Flächen erscheinenden Elemente entpuppen sich in den Gouachen als Collagen, die für reliefhaft haptische Momente sorgen. In ihnen offenbart sich zugleich einer der Anknüpfungspunkte zwischen Tàpies und Prantl.

Die Haptik ist nämlich auch für Karl Prantl ein zentrales Element seiner Arbeit. Hier ist Anfassen erlaubt, ja sogar gefordert. Der im Burgenland geborene und nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges aus dem Schweizer Exil nach Österreich zurückgekehrte Künstler entdeckt das Eigenleben der Steine und spürt ihm in endlosem Polieren und Glätten der Oberfläche nach. Der Reichtum der formal einfachen Grundformen entwickelt und zeigt sich an der Oberfläche der Kuben oder Stelen. In sanft geschwungenen reliefartigen Erhöhungen lassen sich Adern, Segmentschichten und farbige Einschlüsse ertasten oder laden neben ausgewogenen Rundungen und geraden Flächen zum Sreicheln ein. Die Steine werden zum Anlass sinnlicher Erfahrungen und verführen zum Sehen durch Fühlen, zum Schweigen und Innehalten. Ihr meditativer Charakter speist sich aus der ursprünglichen, archetypischen Suche nach dem Absoluten und bildet eine zweite Parallele zum Œuvre Tàpies‘. Die Werke beider Künstler sind aufgeladen mit geistiger und emotionaler Energie, die sie ohne Umwege an den Betrachter weitergeben.

Auf nach Arpenzell!

«Mondquadrat» in Appenzell: Museum Liner und Ziegelhütte laden mit Werken aus der Sammlung Arp-Hagenbach zu einer Zeitreise in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Als Marguerite Hagenbach 1937 je ein Gemälde von Sophie Taeuber-Arp und László Moholy-Nagy erwirbt, ist der Grundstein zu einer der bedeutendsten Schweizer Sammlungen konkreter und konstruktiver Kunst gelegt. Über Jahrzehnte hinweg vergrössert sich der Bestand kontinuierlich und wird ergänzt um Schlüsselwerke des Dadaismus und Surrealismus. In den Sechziger- und Siebzigerjahren verschenkt die mittlerweile mit Hans Arp verheiratete Sammlerin zahlreiche Werke an Museen im In- und Ausland und richtet zwei Stiftungen ein; so werden ihre und Arps Sammlung mehr und mehr öffentlich zugänglich. Schliesslich überträgt sie 1988 den noch verbliebenen Teil an die von ihr gegründete Fondazione Marguerite Arp-Hagenbach in Locarno.

Die Stiftung Liner führt jetzt mit ihrer Ausstellung «Im Mondquadrat – Aspekte der Sammlung Arp-Hagenbach» für drei Monate wieder zusammen, was einmal zu-sammengehörte. Werke aus Teilsammlungen in Locarno und den Kunstmuseen Basel und Bern fügen sich zu einer Präsentation, die einige der wichtigsten Kunstströmungen des 20. Jahrhunderts augenfällig macht. Grund dafür ist, neben der chronologischen Hängung, die Qualität der Arbeiten. Der Ausstellungsauftakt mit «Dada und den Folgen» zeigt gleich eine Stärke der Sammlung: Neben Objekten ersten Ranges, die von den Dadaisten freilich als Antikunstwerke konzipiert waren, runden wertvolle Dokumente wie die Dadazeitungen «Bulletin D» oder die «Schammade» das Bild der Bewegung ab. Eine andere Besonderheit sind die in nahezu allen Räumen präsenten Werke von Sophie Taeuber-Arp und Hans Arp, die an die untrennbar mit dem Leben des Avantgardistenpaares verknüpfte Geschichte der Stifterin erinnern. Zugleich zeigt sich darin die Durchlässigkeit der damaligen «Kunstismen», wie Lissitzky und Arp in ihrem 1925 erschiene-nen, ebenfalls ausgestellten Bänd-chen titelten. Bereits zwischen Dada und Surrealismus waren die Grenzen fliessend, doch auch zwischen den Antikünstlern und den Konstruktivisten gab es mehr oder weniger sichtbare Fäden. So arbeiteten Hans und Sophie Taeuber-Arp mit dem De-Stijl-Künstler Theo van Doesburg an der Ausgestaltung des Tanzcafés Aubette in Strassburg.

