Ulrike Kristin Schmidt

Gesammelte Texte

Zweisamkeit im blauen Raum

Dakini Dance Projects zeigen „Silk“ in der Lokremise. Es ist ihre erste gemeinsame Produktion. Die Aufführung in St. Gallen ist die 25. eines sinnlichen Stückes über die positive Kraft von Schönheit und Liebe.

Was ist Schönheit? Gibt es eine universale Schönheit, die über dem individuellen ästhetischen Empfinden steht? Kann Schönheit das Denken und damit die Welt verändern? Muss sie das? Wer sich der Schönheit verschreibt, sieht sich solchen Fragen ausgesetzt. Oft liegen auch die Begriffe des Kitsches und der Harmlosigkeit in der Luft. Dies alles waren für Susanne Daeppen und Christoph Lauener alias Dakini Dance Projects keine Hindernisse, im Gegenteil. Mit „Silk“ haben sich die beiden Tanzschaffenden dem Schönen verschrieben – und der Liebe. Das Stück will Frau und Mann gleichberechtigt und gleichwert zeigen: Einheit und Harmonie statt Geschlechterkampf und Drama.

Den Ausgangspunkt bildete für Daeppen und Lauener der ursprünglich japanische Butoh. Der Tanz entstand in den 1960er Jahren als Protest gegen die Amerikanisierung der japanischen Kultur. Gleichzeitig brach er mit den starren Kodes im traditionellen japanischen Tanz und orientierte sich am westlichen Ausdruckstanz. Dakini Dance Projects haben nun ihrerseits den Butoh weiterentwickelt: Den sogenannten „Tanz der Finsternis“ übersetzen sie in eine positive Grundstimmung. Geblieben sind die langsamen und expressiven Bewegungen des Butoh. Jede Geste wird zeitlich gedehnt und in grösster Perfektion ausgeführt, ganz gleich ob sie einen Finger, die ganze Hand oder den ganzen Körper betrifft. Jede Bewegung wird zum Ereignis. Die Tanzenden sind in jeder Sekunde höchst präsent.

Präzision und Langsamkeit setzen höchste Konzentration voraus – bei den Tanzenden genau wie beim Publikum. Susanne Daeppen hat besonders bei Festivalaufführungen beobachtet, dass die Besucher einige Zeit brauchen, um sich von der Veranstaltungshektik auf das Zeitlupentempo von „Silk“ einzulassen. Doch nach wenigen Minuten waren sie jeweils gefangen genommen von der Intensität des Stückes. Das liegt freilich nicht nur am Tanz, sondern am Gesamtcharakter des Stückes. Die Musik beispielsweise ist durchsetzt mit Stille und mit Naturtönen. Grillen zirpen, Frösche quaken. Es rauscht. Es schweigt. Dann wieder wollen Gitarrenklänge Sehnsuchtsräume eröffnen. Genauso wie der Bühnenraum. Lange, blau eingefärbte Segel aus Shoji-Papier prägen die Installation, entworfen vom Solothurner Künstler Joerg Mollet. Die Bahnen hängen von der Decke und breiten sich über den Boden bis zur ersten Zuschauerreihe aus. Sie wurden aus den Fasern des Maulbeerbaums produziert, in dem die Seidenspinner leben und dem Stück somit den Titel leihen: „Silk“.

Blau sind nicht nur die Papierbahnen, der ganze Raum ist von dieser Farbe durchdrungen. Es steht für die Weite, das Unbewusste, für Wasser und Luft. Das Blau öffnet sich ins Licht und wird in gezielt gesetzten Akzenten von der Komplementärfarbe gelb überstrahlt . Daeppen und Lauener setzten der Harmonie des Duetts starke Farbkontraste entgegen. Auch Rot kommt ins Spiel: Beide Tanzpartner malen sich mit dem Pinsel Schriftzeichen auf den Leib – nicht mit der Farbe des Blutes, sondern mit jener der Liebe. Ist soviel Gleichklang, soviel positive Grundstimmung noch spannend? Die beiden Tanzschaffenden betonen, dass „Silk“ ein Wagnis ist. Sie gehen es nun seit zwei Jahren immer wieder ein und erfahren bei jeder Vorstellung, dass sich die Zuschauenden von Schönheit berühren und entführen lassen. Am kommenden Wochenende hat nun das St. Galler Publikum Gelegenheit dazu.

