Ulrike Kristin Schmidt

Gesammelte Texte

Fernrohrmegaphon

Anastasia Katsidis ist derzeit zu Gast im Atelierhaus des Sitterwerkes. Die Bildhauerin arbeitet an ihren fragilen Aussenraumobjekten.

Kunst im öffentlichen Raum hat viele Aufgaben. Sie soll den Raum auf- oder umwerten, soll funktionalen, intellektuellen und gesellschaftlichen Ansprüchen genügen. Zudem muss sie sich im heterogenen städtischen Umfeld behaupten – oder sie bleibt dekoratives Accessoire, das innert kürzester Zeit nicht mehr wahrgenommen wird. Letzteres will Anastasia Katsidis ihren Arbeiten ersparen. Konsequent entwickelt sie Werke für den Aussenraum. Es sind Objekte, die sich ausserhalb geschützter Bereiche einem Publikum stellen, aber aufgrund ihrer Materialwahl und Machart gerade dort besonders ausgeliefert sind. Sie suchen die Auseinandersetzung und widersetzen sich gleichzeitig dem Ewigkeitsdenken: Nichts muss für immer sein. Auch nicht die Kunst.

Anastasia Katsidis erlaubt es ihren Arbeiten, vergänglich zu sein. Ihre Werkstoffe findet sie in Brockenstuben und Baumärkten. Aktuell sind es Blumentöpfe aus Plastik, Arbeitsböcke, Abflussrohre und einfache Kiefernholzbretter. Im Gastatelier des Sitterwerkes deutet die 1974 in Widnau geborene Künstlerin die Materialien um. Aus den ineinander gesteckten Blumentöpfen wird ein Megaphon. Bretter sind zu einem langgestreckten Polyeder verbaut, das mit Abflussrohrokular zum Fernrohr wird oder als Megaphon verwendet werden kann. In einem weiteren Werk werden die Bretter zu einem Wachhäuschen verschraubt.

Eigentlich sind es sogar zwei symbiotisch verwachsene Wachhäuschen. Aussen sind sie mit den typischen roten Schrägstreifen bemalt. Ihr Inneres ist schwarz. Sie sind gerade gross genug für eine Person, ja sie muten durch ihre Dimension sogar selbst wie eine kantige Figur an. Mit ihrer Streifenzeichnung warnen sie gleich einer Wespe vor allzu viel Nähe. Ihr Innenleben hingegen ist geheimnisvolles Dunkel, das ebenso gut als Projektionsfläche dienen kann. Wenn Katsidis´ Wachhäuschen dereinst im Aussenraum stehen, beziehen sie die Öffentlichkeit ein und fordern auf, Stellung zu nehmen. Aber nur temporär, auf das kein Gewöhnungseffekt eintrete. Denn der ist tödlich für die Kunst. Daher genügt es, dass die Häuschen nur unvollkommen gezimmert sind. Ausserdem möchte die Bildhauerin den üblichen Perfektionismus unterlaufen: Bastelei statt Meisterstück. Darin stecken ein romantischer Grundgedanke und die Sehnsucht nach der Improvisationskraft wie sie die Künstlerin im ägyptischen Alltag erlebt. Neben Zürich lebt sie in Kairo. Ideenreiche Lösungen und Transformationen von Vorgefundenem sind dort Alltagsgut.

Im Sitterwerk geniesst Katsidis die Arbeitsatmosphäre und den Platz. Während sie in ihrem eigenen Atelier mit Konzepten und Modellen arbeiten muss, kann sie die Werke hier direkt in Originalgrösse erstellen. Dies ist kein geradliniger Prozess. Die Bildhauerin probiert aus, verändert, fügt hinzu, entwirft neu. So hat sie beispielsweise ein Kartenhaus aus roh behandelten Holzplatten konstruiert. Es hat bereits mehrfach seine Gestalt verändert und auch jetzt lässt sich noch nicht auf die endgültige Form schliessen. Das Kartenhaus ist Symbol für Katsidis Arbeitsweise. Es deutet Vorhandenes um, ist instabil und doch durchdacht.

Eine Messe nicht nur für Zürich

Die diesjährige Kunst 12 Zürich ist die 18. Ausgabe der Kunstmesse. Im Herbst versammeln sich hier Galeristen und Kunsthändler aus den deutschsprachigen Ländern, Frankreich und Italien.

Im November ist es wieder soweit: Galerien und Kunsthändler erwarten an der „Kunst 12 Zürich“ ihre Gäste. Die Messe findet bereits zum 18. Mal statt und ist seit ihrer Gründung in den Händen von Evelyne Fenner und Raphael Karrer. Fenner glaubte schon in den achtziger Jahren fest an Zürichs Potential für zeitgenössische Kunst: „Meine Überzeugung, dass sich Zürich zu einem der wichtigsten Kunstplätze Europas entwickeln wird, hat sich längst bestätigt. Die Kunstszene, die Galerien in Zürich arbeiten international auf sehr hohem Niveau.“  Was lag also näher, als dieser Szene ein Forum zu geben. Schon damals existierte freilich die Art Basel. Letztere ist nicht nur 25 Jahre älter, sie ist auch viel umfangreicher. Es war von Anfang an klar, dass die Kunst Zürich andere Schwerpunkte setzen musste. Als Ergänzung gedacht, ist sie kleiner und flexibler. Das schätzen auch Galeristen und Händler wie beispielsweise der Zuger Silvan Fässler: „Die Kunst Zürich ist eine schöne, übersichtliche Messe. Das ist sehr angenehm für die Besucher.“ Ausserdem schätzt der Kunsthändler den Standort: „Als Kunsthändler kann ich hier präsent sein, Kontakte wahrnehmen. Das sind Faktoren, die weltweit wirken, auch in Zürich.“ Ähnlich sieht es der Frankfurter Galerist Bernhard Knaus: „In Zürich und seinem Einzugsgebiet, welches von Süddeutschland bis nach Norditalien reicht, leben überdurchschnittliche viele Sammler. Die Messe nutzt dieses regionale Potential sehr gut. Wir nehmen in diesem Jahr zum zweiten Mal teil und hatten im letzten Jahr einen hervorragenden Auftakt.“ Auch für den Kölner Galeristen Heinz Holtmann ist Zürich mittlerweile ein fester Termin: „Ich bin seit 5-6 Jahren dabei. Für mich ist es wichtig, meine langjährigen Schweizer Sammler weiter zu betreuen. Ich war 25 Jahre lang an der Art Basel und bin vielen Schweizer Sammlern verbunden. In Basel hingegen hat sich das Schwergewicht in Richtung der US-amerikanischen Kunsthandelsszene verlagert.“ Gleichwohl wünscht sich Holtmann, dass die Kunst Zürich noch ein bisschen internationaler wird und zugleich, dass „auch die Zürcher Galerien sich stärker an der Messe engagieren.“ Ein Problem, dessen sich auch Messegründerin Evelyne Fenner bewusst ist. Aber die grossen Zürcher Galerien profitieren davon, dass sie ohnehin vor Ort sind, wenn Aussteller und Gäste anreisen. Dafür wird denn auch jeweils im Herbst ein attraktives Galerienprogramm angeboten. Überhaupt ist der November ein idealer Messemonat, wie Fenner versichert: „Die Leute haben genug Sonne getankt, gehen noch nicht in die Berge, Weihnachten steht vor der Tür. Kunst zu geniessen und zu kaufen, ist im Herbst sehr beliebt.“  