Die dichte Hängung der Werke erlaubt kaum ein Atemholen, Höhepunkt folgt auf Höhepunkt, so die installierten Rotoreliefs Marcel Duchamps oder die wunderbaren Zeichnungen Francis Picabias, die sich trotz ihrer Sparsamkeit der Linie mühelos im Parcours ihren Platz erobern. Die Ausstellung endet nicht dort, wo der Zweite Weltkrieg seine schmerzhafte Zäsur setzte, sondern knüpft mit einem umfangreichen Ausblick in die Zeit danach an: in drei Räumen im Museum Liner und beiden Stockwerken der Ziegelhütte. Konkrete Kunst findet sich ebenso wie Op Art, Informel und Tachismus bis hin zum Abstrakten Expressionismus eines Willem De Koonings. Mit zwei Werken des Neodadaisten Jasper Johns schliesst sich der Kreis.

Es grünt so grün

Das Kunstmuseum St. Gallen lädt zu einem «Gang durch die Landschaft in der Kunst». Die Sammlungsausstellung «Ungezähmt – Gezähmt»präsentiert ein grosses kunsthistorisches Genre durch erstrangige und selten gezeigte Meisterwerke.

Landschaftsmalerei zeigt die Natur, gibt Licht, Luft und Perspektive wieder, doch ihr entscheidendstes Kennzeichen ist das Verhältnis des Menschen zur natürlichen Umwelt. Landschaftsbilder erzählen von Gedanken und Gefühlen und sozialen Standpunkten. Ob Paradies- und Weltbilder oder arkadische Idyllen, ob heroisch verklärte Ideallandschaften oder romantische Wildnis, ob bedrohte oder bedrohliche Natur – das Spektrum der Naturdarstellungen reicht so weit wie der gesellschaftlich bedingte Umgang des Menschen mit der Natur. Ein weites Feld also, dessen sich das Kunstmuseum St. Gallen mit seiner aktuellen Sammlungsausstellung annimmt.

«Ungezähmt – Gezähmt»: Unter diesem Motto verspricht die Ausstellung einen «Gang durch die Landschaft in der Kunst». Voraussetzung für die Spaziergän-ger ist ausreichend Musse zum Schauen. Der Auftakt findet sich schon im Foyer und ist von einem der ganz Grossen der Landschaftsmalerei des 19. Jahrhunderts, dem Luzerner Robert Zünd. Sein grossformatiger «Gang nach Emmaus» von 1877 vertritt einen der Schwerpunkte der Ausstellung: qualitätvolle, zum Teil selten ausgestellte Meisterwerke von Schweizer Künstlern. Zünds entrückte Landschaft, ein Bild vollendeter Harmonie zwischen Mensch und Natur, war seit Jahrzehnten nicht im Kunstmuseum zu sehen. Gleiches gilt für ein kleines Landschaftsbild Gottfried Kellers. Doch bevor sein «Ausblick vom Hottingerberg ins Limmattal» als ein Beispiel der «gezähmten» Landschaft den Betrachter erwartet, ist erst einmal unbezwungene Natur zu durchschreiten. So konfrontieren die flämischen Meister des späten 16. und frühen 17. Jahrhunderts den Menschen mit undurchdringlicher Wildnis. Im 19. Jahrhundert dann rücken die Schweizer Alpen mehr und mehr ins Blickfeld. Künstler wie Johann Gottfried Steffan oder der St. Galler Andreas Renatus Högger widmen sich der übermächtig erscheinenden Bergwelt. Die Wende schliesslich von unwegsamen Wäldern, schroffen Felsen und bedrohlichen Wolkengebirgen markiert die Präsentation mit Rafael Ritz‘ «Touristen auf dem Piz d’Arinzol», 1879. Hier ist der Gipfel bezwungen, der Fremdenverkehr hat sich die Natur erobert. Der Rest wird heiter: Vorbei an durchsonnten Szenen der französischen Impressionisten, beschaulichen Motiven der Romantiker und den Gegenden aus der Schule von Barbizon, hin zu erstrangigen Gemälden der holländischen Maler des 17. Jahrhunderts, in denen sich der Mensch in seinem Lebensraum frei und selbstbewusst bewegt. Der durchdachte Gang durch die Epochen endet also bei den Künstlern, die als Erste das veränderte Verhältnis zur Natur, die Urbanisierung thematisierten.

Es ist mittlerweile Tradition, dass das Kunstmuseum in seinen Sammlungspräsentationen Werke von gestern und heute kommunizieren lässt. So schlängelt sich Christoph Rütimanns «Hand-Lauf in und um Stans» von 2001 auf der Natur entrissenen Wegen entlang, während sich Roman Signers «Aktion mit einer Zündschnur» (1989) die Landschaft durch aufgetürmte Zündschnüre, Landkarte sowie Start- und Zielstation auf einer gedanklichen Ebene erschliesst. Ohne sich einem der beiden grossen Themenkomplexe eindeutig zuordnen zu lassen, eröffnen die beiden Werke auf dem Weg durch die gezähmten und ungezähmten Landschaften zusätzliche, aktuelle Blickwinkel auf die Natur und dadurch auch auf die Werke ihrer Vorgänger.