Zwischendrin und ohne Pause

Im Zeughaus Teufen tut sich was. Auch zwischen zwei Ausstellungen bleibt das Haus geöffnet. In einer „Zwischenstellung“ werden die Werke weiterentwickelt. Auch Neues ist zu sehen und zu hören.

Zum Wesen einer Kunstausstellung gehört es, dass sie für eine klar begrenzte Dauer konzipiert wurde. Sie hat einen Anfang und ein Ende. Nicht nur begeisterte Besucher sind wehmütig, wenn nach der Finissage alles wieder in Kisten verpackt wird – auch den Ausstellungsmachern geht das so. Mal betrifft es Gemälde eines alten Meisters, die aus weltweit verstreuten Museumssammlungen zusammengetragen wurden und nach der Ausstellung wieder für lange Zeit oder für immer getrennt werden. Mal gilt der Abschied Arbeiten zeitgenössischer Künstler, die eigens für den Ausstellungsort geschaffen wurden und nun wieder demontiert oder übermalt werden müssen.

Was wäre, wenn einmal alles anders wäre? Was, wenn die Arbeiten bleiben dürften, wenigstens noch ein bisschen länger? Oder wenn sie sich verändern und in etwas anderes übergehen? Wäre nicht auch die Situation zwischen zwei Ausstellungen zeigenswert? Ueli Vogt probiert es aus: Auch nach „Ausgewogen?!“ ist die Pforte des Zeughaus Teufen nicht verschlossen. Die Eröffnungsschau ist zwar beendet, doch Kurator Ueli Vogt lässt sie in eine „Zwischenstellung“ übergehen – in eine Ausstellung nach der ersten und vor der nächsten. Manche Werke haben das Haus freilich schon verlassen, andere konnten sich aber in versteckten Ecken einnisten und sogar neue sind dazu gekommen.

Zwei Werke sind eine Etage höher in der Grubenmann-Sammlung wieder zu entdecken. Sandra Kühnes Planskelett hängt dort in einer der Nischen unter dem Dach des Hauses. Wie ein Spinnennetz schweben die feinen schwarzen Linien zwischen den massiven Balken. Ein Gemälde von Hans Schweizer hat weit über den Köpfen der Besucher einen neuen Platz gefunden und wird nun zum Dauergast bei Grubenmanns.