Eine der Zürcher Galerien, die zum wiederholten Male an der Kunst Zürich teilnimmt, ist die Galerie Römerapotheke. Philippe Rey dazu: „Letztes Jahr haben wir zugunsten Zürich auf die Messe in Miami verzichtet und es hat sich in jeder Hinsicht gelohnt. Heuer werden wir wieder unseren Schwerpunkt zeigen: Papierarbeiten. Unter anderem von Jana Gunstheimer, Sabrina Jung und Florian Heinke.“ Junge Kunst also. Auch Heinz Holtmann und Bernhard Knaus bestätigen, dass an der Kunst Zürich junge Kunst gut verkauft werden kann. Kein Wunder: Die Messedirektoren Fenner und Karrer engagieren sich besonders für die jüngste Generation der Gegenwartskunst. So haben Förderstände an der Kunst Zürich längst Tradition; von Anfang an wurden Einzelpräsentationen besonders unterstützt. Zudem wird seit nunmehr fünf Jahren der ZKB-Kunstpreis verliehen. Die Idee, einen Kunstpreis zu stiften, bestand schon bei der Gründung der Messe. Die Zürcher Kantonalbank erwies sich schliesslich als geeigneter, kunstinteressierter Partner. Von einer Jury ausgewählte 12 Künstlerinnen und Künstler stellen ihr Projekt jeweils in einer Einzelpräsentation direkt an der Messe vor.

Der Preis hat sich in sehr kurzer Zeit einen Namen gemacht. Die klassische Moderne bleibt trotzdem nicht aussen vor. Oberstes Gebot ist immer die Qualität. So auch das Credo von Silvan Fässler. Das Spektrum des Kunsthändlers reicht wie das der Messe von klassischer Moderne bis zeitgenössischer Kunst. Damit jedes Werk seine Präsenz entfalten kann, ist ausreichend Platz nötig. Daher investiert Fässler wie viele andere Aussteller in diesem Jahr in einen grösseren Stand. Doch die ABB-Halle bietet immer gleich viel Platz. So gibt es mit zunehmender Anerkennung der Messe nicht mehr Teilnehmer, sondern mehr Qualität und grössere Kojen. Und die Besucherzahlen steigen von Jahr zu Jahr. Das spricht auch für den Ort der Messe. Seit 1994, also seit der ersten Ausgabe, findet sie in der ABB-Eventhalle statt – ein Bau mit unverwechselbarer Ausstrahlung und langer Geschichte. Die Messearchitektur ist hier nicht Störfaktor, sondern verwächst zur Symbiose mit dem frühindustriellen Raum. Für Evelyne Fenner gibt es keinen besseren Ort. Auch wenn sich manch einer wünscht, dass die Messe etwas zentraler läge, ist sie doch sowohl mit den öffentlichen Verkehrsmitteln als auch dem Auto sehr gut erreichbar.

NZZ am Sonntag

Neu, klein, erfolgreich

Das Auktionshaus Beurret & Bailly hat sich innerhalb eines Jahres zu einer festen Grösse etabliert. Auf den jährlichen Auktionen wird Kunst in hoher Qualität versteigert.

Wer bei Beurret & Bailly Auktionen anruft, bekommt Nicolas Beurret oder Emmanuel Bailly an den Apparat. Die beiden Gründer des Auktionshauses legen Wert auf den persönlichen Kontakt. Das bringt unschätzbare Vorteile in dieser diskret arbeitenden, stark unter Konkurrenzdruck stehenden Branche, vertrauen die Kunden dem Auktionshaus doch immense Werte an.

In welchen Dimensionen operiert wird, haben die beiden bisherigen Auktionen von Beurret & Bailly eindrucksvoll gezeigt: Im Juni 2011 erzielte das Gemälde „Schulmädchen bei den Hausaufgaben“ 4.6 Millionen Franken bei einem Schätzwert von 1.2 bis 1.5 Millionen Franken. Das war der Weltrekord für ein Bild des Berner Malers. Auch andere Werke übertrafen die Schätzwerte deutlich, darunter auch ein Objekt des Schweizers Markus Raetz. Die dadurch geweckten Erwartungen wurden bei der diesjährigen Auktion eingelöst: Ein Gemälde des französischen Impressionisten Gustave Caillebotte konnte den Schätzpreis verdreifachen und kam auf 2.5 Millionen Franken. Verdoppeln konnte eine Landschaft von Giovanni Giacometti. Hohe Preise erzielten Cuno Amiet und Augusto Giacometti. Viel Schweizer Kunstprominenz war da unter dem Hammer, aber auch internationale Grösse. Ohnehin ist in dieser Liga das Schweizerische international: Beurret und Bailly bieten nur höchste Qualität an. So ist denn auch Ankers „Schulmädchen“ in der Riege seiner Werke von besonderer Schönheit. Die Konzentration liegt ganz auf der Figur und ihrer Anmut. Der dunkle Hintergrund lässt die Farben leuchten und unterstreicht die Versunkenheit des Mädchens.

Beurret & Bailly spielte bereits bei der ersten Versteigerung an der Spitze des Schweizer Marktes mit. Solche Erfolge hinterlassen Spuren. Während der erste Auktionskatalog 76 Nummern umfasste, war der diesjährige viermal so umfangreich. Das war so nicht vorherzusehen und ist doch nicht ganz überraschend. Beurret & Bailly ist zwar ein junges Auktionshaus, doch seine beiden Gründer sind keine Unbekannten in der Kunsthandelsszene. Nicolas Beurret war langjähriger Mitarbeiter bei den grossen Auktionshäusern Sotheby’s und Philips. Der gebürtige Basler ist bestens vernetzt, ausserdem führte er eine zeitlang seine eigene Galerie in Zürich.

Emmanuel  Bailly, geboren in Frankreich und studierter Wirtschaftsjurist und Kunsthistoriker, kennt den internationalen Kunstmarkt ebenfalls durch seine Arbeit in verschiedenen Auktionshäusern. Ab 2000 war er selbständiger Kunsthändler, zuerst in Paris und seit 2005 in Bern. Die Geschäftspartner standen bereits früher in beruflichem Kontakt. Die Idee, gemeinsam ein eigenes Auktionshaus zu gründen, lag auf der Hand. Beide kennen den Betrieb und führen ihn nun selbst mit nur einer Mitarbeiterin.