Skulpturen ohne Skulptur

Der Wiener Künstler Tobias Pils versteht seine Werke nicht als Grafiken, sondern als ungebaute Skulpturen. Die Arbeiten in der Galerie Paul Hafner verlangen einen geduldigen Betrachter.

Die Bilder von Tobias Pils sind eigentlich gar keine Bilder. Sie haben weder Zentrum noch Leserichtung, es gibt nur «Pseudoeinstiegsmöglichkeiten», wie es der Künstler nennt, doch die führen schnell ins Ungewisse und werfen weitere Fragen auf. Welche Linien führen das Betrachterauge weiter, welche verlieren sich im Nichts? Reissen die grossen schwarzen Flächen auf oder verschliessen sie sich kontinuierlich? Was hat es mit den vermeintlich gegenständlichen Bezügen auf sich? Denn im Netz gerader Striche und halb verborgen von grauen Tuscheschleiern entwickeln sich Linienknäuel und Verästelungen, die sich noch nicht entschieden haben, ob sie pflanzlicher oder kristalliner Natur sind. Sind es Ornamente oder archaische Überreste der Fauna?

Die Werke verlangen einen geduldigen Betrachter, einen, der sich genügend Zeit lässt, um auch einmal in die Irre geführt zu werden, und der keine fixen Verweil- und Orientierungspunkte braucht. Zwar verwendet der 1971 in Linz geborene und in Wien lebende Tobias Pils ein fes-tes Formenrepertoire, doch das System lässt Abweichungen und Mutationen zu. Immer neue Varianten findet der Künstler zu einem Thema. Allen in der Galerie Paul Hafner ausgestellten Arbeiten auf Papier ist eine grosse Spannung gemein. Das ist nur zum einen durch die formalen Gegensätze zwischen Fläche und Linie, zwischen Gebogen und Gerade begründet. Wichtige Spannungsmomente entstehen auch durch den Material-und Technikmix. Breite, ausfasernde Striche mit Kohle kontrastieren mit feinen Bleistiftlinien. Grosse dunkle Tuscheflächen mit strahlend weissen Collageelementen. Die Tusche wird mal stark verdünnt, mal in ihrer dichten Schwärze aufgetragen. Einkalkulierte Tropfen haben Spuren auf den Blättern hinterlassen und werden von akkurat gezogenen Linien wieder aufgenommen. Neben scharf umrandeten grossen Formen gibt es Wolken aufgesprühter Tusche. Besonders beeindruckt eine nahezu zwei Meter hohe Arbeit mit dem völligen Verzicht auf grossflächigen Materialauftrag. Tobias Pils fuhr nur wenige Male mit dem Stift über das Papier, setzte sparsam Tusche ein und fängt daraus resultierende Unregelmässigkeiten mit präziser Geometrie auf. Hier lässt sich erahnen, was der Künstler meint, wenn er «am liebsten Luftbilder machen» möchte. Das grossformatige Werk verschwindet beinahe in der Immaterialität. Der Bildträger Papier trägt wesentlich dazu bei. Sein Weiss gleicht dem Weiss der Galeriewand. Und obgleich es gerahmt und aufgezogen ist, erreicht es nicht den Objektcharakter einer aufgespannten Leinwand. Leicht schweben die Linien und scheinen ganz unabhängig von ihrem Entstehungsort zu existieren.

Tobias Pils versteht denn auch seine Werke nicht als Grafiken, sondern als ungebaute Skulpturen. Dies lässt sich insbesondere an der grössten Arbeit im Rahmen der Ausstellung nachvollziehen. Die Linien, auch hier akzentuiert von einer Tuschesprühwolke, fügen sich zu einem räumlichen Konstrukt unabhängig von ihrer zweidimensionalen Präsenz. Sie umschreiben eine Leerstelle, die dadurch zur Form wird. Das verweist beinahe schon auf Prinzipien der Minimal Art. Doch plötzlich schiebt sich ein gelber Schädel eines Ziegenbockes ins Blickfeld. Verkehrtherum aufgehängt, mit den Hörnern zur Wand, zeigt er seine Zähne und ein tiefes schwarzes Loch, wo einst die Wirbelsäule endete. Auf der Werkliste ist er nicht verzeichnet, was tut der also hier inmitten dieser grau-schwarz-weissen Schöpfungen? Tobias Pils baut den Schädel als Klangverstärker ein. Plötzlich erinnern die Zähne an die ornamentalen Strukturen und Liniengewebe oder ist es andersherum? Erinnern die verzweigten Linien an Zähne? Der Blick öffnet sich für mögliche und unmögliche Vergleiche. Aber alles bleibt Andeutung, der Betrachter ist zum Selbersehen aufgefordert.

Dreimal die Achtziger

Einen Blick zurück und einen Vorgeschmack auf ihre letzte Ausstellung im Lagerhaus gibt Susanna Kulli mit «Framed». Zu sehen sind Werke aus den 80er- Jahren von Oliver Mosset, Gerwald Rockenschaub, John Armleder – drei Künstler aus ihrem Galerieprogramm.

Susanna Kulli präsentiert die vorletzte Ausstellung in ihren Galerie-Räumen im Lagerhaus. Vor dem Umzug nach Zürich sind noch einmal drei grosse Namen aus dem Galerieprogramm vertreten. Oliver Mosset, Gerwald Rockenschaub und John Armleder waren in den vergangenen zwanzig Jahren mehr als einmal in sorgfältig ausgewählten Einzelpräsentationen in der Galerie zu sehen. Nun sind sie gemeinsam, jeder mit wenigen und umso mehr sehenswerten Werken ausgestellt. Da sind beispielsweise die frühen Gouachen und Zeichnungen Gerwald Rockenschaubs. Alle sechs Blätter stammen von 1982, jenem Jahre also, in dem sich Rockenschaub vom expressiven Gestus der früheren Jahre löst und sich der Geometrie zuwendet. Bald darauf wird der 1952 in Linz geborene Künstler zu einer Isolation der Zeichen gelangen, die er in seinen späteren Computerbildern in Reinstform zelebriert.

Die kleinformatigen Bilder zeigen sehr anschaulich, wie sich dieser Übergang von der komplexen geometrischen Struktur zum Einzelsymbol vollzieht. Auf fünf Bildern wird die gesamte Fläche mit einem spielerisch angelegten Raster aus Dreiecken und Vierecken rhythmisiert. Trotzdem Rockenschaub hier ausschliesslich auf Handarbeit setzt, fällt die grosse Präzision ins Auge, die als Vorzeichen für seine spätere Vorliebe für abstrakte Zeichen und Muster vom digitalen Fliessband gelesen werden kann. Das sechste Bild zeigt eine das ganze Format beherrschende lineare Form. Hier ist der Schritt zur Chiffre, zur zeitgenössischen Hieroglyphe vollzogen. Ergänzt werden die frühen Arbeiten von drei Siebdrucken der späten Achtziger auf Plexiglas, Werke, in denen die Unregelmässigkeiten der früheren Handarbeit in reproduzierbare Perfektion übertragen ist.

Diese spannende Gegenüberstellung früher Werke mit solchen der jüngsten Vergangenheit setzt sich fort in den ausgestellten Arbeiten John Armleders. Auch er ist für die kühle Präzision in seinem Werk bekannt und ausserdem für das immer wieder auftauchende Motiv des Seriellen. Besonders fällt in diesem Zusammenhang eine Zeichnung aus dem Jahre 1970 auf. Armleder erzeugte hier mittels Abreibung der Bleistiftzeichnung ein seitenverkehrtes Doppel eines kleinen Satanspaares: aus zwei mach vier. Mit ihrer Vervielfältigung und durch ihre homogene Binnenfläche bekommen auch die Teufel plötzlich Zeichencharakter, ein Vorgang, der sich beispielsweise in den jüngeren Klecksbildern Armleders vielfach wiederholt. Die um hundertachtzig Grad gedrehten Zahlenreihen einer Arbeit aus dem Jahre 1998 verraten ihre logische Struktur dagegen nicht auf den ersten Blick. Auf den Kopf gestellt, wird auch Mathematik schwer lesbar – doch nicht weniger faszinierend. Der Dritte im Bunde von «Framed», so der Titel der Präsentation, ist schliesslich Oliver Mosset. In der Vergangenheit stellte er mehr als einmal gemeinsam mit John Armleder aus. Der Schweizer, Jahrgang 1944, ist mit drei kleinen Acrylbildern auf Karton aus dem Jahre 1996 und dem vierteiligen Siebdruck «References» (1980) in der Zusammenschau vertreten. Ein denkbar kleiner Ausschnitt also aus einem Œuvre, dessen Dimensionen in der kürzlich zu Ende gegangenen Retrospektive im Kunstmuseum St. Gallen deutlicher wurden.