Die überschaubare Grösse des Hauses bedeutet nicht nur, dass Kunden stets einen der beiden Chefs erreichen, sondern auch einen grossen Aufwand, viel Alltagsgeschäft und wenige Möglichkeiten, anfallende Arbeiten zu delegieren. Zum Beispiel der Auktionskatalog: Seitenweise Abbildungen, Werkangaben, sorgfältig recherchierte Provenienzen. Wenn Nicolas Beurret darüber spricht, wie er und Emmanuel Bailly den Boden des neu bezogenen Büros in Basel über und über mit Fotografien bedecken, wie sie beim Druck auch eines so ephemeren Buches versuchen, das Beste herauszuholen, klingt dies jedoch nicht so, als gäbe es Outsourcingbedarf. Für Expertisen werden aber selbstverständlich Fachleute hinzugezogen. Trotz ihren Erfahrungen und einer viele tausend Bände umfassenden Bibliothek versichern sich Beurret und Bailly Expertenwissens, wenn Objekte begutachtet werden müssen, die nicht zum Kerngeschäft gehören.

Spezialisiert haben sie sich auf die Bildende Kunst vom 13. Jahrhundert bis heute. Schon dies ist ein so grosser Bereich, dass so manchem Kunsthistoriker schwindlig würde. Aber es kommt immer wieder vor, dass ein Gemälde nur zu einer Auktion gegeben wird, wenn die Renaissancekommode oder der barocke Sessel gleichfalls eine Nummer erhalten. Für Beurret und Bailly ist das kein Problem, die persönlichen Vorlieben bleiben aussen vor.

Begeisterung klingt dann aber doch durch, wenn Nicolas Beurret über die Werke der Brüder Barraud spricht, die im vergangenen Juni versteigert wurden. Die vier Brüder aus La-Chaux-de-Fonds werden der neuen Sachlichkeit zugeordnet und die Gemälde erzielten teilweise ein Vielfaches ihres Schätzwertes. Um solche Werke anbieten zu können bedarf es nicht nur Aquiseerfahrungen, sondern auch einer gehörigen Portion Glück. Und es besteht kein Zweifel, dass Beurret und Bailly auch im kommenden Jahr sensationelle Stücke anbieten werden. Nur einen einzigen Wermutstropfen gibt es für Nicolas Beurret: Die Auktionsatmosphäre ist nicht mehr die gleiche wie noch vor 30 Jahren. Waren früher die Säle voll und die Bieter leidenschaftlich, so ist die Stimmung inzwischen kühl und sachlich, die telefonischen Gebote dominieren. Der derzeitige Generationenwechsel wird die Auktionen weiter verändern und Beurret & Bailly werden dabei sein.

NZZ am Sonntag

Zur Kunst mit der Sesselbahn

Die Alp Sellamatt ist Schauplatz der siebenten Ausstellung der Kunsthallen Toggenburg. Künstlerinnen und Künstler aus der ganzen Schweiz zeigen ein Wochenende lang performative Kunst.

Ein Ticket sein, eine Alpwiese in einen Fussballplatz verwandeln, Erdbeben produzieren – Kunst macht´s möglich. Kunst macht´s öffentlich. Aber was, wenn die Kunst keinen Ort hat? Braucht sie nicht. Hauptsache, sie hat Platz. Den findet der Verein Kunsthalle[n] Toggenburg jedes Jahr neu: Seit 2006 gibt es eine grosse Kunstausstellung im Toggenburg immer im Herbst, immer an wechselnden aussergewöhnlichen Orten von der Iburg zum Bahnhof, von der Brauerei zur Molkerei.

Die siebente Ausgabe der Ausstellung zieht auf die Sellamatt oberhalb Alt St. Johann und nimmt den Namen zum nicht ganz ernstgemeinten Motto: „C´est la matt – Alles wird gut“. Daran besteht kein Zweifel. Die Künstlerliste ist ebenso vielversprechend wie die angekündigten Aktionen. Für einmal wird es keine fix installierten Werke geben. Stattdessen werden alle Künstler und Künstlerinnen, ob aus Genf, Zürich oder der Region, vor Ort anwesend sein. Sie werden in und mit der Landschaft agieren, werden das Kunstpublikum einbeziehen oder die Aufmerksamkeit auf ganz persönliche Erfahrungen lenken. Andrea Vogel lädt beispielsweise ein, Gedanken und Gefühle auf Zetteln zu notieren und an ihre Kleidung zu heften. Ein Alpsegensprecher wird die Zettel am Abend abnehmen und als Alpsegen ausrufen. Auch Silvio Faieta nimmt sich des Berglebens an. Er wird mit einem Benzinrasenmäher ein fussballfeldgrosses Stück Alpwiese mähen – innert 90 Minuten mit Halbzeitpause dazwischen. Was zunächst wie eine amüsante Transformation des Grüns daherkommt, reflektiert den Druck der heutigen Alltagswelt auf das Alpleben und auf die Natur gleichermassen.

Wenn sich Mensch, Technik und Natur oder Medien und Tradition treffen, gibt es vielerlei Konfliktpotential. Künstlerinnen und Künstler der Ausstellung thematisieren dies auf ganz unterschiedliche Weise. Manuela Langer verschnürt mit einer Siloballenmaschine Toggenburger Fundstücke. Olivia Wiederkehr erinnert an verschollene oder verstorbene Alpinisten und Alexandra Maurer lässt mit Bässen die Erde erbeben. Gabriela Hohendahl persifliert „Bauer sucht Frau“, während Stephan Kreier und Markus Eugster die letzte Alpabfahrt als Teufelsritt inszenieren und ein hölzernes Riesenrad talab donnern lassen. Referenzen an das Leben und das Land mal mit engerem Bergbezug, mal ohne gibt es auch bei Isabel Rohner, Dennis Eggenberger, Linda Pfenninger und in Gisa Franks Tanzperformance.

Jan Kaeser schliesslich kündigt an, sich zu verwechseln. Der Künstler mit seiner Lust am Absurden versetzt sich in Dinge, um ihrem Wesen auf die Spur zu kommen. Vielleicht passend zum Ausstellungsort in ein Sesselbahnbillet? Bei Kaeser ist alles möglich. Bei arthur auch. Der Wohnwagen ist das Symbol der Kunsthallen Toggenburg und markiert diesmal den Start durch den Kunstparcours: Die Ausstellung folgt einer ausgetüftelten Choreographie bei der eine Performance nach der anderen besucht und erlebt werden kann. Verlaufen und Verpassen ausgeschlossen.

Die Farbe regiert

Seit zehn Jahren arbeitet der St. Galler Iso Zingg an seinen Farbfeldkompositionen. Nun sind seine Werke in der Galerie vor der Klostermauer zum allerersten Mal ausgestellt.

Die Farben fallen zuerst auf. Grün, Orange, Rot, Inkarnat, Braun, Hellblau – die Farben leuchten, sie ergänzen sich, konkurrenzieren auch, bereichern sich. Iso Zingg hat ein untrügliches Gespür für Farben – genauso wie für Balance und Spannung. So bringen Schwarz und Weiss die Töne zum Leuchten und sind gleichzeitig Gewichte oder Freiräume im Bild. Ein hellgrüner Streifen vor grüner Fläche wird beispielsweise durch einen schwarzen Balken am Rand akzentuiert und gefestigt. Oder eine weisse Fläche öffnet das Bild und hellt es gleichzeitig auf. Olivgrün wird eingefasst von Orange und Hellgelb und mutet dadurch wie ein Gold- oder Bronzeton an. Hellblau und Schwarz sorgen für Kontraste, wirken als Farbverstärker oder -vermittler.