Doch selbst in dieser Konzentration zeigt sich die Klarheit und Brisanz seiner sowohl dem Radical Painting nahe stehenden wie auch den reduktionistischen Programmen aus der Zeit der Zusammenarbeit mit Daniel Buren, Michel Parmentier und Niele Toroni verpflichteten Werke. So sind sowohl Beispiele seiner monochromen Bilder zu sehen wie auch ein sehr schönes Exemplar seiner Streifenbilder mit roten vertikalen Linien auf vier rechteckigen, weissen Tafeln. Die vorletzte Präsentation bei Susanna Kulli hat ihren Schwerpunkt auf Arbeiten aus den Achtzigerjahren. Damit richtet sie den Blick zurück und gibt zugleich einen kleinen Vorgeschmack auf die kommende Abschiedsausstellung der Galerie in den Räumen des Lagerhauses an der Davidstrasse.

Von vielschichtigen Beziehungen

Was ist wirklich und was ist inszeniert? Im Alltag gibt es unzählige Verknüpfungen beider Erscheinungen. Das spannungsgeladene Verhältnis wurde am Samstag in der Kunsthalle an einem Symposium thematisiert.

Ist nicht jede Inszenierung auch bereits Realität? Beinahe permanent wird die Wahrnehmung mit Inszenierungen konfrontiert, herausgefordert oder sogar manipuliert. Dank einer Kooperation mit dem Verein Ostschweizer Psychotherapeuten konnten in der Kunsthalle spannende Einblicke in zwei Disziplinen gewonnen werden, in denen auf ganz unterschiedliche Weise mit konstruierten Realitäten gearbeitet wird.

Während in der Kunst die Inszenierung als Mittel dient, bestimmte Inhalte und Stimmungen zu visualisieren, ist sie in der Psychotherapie ein Symbol der Patienten für Erlebtes und Erfahrenes. Am einen Ort entsteht also eine intime Arbeitssituation, deren Ergebnis die Wirklichkeit ist. Am andern Ort wird den Rezipienten eine individuelle Wahrnehmung des Dargestellten ermöglicht. Doch es gibt auch Gemeinsamkeiten. Hier wie dort wird kommuniziert, dient die Inszenierung als Verständigungsmittel, eine Tatsache, die Hans Holderegger, Mitglied der Schweizerischen Gesellschaft für Psychoanalyse und Dozent am Freud-Institut Zürich, sehr anschaulich darstellte. Und so sind die Beispiele zahlreich: Goethes Liebeslyrik sensibilisierte den Leser ebenso wie etwa Expressionisten grosse Gefühle evozierten. Holderegger hob hervor, dass es die künstlerischen Werke sind, die die emotionale Qualität dessen annehmen, was der Mensch erlebt. Indem sie Assoziationen auslösen, ermöglichen sie eine vitale Neuorganisation der inneren Welten. Das sei auch ein Ziel der Psychoanalyse: die Wiederbelebung einer von Konflikten und Traumatas blockierten inneren Welt. Die Künstler also als die Psychoanalytiker der Gesellschaft? Holdereggers Referat provozierte in positivem Sinne viele Fragen, ein Weiterdenken seiner Thesen ist lohnenswert; auch für Nicht-psychotherapeuten, die an diesem Nachmittag jedoch eindeutig in der Unterzahl waren.

Das wurde insbesondere auch beim Gespräch im Anschluss des zweiten Vortrages deutlich. Dieser widmete sich der «Videoselbstdarstellung zwischen Performance und Self-Editing». Letztgenannten Begriff entwickelte die Referentin Irene Schubiger, Kunsthistorikerin und Mitarbeiterin an der Hochschule für Gestaltung und Kunst in Basel, um die Situation der Künstler zu beschreiben. Diese liefern sich zunächst der Technik aus, um dann am Schneidetisch das von sich selbst aufgenommene Bild nachträglich zu gestalten. Die Brisanz des Vorganges wurde begreiflich beim Vergleich mit dem gemalten Selbstporträt. Dabei dient seit jeher der Spiegel als zentrales Hilfsmittel, doch der Blick in denselben und jener auf die Leinwand sind zwei getrennte Vorgänge. Der Monitor dagegen zeigt alles direkt, seitenrichtig und nicht zeitverzögert. Aber auch er liefert nur ein äusseres Bild. Mit sorgfältig ausgewählten Beispielen von selbstzerstörerischen Akten bis zur Absenz des Subjektes illustrierte Frau Schubiger die Möglichkeiten im Bereich künstlerischer Selbstdarstellung. Gianni Jetzer, Leiter der Kunsthalle St. Gallen, warnte darauf eindringlich davor, die Künstler zu pathologisieren, sind doch ihre Werke als wissentlich entwickelte Bilder zu begreifen. Es folgte eine angeregte Diskussion über den gemeinsamen Nenner zwischen Kunst und Psychoanalyse.