Die Vielfalt der Farben ist in ein klares kompositorisches Prinzip gefasst. Iso Zingg (geboren 1945) konstruiert seine Bilder aus Farbflächen mit einfachen geometrischen Grundformen. Er hat technisch solange experimentiert, bis er mit der Farbrolle das Mittel für einen perfekt gleichmässigen Farbauftrag fand. Er verzichtet auf einen sichtbaren Pinselduktus und damit auf die persönliche Handschrift des Künstlers, um homogene Farbfelder erzeugen zu können. Damit betont er die Fläche genauso wie mit den äußerst trennscharf ausgeführten Konturlinien. Doch er verliert den Raum nicht aus dem Blick. Durch das Nebeneinander von Hell und Dunkel, von Klein und Gross entwickelt Zingg räumliche Bezuge. Doch nie geht er in gegenständliche Andeutungen über. Jedes Werk ist reiner Form- und Farbgedanke. Und es ist nicht nach bestimmten Regeln konstruiert, sondern Zingg setzt Quadrate, Balken und Linien intuitiv zueinander. Rechte Winkel sind häufig, aber nicht zwingend. Sie erfahren gerade im Zusammenspiel mit Diagonalen oder Spitzen eine eigene Dynamik. Es kommt auch vor, dass eine gerade Linie plötzlich einen Haken schlägt und eine Fläche so zur expressiven Form wird.

Iso Zingg unterwirft sich keiner künstlerischen Doktrin. Seine Gemälde zeigen, dass er sich mit der Kunstgeschichte auseinandergesetzt hat. Konkrete Kunst, Konstruktivismus, auch Hard Edge sind ihm wohlbekannt, doch er ahmt nicht nach, sondern sucht seinen eigenen Weg. Dies seit 10 Jahren und autodidaktisch. Der Maschinenzeichner hat die grossen Vorbilder studiert, kennt sie gut und kann sich dennoch von ihnen befreien oder denkt sie weiter. So gelingt es ihm in einem fünfteiligen Werk einen Formenablauf zu inszenieren. Er manifestiert sich nicht nur in den gemalten Flächen, sondern auch in den ungewöhnlichen Leinwandformaten. Ausgehend von einem extremen Hochformat in monochromen Braun entwickelt Zingg eine Bildfolge, die sich immer weiterdenken lässt.

Häufig wählt der St. Galler Künstler die Form des Diptychons für seine Farbton- und -felduntersuchungen. Die Komposition wird hier stets gespiegelt. Die Symmetrieachse liegt genau zwischen den beiden Leinwänden. Eines dieser zweiteiligen Gemälde hat Zingg um ein drittes erweitert: Im Triptychon wird die Bildanlage mit einem Mal erweitert. Zwei der grünschwarzen Tafeln sind von einem geschlossenen, rechtwinkligen Balkensystem dominiert während in der dritten Tafel die Balken diagonal geführt werden und aus dem Bild zu streben scheinen. Der Maler zeigt eine Möglichkeit und regt die Vorstellungskraft an: Wie setzt sich eine Komposition fort? Was passiert jenseits der Leinwand und des Gezeigten? Was passiert im Kopf des Künstlers und des Betrachters?

Kunst im Vorbeifahren

Im Palais Bleu ist die achte Folge der Ausstellungsreihe LeLieu zu sehen. Die St. Galler Kuratorin Maren Brauner hat Künstlerin Angela Werlen eingeladen, Arbeiten für das Haus zu entwickeln.

Alltag und Ausstellungen haben Spuren hinterlassen. Wohin das Auge blickt, entdeckt es im Palais Bleu in Trogen Sehenswertes, Überraschendes, Anheimelndes. Die Bordüre im Treppenhaus, ein schablonierter Schriftzug an der Wand, ein Fotofries über den Plättli, historische Leuchter oder auch nur ein alter Türgriff – alles zeugt von der 135jährigen Geschichte des Hauses als Spital und Pflegeheim und seiner Gegenwart als Kunst- und Kulturort. Gar nicht so einfach, da noch einen Raum für Interventionen zu finden. Doch es ist wieder einmal gelungen.

Gastkuratorin Maren Brauner und Künstlerin Angela Werlen haben das Palais Bleu besucht, untersucht und in der Vertikalen den geeigneten Platz für Werlens Erzählung geortet. Die Künstlerin aus Ferden im Lötschental hatte einige Zeit zuvor für acht Tage im Haus gewohnt und dort gearbeitet. Eigentlich war sie mit dem Ziel gekommen, sich seiner Spitalvergangenheit zu widmen. Doch dann kam es anders. Zwar faszinierte Werlen das Innere des Hauses, doch es liess sich nicht bannen. Stattdessen zog es sie hinaus: Auf langen Wanderungen entdeckte sie die Umgebung. Werlen ist weggegangen und wieder gekommen. Sie hat sich dem Haus von aussen angenähert, hat Dinge aus der Natur mitgebracht und mit denjenigen des Hauses verwoben.

Oft lagen Vogelfedern auf Werlens Weg und so war bald ein übergeordnetes Thema gefunden, dass auch eine wunderbare Analogie zum Aufenthalt der Künstlerin darstellte. Sie hatte sich im Haus einen eigenen Arbeitsort geschaffen, sich ein Nest gebaut.

Vögel sind nun das wiederkehrende Motiv in den Zeichnungen, Collagen und Fotografien der Künstlerin. Es gibt Blätter mit Schattenrissen fliegender Vögel, eine Detailzeichnung eines gespreizten Flügels, ein Foto eines ziehenden Schwarms oder eine kleine auf das Papier geklebte Feder. Diese Bilder mischen sich mit ungegenständlichen Darstellungen wie zittrigen Kreisen auf Transparentpapier, kleinen Punkten oder Mustern. Mit Frottagen hat Werlen die Strukturen alter Vorhangstoffe des Spitals festgehalten. Sie hat Ornamente der Bordüren in Stickerei übersetzt und runde Formen aus gelbem Papier geschnitten. Sie korrespondieren mit einer getrockneten gelben Mohnblume.

All dies kommt nicht gleichzeitig in den Blick. Denn wer sich auf die Suche nach der achten Ausstellung der Reihe LeLieu macht, wird nicht so leicht fündig. Ein Grossteil der Blätter ist im alten Spitalaufzug präsentiert. Er besitzt an der Rückseite keine Tür und gleitet somit an der Wand des Gebäudes entlang. Hier nun haben Maren Brauner und Angela Werlen die Papierarbeiten platziert. Zudem hat die Künstlerin eine Zeichnung direkt auf dem Putz realisiert. Sie zeigt die Steinstufen des Treppenhauses im Querschnitt.

Der Betrachter sieht die Kunst während des Auf- und Abfahrens und beim Halt auf den Stockwerken. Bei längerem Aufenthalt löscht sich automatisch das Licht und holt einen so aus Werlens Bilderwelt zurück. Der Ort und die Kunst interagieren hier ebenso wie an anderen Plätzen der Ausstellung. An eine Tür im Untergeschoss etwa hängte Werlen testhalber drei Blätter mit schwarzen Kreisen und Punkten. Sie passten so perfekt zu einer Reihe kreisrunder Bohrungen, dass sie übersehen wurden und nun selbstverständlich bleiben dürfen.