Arbeit am Ideal

Thomas Schütte widmet sich in gewohnt geistreicher, kurzweiliger Weise seinen künstlerischen Vorgängern und dem ganz normalen Lebensalltag. Die Ergebnisse dieser Auseinandersetzung präsentiert das Kunstmuseum Winterthur.

Wenn es nach Thomas Schütte geht, müssen auch Terroristen mal Ferien machen, und zwar – als Kontrast zu ihrer Untergrundtätigkeit – in Häusern mit farbenfrohen, transparenten Wänden. Die Formensprache der Architektur der Moderne, ihre Klarheit und Vorliebe für Primärfarben, wird damit ihrer sozialromantischen Assoziationen beraubt – denn wer gönnt Terroristen schon ein Ferienhaus? Ausser Thomas Schütte.

Der 1954 geborene, in Düsseldorf lebende Künstler ist in seinen jüngsten Arbeiten einmal mehr immun gegen die Forderungen der Political Correctness. Auch mit dem hohen Anspruch der Kunst hat Schütte wenig im Sinn. Gezielt widmet er sich geringgeschätzten Techniken. So ist er sich nicht zu fein, mit der Modelliermasse Fimo oder mit Ton zu arbeiten – Material fürs Kindergartenalter oder Werkstoff der Kunsthandwerker. Die breit angelegte Ausstellung mit Schüttes aktuellster Werkphase im Kunstmuseum Winterthur, die anschliessend in Grenoble und Düsseldorf zu sehen sein wird, präsentiert aus diesem Bereich die «Urnen» aus dem Jahre 1999, die im vergangenen Jahr entstandenen «Köpfe» und die Arbeit «You Are My Stars», 1998.

Zu einer Zeit, in der kaum ein Künstler noch Interesse am Medium Ton und seinen Möglichkeiten zeigt, schöpft Schütte aus dem Vollen. Seine Keramiken ertrinken in Glasur, sind extrem bunt. Spritzer, Tropfen und Kleckse bestimmen den Eindruck. Dabei beruhen die Urnen, obgleich sie allein durch ihre Grösse jeglichen Gebrauchsgedanken ad absurdum führen, noch auf bekannten Formen, und die Köpfe stehen trotz ihrer Farbgebung und Grösse in einer dem Antropomorphen verpflichteten Tradition – dagegen konfrontiert «You Are My Stars» mit Ungewohntem. Seltsame Dinge, die da auf dem Boden stehen; sind es Eier, Boviste, geschrumpfte Hünengräber? Es sind Gestalten eines Künstlers, der sich mit den überlieferten Bildern und Formen auseinander setzt und dann seine eigenen, überraschenden Wege geht. Eindrücklichstes Beispiel dafür sind Schüttes Stahl- und Bronzefrauen. Der weibliche Körper, über Jahrtausende hinweg im Mittelpunkt künstlerischen Interesses, schien in den vergangenen Jahrzehnten kaum noch zu spannenden skulpturalen oder plastischen Auseinandersetzungen anzuregen. Alles schien gesagt. Doch der Gerhard-Richter-Schüler Schütte hat gelernt, hinzuschauen und auf der Basis des Studiums der Natur und von Vorgänger-Werken ein neues Vokabular zu entwickeln. Was er zunächst in kleinen Fimo- und Ton-Bozzetti verwirklichte, wirkt in Überlebensgrösse übertragen wie die reine Provokation. Da werden Liegende plattgewalzt, geköpft oder zerfliessen über seziertischartigen Sockeln, da werden Wirbel zu Rückenflossen, Gliedmassen zu Weichteilen und Schulterblätter zu Filetstücken.

Kunstfreunden und -freundinnen, welche solche künstlerischen Gewaltakte empören, lässt sich entgegenhalten, dass Schütte gerade durch seinen unbefangenen Umgang mit dem, was über Jahrhunderte hinweg als Bild des Weiblichen etabliert wurde, auf Distanz geht zu den Idealen. Zwar erinnern die überdimensionalen Akte nur noch entfernt an die Skulpturen Maillols, Rodins oder Lehmbrucks, und doch ist Schüttes kritische Auseinandersetzung mit den Vätern der Moderne nicht zu übersehen. Es ist der besonderen Situation im Kunstmuseum Winterthur zu verdanken, dass der Besucher auf dem Weg von und zu Schütte an Werken all der Genannten vorbeispaziert. So wird noch einmal evident, was Schütte mit seinen Werken vor- und angedacht hat.