Werlen spielt mit dem, was ist, und dem, was sie dazu gibt. Gelungen ist dies auch mit einem wuchernden Gebilde aus kleinen Papierpyramiden. Wie Waben oder Stalaktiten breiten sich die weissen Faltungen unterhalb der Treppe aus – unscheinbar, hartnäckig und vielleicht für immer. Dies wäre dann eine weitere Spur im geschichtenreichen Haus.

Rätselhaft Bekanntes

Mirjam Kradolfer zeigt neue Arbeiten in der Galerie Paul Hafner. Unter dem Titel „Kabinett“ sind Fotografien und eine Videoarbeit ausgestellt.

Wer kennt dies nicht aus Kindertagen: Im Zwielicht der Dämmerung verwandeln sich die alltäglichen Dinge des Kinderzimmers in fremd anmutende Wesen. Das Vorhangmuster gerät in Bewegung, Tiere tummeln sich jetzt dort. Das achtlos hingeworfene Spielzeug mutiert zum Gnom. Mit dem Erwachsenwerden kommen diese unbewussten Projektionen im gewohnten Umfeld seltener vor. Ihren Reiz haben sie dennoch nicht verloren.

Es muss nicht einmal sein, dass die Dinge sich verwandeln, selbst ein unverhofftes Aufeinandertreffen bekannter Gegenstände kann für Überraschung und Irritation sorgen. Mirjam Kradolfer (1979 in St. Gallen geboren) hat mit der Kamera Situationen aufgespürt, denen seltsame Zweideutigkeiten anhaften. Die St. Galler Künstlerin weilte mit dem Atelierstipendium der visarte.ost 4 Monate in Paris. Sie besuchte dort nicht nur die Kunstmuseen, sondern unter anderem auch das naturhistorische Museum und das Musée Fragonard. Letzteres ist nicht dem Rokokomeister Jean-Honoré Fragonard gewidmet, sondern seinem Cousin, dem Anatom Honoré Fragonard. Kradolfer fotografierte in der veterinärmedizinischen Abteilung des Museums beispielsweise ein Tableau mit Pferdegebissen. Kradolfer hat dies zu einem grün-weissen Diptychon verarbeitet. Statt anatomischer Auffälligkeiten rückt nun die scheinbare Mimik der Schädelfragmente ins Blickfeld. Sie grinsen den Besucher der Galerie Paul Hafner an, lachen ihn aus oder erzählen aus ihrem früheren Leben.

Mirjam Kradolfer hat die Zeit in Paris gut genutzt. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit dort bestand darin, den Blick zu befreien, das eigene Werk zu hinterfragen und neue Wege zu finden. Wer Kradolfers vorhergehende Ausstellungen in Katharinen oder bei Kultur im Bahnhof gesehen hat, gewann den Eindruck, dass sich die Künstlerin jetzt ganz auf das Nachstellen berühmter Gemälde verlegt hatte. Doch mit dem Atelieraufenthalt in Frankreich haben ihre Fotografien eine neue, eigenständige Qualität gewonnen. Kradolfer schafft es, in St. Gallen fortzusetzen, was sie in Paris begonnen hat wie ihre Fotografien aus dem Botanischen Garten und dem Naturmuseum zeigen. Im Botanischen Garten fotografiert sie unterhalb der gewohnten Augenhöhe und mit immer wieder leicht weiterrückender Kamera. Das Bild entsteht aus vielen leicht überlappenden Motiven. Aus der seriellen Abfolge, den Unschärfen und der fein abgestimmten Farbigkeit ergeben sich landschaftliche Panoramen. Sie wirken nah und fremd zugleich.

Im Naturmuseum interessieren Kradolfer besonders die sich überlagernden Ebenen. Die Künstlerin offenbart einen sehr aufmerksamen Blick für Durchsichten und Spiegelungen. So kommt es, dass auf einem Bild Biber, Marder, Maus, das Krokodil vor den Fotografien des Museums und schemenhaft auch noch ein Vogel aufeinandertreffen und auf einem anderen der ockerfarbene Hase im schwarzweissen Dickicht hockt. Die Aufnahmen sind leicht aus der Horizontale gerückt, etwas unscharf und auch in Licht und Farbigkeit weit vom digitalen Fotoperfektionismus entfernt. Doch gerade dadurch wecken sie die Lust hinzuschauen und das Bekannte neu zu sehen.

Fünfmal Tanz

Drei Solostücke, ein Zwei- und ein Vierpersonenstück bringt TanzPlan Ost 2012 an einem Abend auf die Bühne. Jedes der vier Kurzstücke besitzt einen ganz eigenen Charakter.

Die Gesichtsmuskeln zucken, der Mund öffnet sich, der Abend beginnt – mit einem Gähnen. Noch eines und noch eines und schon ist das Publikum mitten im Stück von Stefanie Grubenmann. „Star“ hat die Zürcherin ihr Stück überschrieben und gibt damit bereits den ersten Interpretationsspielraum. Denn als Stars können beide gelten: Die Darstellende, die mit minimalen Gesten und grosser Mimik das ganze Spektrum der Ermüdung auf die Bühne zaubert, ebenso wie ihr imaginäres Gegenüber, das ebendiese Langeweile auslöst. Stefanie Grubenmann lässt Straffen auf Erschlaffen folgen; freundliches Interesse wird besiegt von herzhaft orgiastischem Gähnreflex, der wiederum in eine Arie der Müdigkeitslaute übergeht. Offen thematisiert Stefanie Grubenmann die Grossartigkeit der Langeweile, gegen die alle Medien so unentwegt und zum Glück erfolglos ankämpfen.

Grubenmanns Stück ist an der Grenze von darstellender und bildender Kunst angesiedelt. Dies gilt auch für den zweiten Programmpunkt des Abends: „Wrestle yourself into the ground“ von Philip Amann und Kilian Haselbeck. Das Stück thematisiert existentielle Erfahrungen und offene Spannungsverhältnisse. Die von den beiden Künstlern selbst entwickelte Choreographie ist geprägt durch das Miteinander, Nebeneinander und Gegeneinander zweier Charaktere und Körper. In unterschiedlich langen, durch kurze Dunkelheit voneinander getrennten Sequenzen wird ein reiches Bewegungsvokabular durchgespielt. Es reicht von Elementen des Breakdance über athletische und grazile Formen bis hin zu symbolkräftigen Bildern wie etwa einer angedeuteten Kreuztragung. Abgesehen vom Können der beiden Tänzer begeistert das Stück durch die zwei Akteure auf der Bühne, die in keinerlei Hierarchie zueinander stehen und sowohl kräftemässig als auch tänzerisch einander ebenbürtig sind. Selbst Torkeln und Taumeln wird hier zum Paarlauf. Während das Stück nicht zuletzt auch von der fliessenden Eleganz der Bewegungen lebt, geht „distances within“ von Mirko Guido und Alberto Franceschini bewusst einen anderen Weg.

Der Choreograph und der Tänzer haben gemeinsam eine Choreographie entwickelt, die den Akteur als zwiegespaltenes Wesen zeigt und von einem Sound nahe der Schmerzgrenze begleitet wird. Franceschini bewegt sich repetitiv und tastend, wie fremdgesteuert und fragmentiert. Glieder und Körper wirken voneinander und von einer zielführenden Bewegung losgelöst, während der Tänzer einen Monolog vorträgt. Sobald die Bewegungen fliessender werden, verlischt die Sprache, so als könne nur entweder der Körper oder der Geist funktionieren. Das Stück verzichtet darauf, zu zeigen, was herkömmlich als schön und angenehm empfunden wird, und lotet stattdessen aus, was Menschsein ausmacht. Franceschini tanzt die ungewohnten Bewegungsabläufe mit faszinierender Virtuosität.

Exequiel Barrera hat sich für seine Choreographie „Alberto, der Mann, der geht“ein ganz konkretes Vorbild gewählt. Alberto Giacomettis Skulpturen haben ihn zu einem Stück inspiriert, das von der St. Galler Rotes Velo Tanzkompanie umgesetzt wird. Es spielt mit den Klischees des Künstlerseins und stellt immer wieder zentrale Motive Giacomettis ins Zentrum. Des Menschen Gehen, Schreiten, Stehen wird in verschiedenen Konstellationen durchdekliniert. In einem Intermezzo zu Hildegard Knefs „Ich brauch´ kein Venedig“ wird es zwischendurch auch mal klamaukig.

Einen ganz anderen, doppelbödigen Humor besitzt Nelly Bütigkofer. In ihrem Stück „Counting“ zu Maurizio Kagels „10 Märsche um den Sieg zu verfehlen“ setzt sich die Tänzerin mit den Facetten des Wollens und Scheiterns auseinander. Mit Verve exerziert und marschiert, strauchelt und trampelt sie. Gekonnt zeigt sie den schmalen Grat zwischen forsch und hibbelig, zwischen unsicher und betont lässig, zwischen aufreizend und lächerlich. Runde um Runde dreht Bütigkofer und mimt den Diktator ebenso wie den Kasper, das Kind ebenso wie die gebrechliche Alte. Es ist ein Schaulaufen der Eitelkeiten, das anzusehen pure Freude bereitet.

TanzPlan Ost 2012

Sternennebel im Kochtopf

In Rahmen der Ausstellung  „Holzweg“ von Com & Com war Bazon Brock zu Gast im Architekturforum. Der Denker sprach über „Artefakt und Ewigkeit. Wanderheiligtümer – Reisealtäre – Bundesladen“.

Werden sie die Langeweile aushalten? Nun haben Com & Com das Bloch am Bein. Es könnte es ihnen ermöglichen, nichtreligiöse Sinnstiftung zu erfahren. Aber um sich als Künstler zu erweisen, müssten Johannes M. Hedinger und Marcus Gossolt ihm jetzt 35 Jahre lang treu bleiben. Erst in der Erfahrung solcher Kontinuität zeige sich, ob einer nicht aus Opportunismus handele. Bazon Brock liess keinen Zweifel aufkommen an seinen Ansprüchen an Künstler. Gleichzeitig attestierte er dem St. Galler Künstlerduo ein hohes Potential, stellen sie sich doch einem Grundkonflikt der Moderne.

Kurt Schwitters hat es sich leicht gemacht: Als er Merz vom Com trennte und nur ersteres für seine Kunst beanspruchte, befreite er sich vom Markt. Com & Com behandeln das Problem durch affirmative Verdopplung. Sie stellen die Allmachtsphantasien der Werbungs- und Medienherrscher bloss, indem sie sich ihrer Techniken bedienen. So riskieren sie, deren Segen zu verlieren und allein dazustehen, wie alle Künstler, so Bazon Brock. Wer Com & Com kennt, ahnt, dass das die beiden nicht schrecken wird.  Immer wieder setzen sie sich gezielt dem Medientheater aus.

Brock hielt in seinem Vortrag fest, dass erst Passion und Mission zu künstlerischer Selbstachtung führen. Das lösen Gossolt und Hedinger zweifelsohne ein. Nachzuschlagen ist dies auch im backsteindicken Katalog des Centre PasquArt Biel. Dieses Buch war es auch, das den gestandenen Kulturvermittler, Theoretiker und Künstler mit den beiden St. Gallern zusammenbrachte. Oder vielmehr Kurator Thomas Zacharias, der Brock auf das Kompendium aufmerksam machte und es rot korrigiert zurückbekam. Das Interesse war geweckt, und nicht von ungefähr war des Blochs erste Auslandsstation Brocks Denkerei in Berlin.

In St. Gallen nahm Brock das Bloch zum Anlass über das Verhältnis oder vielmehr den Widerspruch von Artefakt und Ewigkeit zu sprechen: Die wissenschaftliche oder künstlerische Arbeit, die keine definitiven Antworten liefert, die stets auffordert weiterzudenken, steht im direkten Kontrast zum Verlangen nach Dauer, denn so Brock „man kann nicht arbeiten, ohne den Glauben, dass etwas Bestand haben wird“.

Doch wie lässt sich diesem Widerspruch begegnen? So würden religiös begründete Bräuche zivil genutzt, wenn es etwa auch im Parlament eine liturgische Ordnung gäbe. Oder Artefakt und Ewigkeit begegnen sich, wenn uns beispielweise beim Kochen einer Sternchensuppe die Gestaltanalogie zum kosmischen Nebel bewusst wird. Andere versuchen es mit der kultische Verehrung für profane Kunstwerke – analog zu Hegels Kunstreligion. Die Rezipienten stilisieren die Künstler zu Helden und Erlösern. Überhaupt die Künstler: Sie sind der Lösung am nächsten, sie können Erkunder, Propheten, Prognostiker werden, ohne den Konsens suchen zu müssen. Brock verwendet hier Theodor Herzls Begriff des Gestors. Jener denkt und weiss voraus und handelt für die selbst nicht Entscheidungsfähigen: „Der Gestor nimmt den Hut, setzt ihn sich auf und geht davon!“ Der Hut hängt in der Ausstellung „Holzweg“ schon parat.

Die Sprache für Unsagbares

Entgegen allen Warnungen und Prophezeiungen

Wer fernsieht, kennt ihn: Marco Fritsche, Moderator der erfolgreichen Sendung «Bauer, ledig sucht…», engagiert bei zahlreichen anderen Sendern und Anlässen, mit einer eigen Talk Show auf Tele Ostschweiz, einer, dem die Zuschauer und Zuschauerinnen gern zusehen, den sie gern ansehen. Auch wenn er mit Kurzarmhemd unterwegs ist, wie an diesem Nachmittag in der Lokremise. Grossflächige Tatoos bedecken die braungebrannten, durchtrainierten Arme.