Betörend und verstörend

Auf den ersten Blick scheinen Julia Bornefelds Objekte und Bilder in der Galerie Hafner  rein ornamental. Doch auf den zweiten wirken die Arbeiten der Künstlerin dann auf subtile Weise unheimlich.

Fünfzehn Jahre lang arbeitete Julia Bornefeld ausschliesslich mit Schwarz und Weiss. Ob Objekte aus Federn, Nessel oder Schirmskeletten, riesenhafte Installationen oder Bilder mit Kohlenstaub, Grafitpulver, Acryllack und Öl – die 1963 geborene und in Kiel und Bruneck lebende Künstlerin verzichtete in ihren Werken auf jegliche Farbe. Düster, aber dennoch leicht und fragil muteten sie an. Geheimnisvoll wirkten sie, besassen aber stets grosse formale Klarheit.

An Letzterem hat sich bis heute nichts geändert, aber in farblicher Hinsicht setzen Bornefelds jüngste Arbeiten, derzeit ausgestellt in der Galerie Paul Hafner, neue Akzente. Zu den beiden Nichtfarben hinzugekommen ist ein Ton, der sich als Hautfarbe beschreiben liesse. Der Körper, vertreten durch sein Inkarnat, hat in Bornefelds Arbeiten Einzug gehalten. Das geht einher mit der Verwendung eines völlig neuen Arbeitsmaterials: Strumpfhosenstoff.

Den Galerieraum dominieren zwei Drahtballons, beide bezogen mit dem dünnen, durchsichtigen Gewebe. Der eine, kleinere, ist vollständig vom Material umgeben, dem anderen, grösseren, ist die Aussenhaut teilweise vom Skelett gerutscht, schlaff hängt die zu grosse Hülle herab. Verbunden sind die beiden durch ein dickes schlauchartiges Gebilde. Sehr schnell lässt sich ein konkreter körperlicher Bezug herstellen: Wir sehen Mutter und Kind vereint durch die Nabelschnur. Julia Bornefeld interessiert feminine Ästhetik ebenso sehr wie die grundlegenden Leben spendenden Prozesse und ihr allererster Ausgangspunkt: die erotischen Verlockungen des ewig Weiblichen. In der Verwendung von Strumpfhosenstoff hat sie ein Material gefunden, das Weiblichkeit repräsentiert und dabei in seiner Zartheit und Transparenz einerseits verführerisch, andererseits in seinem offensichtlichen Versuch, Haut nachzuahmen, auch abstossend wirken kann. Denn es sind nicht die seidig schimmernden Kreationen aktueller Strumpfdesigner aus dem nahen Bregenz, die Bornefeld verwendet, sondern eher grobes Material, wie es wahrscheinlich nur noch in abgelegenen, nicht dem neuesten Trend verpflichteten Geschäften zu haben ist und wie es für eine Zeit steht, in der Erotik für die Mehrheit noch mit dem Bann des Unanständigen belegt war.

Hier kommt also ein seltsamer Bruch in den Werken der Künstlerin zustande. So zu sehen beispielsweise in der Arbeit, bei der ein trichterförmiges, mit der Spitze an der Wand befestigtes Eisengestell so mit Strumpfhosenstoff bezogen ist, dass sich kleeblattförmige Öffnungen ergeben, die jedoch in der Frontalansicht wieder wie mit einer Epidermis verschlossen werden. Hier wird offenbart und doch verhüllt, hier kontrastiert Spannung und Kraft mit fragilem Material. Gleiches gilt für die auf einen Eisenring gezogenen fünf Strumpfhosen. Obwohl komplett in Schwarz gehalten, setzt sich auch hier das Oszillieren zwischen schönen und unheimlich wirkenden Aspekten fort. Zwar wirkt die Arbeit auf den ersten Blick rein ornamental, doch auf den zweiten auch subtil unheimlich. Denn schliesslich sind es Strumpfhosen, die da gedehnt, gezwängt, über das Eisen gezogen und gebunden werden, und damit bewahrt sich die Arbeit den Bezug auf den Körper, auch wenn die Zeiten, in denen Menschen gerädert wurden hunderte von Jahren zurückliegen. Die Ambivalenz ihrer dreidimensionalen Werke setzt sich in Bornefelds Gemälden fort. Blüten, Muscheln und Unterhosen evozieren nicht zuletzt mit Hilfe sparsam eingesetzten Inkarnats auch hier Weibliches. Als Symbole für Geschlecht und Geschlechtliches lässt die Künstlerin sie mit Hilfe gekonnt eingesetzter weisser Farbe geheimnisvoll leuchten. Doch die Formen sind nicht zart und verletzlich, sondern beherrschen monumental jeweils das gesamte Bild. Sie entfalten eine Präsenz, die zugleich betört und verstört. Der Sprung in die Farbe hat den Werken von Julia Bornefeld nicht geschadet, im Gegenteil, ihre Arbeiten sind um eine spannende Facette reicher.