Mit 18 oder 19 Jahren war es für Marco Fritsche klar, dass er ein Tattoo wollte, „aber nur ein grosses“. Es war die Zeit der Tribaltatoos, der keltischen Linienzüge, die sich dezent um den Oberarm oder die Fesseln legten. Es sollte also kein modisches Bildchen sein, aber auch „kein Delphin mit Sonnenuntergang, sondern etwas, das auch mit 50 noch tragbar ist“. Also etwas mit Charakter, etwas mit Aussage. Es dauerte noch mehr als fünf Jahre, bis Marco Fritsche sein Tattoo gefunden hatte, oder vielmehr seinen Tätowierer. Denn in der japanischen Yakuza-Kultur ist es Sitte, sich zeitlebens von einem einzigen Künstler tätowieren zu lassen, und genau diese Yakuza-Tätowierungen hatten es Marco Fritsche angetan. Keine Frage, dass er nach dem Besten suchte und mit Alex Reinke fand. Reinke studierte das Tattoohandwerk, oder in diesem Falle ist es wohl angebrachter von Tätowierkunst zu sprechen, beim weltweit beachteten japanischen Meister Horiyoshi III. Und er brachte Marco Fritsche zunächst einmal in Verlegenheit, da Reinke, genannt Horikitsune, japanische Tattoos nur in unverfälschter, in traditioneller Form auf die Haut bringt. Das heisst: Es gibt keine halben Arme. Verlegen war Marco Fritsche aber nicht, weil es ihn abschreckte, sich statt bis zum Ellbogen den dreiviertel Arm tätowieren zu lassen, sondern, weil er bis dahin von dieser Regel nichts wusste.

Wer sich bei Reinke tätowieren lassen will, bekommt nur Körperbilder, die dem Yakuza-Kodex entsprechen, einem Kodex, der den Markierungen für Kriminelle entstammt und sich in einigen Hundert Jahren als Symbol der Gruppenzugehörigkeit etabliert hatte und nun langsam, aber in der westlichen Welt ganz deutlich neue Anhänger findet. Vielleicht liegt es an der Schönheit der Motive und ganz sicher an ihrer Bedeutung. Zentral sind die Kois, die Karpfen, die für Erfolg, Stärke und Glück stehen und Balance demonstrierend den einen Arm hinauf und den anderen hinunter schwimmen. Bei Frühling- und Sommergeborenen kommen Kirschblüten hinzu, für den Wintergeborenen Marco Fritsche sind es Blätter des japanischen Ahorns, „keine Hanfblätter“ wie er betont, denn genau das hat schon so mancher in den fein gezackten Blättern entdecken wollen.

Jede Wellenlinie, jedes Detail fügt sich bedeutungsvoll ins Gesamtbild. Die Gestaltung überliess Marco Fritsche ganz seinem Tätowierer. Nur ein Detail kommt mit einem Mal etwas unerwartet in den Blick: die schwarze Sonne am linken Arm. So gut sie auch ins japanische Motiv integriert ist, sie mutet nicht japanisch an. Tatsächlich: „Kensington Market mit 23 oder 24“ erklärt Marco Fritsche und es klingt wie die Überschrift einer Geschichte, die ebenso gut „Jugendsünde“ heissen könnte. Eigentlich sollte die Sonne sogar ein Gesicht haben, hat sie aber nicht, denn der (angetrunkene) Londoner Tätowierer hatte sich geweigert: „Don´t do a face into your sun, you will hate it.“ – eine Tätowierregel, die sicher schon so manche davor bewahrt hat, sein Tattoo zu bereuen.

Reue – diese Möglichkeit gehört wohl fest zum Tätowieren mit dazu. Bei Marco Fritsche hiess es damals: „Du als Moderator solltest Dich nicht tätowieren.“ Erst recht nicht bis auf die Unterarme. Aber Marco Fritsche hat sich kompromisslos für die Tätowierung entschieden, auch wenn sie bereits Sponsoren verschreckt hat: „Ich mache, was ich will und trage die Konsequenzen“. Dazu gehört auch, dass Marco Fritsche nochmals unter die Tätowiernadel muss: Zum traditionellen japanischen Tattoo gehört auch der vollständig tätowierte Rücken. Ein zeitaufwändiges Unterfangen, und umso schwieriger zu realisieren, da Reinke inzwischen in London arbeitet. Marco Fritsche sieht es pragmatisch: „Ich weigere mich zu sterben, bevor ich meinen Rücken tätowiert habe. Das ist meine Lebensversicherung.“ Und wenn dann erst eine Schutzgottheit auf dem Rücken prangt, passiert hoffentlich ohnehin nichts mehr.

Über Hoffmanns Herz miteinander verbunden

Regula und Lutz Heyer wohnen in einem kleinen Appenzellerhaus mitten in Trogen. Es ist das Haus, in dem Lutz Heyer aufgewachsen ist. Regula Heyer wohnt nun auch bereits seit 20 Jahren hier – nur 10 km entfernt von Heiden. Es war auf einer Tattoo-Convention in Dornbirn, als Regula und Lutz Heyer erfuhren, dass Herbert Hoffmann in Heiden wohnt und es fast nicht glauben konnten: der weltbekannte Tätowierer nur wenige Ortschaften entfernt. „Wir haben uns kaum getraut, ihn anzusprechen. Aber irgendwie war er ein herziger.“ Einer, der offen war und unkompliziert. Bis zum „Kommt doch mal vorbei“ dauerte es nicht lange und bald besuchte man sich regelmässig und spontan. So stand Herbert Hoffmann auch immer wieder mal unangemeldet vor der Tür bei Heyers, wenn er Gästen ein echtes Appenzeller Haus zeigen wollte.

Aber Herbert Hoffmann um ein Ankertattoo bitten? Lutz Heyer hegte zwar den Riesenwunsch, aber ihn auszusprechen, war eine andere Sache. Als es sich schliesslich doch ergab und Herbert Hoffmann ein Studio nutzen konnte, fasste sich auch Regula Heyer ein Herz. „Was Du auch?“ Herbert Hoffmann staunte und tätowierte auch ihr sein Ankermotiv in die Haut am Nacken.

Der Anker ist nicht das einzige verbindende Körperbild Regula und Lutz Heyers. Mit ihren Tattoos schreiben sie die gemeinsame, die Familiengeschichte mit. Angefangen hatte es mit einem Drachen, den sich Regula Heyer mit 19 stechen liess: „Ich wollte etwas, das nicht jeder hatte.“ Das Motiv fand sie auf einem Buchdeckel. Das Buch ist nicht mehr im Haus, aber auch Lutz Heyer liess sich den Drachen auf dem Oberarm tätowieren. Die Sternzeichen der drei Kinder tragen ebenfalls beide auf ihrer Haut. Für die älteste Tochter ist es ein Löwe. Es war für Regula Heyer nicht einfach, eine gute Vorlage zu finden, einen Löwen, der weder zu aggressiv, noch zu kitschig aussieht, deshalb kam zuerst das Sternzeichen des als zweites geborenen Sohnes dran. Er ist im Tierkreiszeichen des Fisches geboren, aber auch dies war nicht so einfach, denn „damals waren die Kois noch nicht ´in´“ und so vertritt ein Seepferdchen den Fisch. Der Widder für die jüngste Tochter steht bei Regula noch aus. Bei Lutz Heyer prangt er auf dem Rücken und ist Teil einer Motivlandschaft, die sich um den gesamten Körper zieht. Es ist keine homogene, aufeinander abgestimmte Bilderfolge, sondern eine gewachsene und weiterwachsende. Eine, die einen Anfang hat, aber noch lange kein Ende und die, würde sie heute beginnen, vielleicht anders aussehen würde: „Ich hatte nicht von Anfang an gewusst, dass ich mich füllen würde. Wenn ich noch mal anfangen könnte, würde ich anders anfangen. Aber ich stehe zu allem und will nichts überdecken lassen. Jedes Tattoo ist ein Teil von mir.“