Von Abstrakt bis Akrobatisch

«Outside the Box» der 3×1-Tanzkompanie – Die jüngste Produktion der Dance Loft Rorschach zeigt in der Grabenhalle sehr unterschiedliche Choreografien – und zeitgenössischen Tanz auf hohem Niveau.

Die beiden Dachhälften der Grabenhalle sind aufgeklappt, hell strahlt es aus dem Innenraum. Mit diesem Bild kündigt die Einladungskarte zur Dance-Loft-Produktion Einblicke in die Arbeit der Internationalen Tanz- und Ballettschule Rorschach an. Wieder haben sich deren Studenten und Absolventen unter Leitung von Rut Ackermann zur Tanzkompanie 3 x 1 formiert. Auf dem Programm, drei Stücke, entwickelt von vier Choreografen aus vier Ländern für 14 Tänzerinnen und 3 Tänzer. Das verspricht einen abwechslungsreichen Abend. Und tatsächlich wurde das Premierenpublikum am Dienstag in der gut besuchten Grabenhalle nicht enttäuscht.

Die Aufführung beginnt mit einem Erwachen. Mit viel Gefühl für aussagekräftige Details spüren die Tänzerinnen und Tänzer in «Outside the Box» dem Schwanken zwischen Wohlbehagen und Unlust bei der Rückkehr aus dem Reich des Schlafes nach. Begleitet von einem über Grossstadtleben reflektierenden Rezitativ steigert sich das Tempo des Stückes, und die Bewegungen intensivieren sich bis zu akrobatischen Einschüben. Unter variierenden Rhythmen und Lichtstimmungen werden Gegensätze in Szene gesetzt: Menge versus Individuum, schnell versus langsam, Streichmusik versus Elekt-ronik. Den Gesamteindruck prägen lebhafte, instabile Konstellationen, Gruppen formieren sich, um sich eilig wieder aufzulösen und neu zu finden. Der Schweizer Boris Schneider und Isabel Glotzkowsky (Deutschland/ USA) lassen die Tänzerinnen neben-, mit- und gegeneinander agieren. Dabei überzeugen vor allem die Zweiergruppen und Soloauftritte, die Phasen, in denen sich die Akteure auf sich oder ihren Partner konzentrieren. Anders bei «Variation X», choreografiert von Philipp Egli, Leiter der Tanzkompanie des Theaters St.Gallen. Hier dominieren koordinierte Bewegungsströme das Bild. Das Stück überrascht durch den spielerischen Umgang mit zwei Klassikern: Edward Grieg und Niccolo Paganini werden auf witzige, mitunter grotesk wirkende und dennoch poetische Weise interpretiert. Das Tempo ist teilweise noch höher als im ersten Stück und wird dennoch mühelos von der Kompanie bewältigt. Die Musik scheint geradezu zum Gleichklang der Körper herauszufordern. Aber kaum hat das heitere Fest begonnen, ist es schon vorüber – «Variation X» dauert nur wenige Minuten. Dennoch setzt es einen wichtigen Akzent und zeigt, wie gut sich die Klassiker für eine Umsetzung in zeitgenössischer Tanzsprache eignen.

Den Abschluss bildet die Choreografie des Brasilianers Marcelo Pereira «Saco sem Fondo», was hierzulande dem «Fass ohne Boden» entspricht. Ausladende Gesten, harmonisierte Körperfelder, mal horizontal mal vertikal ausgerichtete Bewegungen und zahlreiche Sprungkombinationen fordern noch einmal alle Tänzerinnen und Tänzer. Dramatische Beziehungskisten und ungezügelte Emotionen entladen sich in aggressiven Gesten. Das expressivste Stück des Abends ist gleichzeitig das mit den deutlichsten Bildern, Theatralik ist einkalkuliert. Etwa wenn eine Tänzerin in Weiss unzählige Rosen liebkost und dabei von anderen in blutroten Samtkleidern umringt wird. Die thematischen Bezüge werden von ständigen Kleider-, Licht und Rhythmuswechseln unterstützt. Das Gesamtbild ist heterogen und nicht zuletzt deshalb durchgehend spannend. Das gilt zugleich für die gesamte Produktion. Alle drei Stücke sprechen eine kompromisslos zeitgenössische Tanzsprache, ausformuliert in verschiedenen Dialekten und von den Tänzerinnen und Tänzern auf hohem Niveau umgesetzt.