Den Anfang machte eine Rose, als Lutz Heyer 18 und es im Kanton Bern noch offiziell verboten war, sich zu tätowieren, und sein Vater, der selbst zur See gefahren war, noch keinerlei Verständnis für Tattoos aufbrachte. Inzwischen ist auch der Vater tätowiert und bei Lutz Heyer ist seither vieles hinzugekommen. Nicht alles bezieht sich auf Lebensabschnitte und die Familie. Besonders ins Auge fallen die Silvesterchläuse: ein grosser Wüeschter auf dem Oberkörper und ein Kranz aus drei Wüeschten und drei Schönen um den Oberarm. Diese Tätowierung ist wahrscheinlich einzigartig, hier treffen sich zwei Kulturen, denn „Leute, die selber chlausen, sind nicht tätowiert.“ vermutet Lutz Heyer. Ihm ist die Verwurzelung in der appenzellischen Kultur wichtig, aber eben auch die Tattoos, die spätestens seit Herbert Hoffmann wiederum auch hier ihre Heimat haben. Das Ankersymbol des legendären Tätowierers taucht bei Lutz Heyer ein zweites Mal auf, in etwas abgewandelter Form: Gegenüber des grossen Wüeschten erhebt ein grimmiger Neptun statt des Dreizacks eine Harpune, die an Hoffmanns Anker erinnert. So erweist Lutz Heyer dem Idol noch einmal die Ehre. Und Regula Heyer? Das Herz mit Kreuz und Flügeln auf dem Oberarm erinnert mit seinem Datum an den Todestag Herbert Hoffmanns und ist nur im weitesten Sinne in memoriam gemeint: Am gleichen Tag hat Regula Heyer Geburtstag.

Ein Tatoo, das zu mir passt

Jubiläen sind ein besonderer Grund zum Feiern. Die zwanzig Jahre bücherladen Appenzell genauso wie der zwanzigste Geburtstag des Sohnes – das eine in diesem Jahr mit einem grossen Kulturprogramm, das andere im vergangenen Jahr mit einem Tattoo: Genau am Geburtstag ihres Sohnes liess sich Carol Forster auf ihren Arm ein feines Linienmuster stechen. Der andere Arm hatte seine immerwährende Zeichnung bereits im Jahr zuvor erhalten. Und auch dafür war der Anlass ein runder Geburtstag, nämlich der eigene. Das Tattoo schenkte sich Carol Forster selbst. Das erste war es nicht. Da sind beispielsweise noch die Eheringe auf der Innenseite des Oberarmes, die sich Forster von ihrem Bräutigam Augustinus „Gass“ Rupp anlässlich der Hochzeit stechen liess, im weissen Brautkleid. Gass stach sich das Pendent selbst. Und dann sind da die Schriftzeichen in den Armbeugen, ein Bekenntnis zu ihrem Sohn und der Liebe. Aber die Tattoos auf beiden Armen sind Forsters sichtbarstes, ihr grösstes, ihr prägnantestes Körperbild. Wobei es Bild in diesem Falle nicht ganz trifft, denn die zarten Linien erinnern viel eher an ein Muster, eine Komposition aus kleinteiligen geometrischen Formen. Sechsecke fügen sich zu einer Wabenstruktur, begleitet von doppeltem Zickzack und Parallelen. Die Ränder bleiben offen, lassen sich gedanklich fortsetzen. Die Zeichnungen auf beiden Armen wirken wie Ausschnitte aus einem grösseren Ganzen und genau genommen sind sie das auch: Die Tattoos entstammen der Tätowierkunst der Kalinga in den entlegenen philippinischen Bergen. Traditionell waren dort Männer und Frauen von Handgelenk bis über die Schultern und die Brust tätowiert. Auch Carol Forster könnte sich das vorstellen: „Vielleicht geht es weiter und wenn ich 70 bin, kommen noch die Hände dazu.“ Doch einstweilen hat sie genau das gefunden, das sie gesucht hat – ein Tattoo, dass zu ihr passt, eines das schmückt, mit dem sie sich jetzt gut fühlt und das auch in den nächsten Lebensjahrzehnten nicht befremden wird: „Ich selbst sehe das Tattoo nicht mehr. Für mich ist es wie eine zweite Haut.“ Das liegt auch daran, dass das Tattoo lebt. Ursprünglich sollte es mit Schablone aufgetragen werden, doch dann entschied sich Carol Forster, das Tattoo von Hand aufzeichnen zu lassen. Die Linien gehen auf den Arm und die Eigenheiten der Haut ein. Jede Wabe ist anders, die Linienabstände variieren leicht. Augenmass entspricht dem Körper eben stärker als gerasterte Symmetrie.

Noch sind Kalinga-Körperzeichnungen hierzulande keine Modeerscheinung, auch wenn Carol Forsters Beispiel durchaus zur Nachahmung reizen könnte. Aber wie kam die Buchhändlerin ausgerechnet auf die Tattoos dieses weit entfernt lebenden Volkes? Auf der Buchmesse! Als sie dort einen Prachtband über Kalinga Tattoos sah, war ihr rasch klar: „Das ist es.“ Carol Forster hatten es besonders die runzligen alten Frauen angetan. Deren schwarze Lineaturen auf den Armen wirken nicht nur selbstverständlich, sondern die Haut der Arme erscheint ungezeichnet von den Lebensjahren. So ist für Carol Forster das Tattoo auch ein Schutz vor dem Alter. Mit dem Tattoo setzt sie dem Altern etwas entgegen, es ist ein Statement und es ist schön: „Ohne viel Aufwand bin ich mit Schmuck behangen.“ Spontan erinnerten Carol Forster die Kalinga-Tattoos an Stickerei, eine Rückmeldung die sie mittlerweile selbst von einer alten Appenzellerin bekam, der Vergleich zur Tracht ist nicht fern. Und auch sonst gibt es Parallelen: Zufällig las Carol Forster von Peter Roths Projekt „Luminawa“ in einem kleinen Zeitungsartikel. Roth entdeckte Verwandtschaften zwischen der Musik im Toggenburg und Appenzell und jener der philippinischen Naturvölker. Den gleichnamigen Film von Thomas Lüchinger hat Carol Forster noch nicht gesehen, ganz bewusst will sie nicht allzu viel von der ursprünglichen Bedeutung der Tattoos der Kalinga erfahren, schliesslich handelt es sich bei diesen philippinischen Ureinwohnern um ehemalige Kopfjäger.

Obacht Kultur No. 13, 2012/2