Aber auch im ersten Stock hat sich einiges getan und tut sich noch: Der Basler Michael Pfister hatte für „Ausgewogen?!“ Holzbänder über die gesamte Breite des Raumes gespannt. Der Künstler hat die Wellenlinie nun zu kreisenden Trichtern verwandelt, so als bewirke das Ende der Ausstellung, dass sich die Arbeit zusammenzieht. Ihre Dynamik verliert sie dennoch nicht. Gleiches gilt für Jürg Rohrs Wandgemälde. Der Künstler hatte auf die grausilbrige Wand ein dreidimensionales Objekt in die zweidimensionale Ansicht übertragen. Zusammengesetzt aus Quadraten und Dreiecken spreizte es sich ein bisschen schief, aber selbstbewusst über die Fläche. Jetzt übermalt der Künstler sein Bild in Etappen. Immer neue, grosse Kreise in der Farbe des Untergrundes trägt er auf. Wie Löcher fressen sie sich ins Wandgemälde und sind doch eigene Form. Auch Thomas Stüssis „Tobel Futur“ erhält im Verschwinden eine neue Gestalt. Die den Raum hinein gedrehte Aluminiumkonstruktion des Zürcher Künstlers wird nun Stück für Stück zerlegt. Stüssi ist immer wieder selbst mit der Zange an der Arbeit. Aus den Fragmenten entstehen Bechüe der anderen Art. Von Thomas Stüssi ist ausserdem eine Dokumentation seiner Überlegungen zu seinem Kunst und Bau-Projekt zu sehen. Realisiert wurde für den Vorplatz eine Trajektorenzeichnung von Christian Kathreiner, doch es ist interessant, die anderen eingereichten Vorschläge zu sehen. Etwa Christian Rattis Idee, das Alpenlangohr in den Dachstuhl des Zeughauses zu holen. Wiesenpflanzen vor dem Haus sollten Insekten anlocken und diese wiederum die Fledermäuse – ein Projekt, dass vielleicht doch noch umgesetzt wird. Überhaupt zeigt sich das Zeughaus auch in der Zwischenstellung lebendig und offen. Die Versuchsanordnung ist gelungen und findet sogar eine musikalisch Entsprechung. Fast jeden Donnerstagabend entwickeln Kontrabassist Patrick Kessler und Cellist Stefan Baumann im Mittelgeschoss ihr Projekt DOWNHILL weiter. Den Streichmusikern kann bei der Arbeit zugehört und zugeschaut werden – bei freiem Eintritt.

Sylvia Sleigh

Sylvia Sleigh steht ausserhalb ihrer Zeit und mitten drin. Ihre Malerei lässt sich keiner zeitgleichen Kunstströmung zuordnen, aber Sleigh war mit denselben Schwierigkeiten konfrontiert wie alle Künstlerinnen ihrer Zeit. Mehr als 7 Jahrzehnte lang malte sie gegen künstlerische und gesellschaftliche Konventionen.

Eine posthume Retrospektive? Das passt nicht ins übliche Verständnis eines Kunsthallenprogramms. Wenn also in der Kunst Halle Sankt Gallen Sylvia Sleigh präsentiert wird, überrascht das zunächst. Ein Gang durch die Ausstellung zeigt jedoch, dass sie mehr ist als der Rückblick auf ein Lebenswerk.

Sylvia Sleigh (1916–2010) war eine ungewöhnliche Künstlerin, eine die sich von Anfang an der Figuration widmete und keine Konzessionen an gängige Stile machte. In einer Zeit, als die malerische Geste, der Zufall, die Art und der Prozess des Farbauftrags gefeiert wurden, entwickelte sie ihre kompositorische Strenge und ihren offenen Blick für das Individuum. Sleighs sinnlich kühne Porträts sind mehr als harmlose Bildnisse von Künstlerkollegen und -kolleginnen. Sie entspringen einem Diskurs über Macht, Repräsentation und Gender. Sie unterwandern den objektivierenden, neutralen Blick des Künstlers auf sein zumeist weibliches Modell durch die Lust an der Schönheit des männlichen und weiblichen Aktes und an seiner Natürlichkeit, durch eine Neubewertung des Ganzkörperporträts und durch ihre grosse Aufmerksamkeit für sämtliche Bildelemente. Den Gemälden eignet eine Oberflächen- und Detailverliebtheit, die der Ausstrahlung der Porträts und nackten Leiber in Nichts nachsteht.

Diese Hingabe an Gestalt und Dekor war der Ausgangspunkt für Martin Leuthold. Der St. Galler Textildesigner entwickelte aus der Opulenz der Farben und Muster heraus das Ausstellungsdesign für die Präsentation in der Kunsthalle. Für die Stellwände gestaltete er Tapeten auf der Basis einzelner Bildmuster oder -gegenstände wie etwa kleiner Stiefmütterchenblüten. Andere Wände sind in Leuchtfarben gestrichen, die Stirnseiten tragen mal die Farbe, mal das Muster weiter. In einem Raum überzieht schillernde Folie die Wände und die riesenhaft vergrösserten Motive darauf.

Farben und Formen aus den Gemälden verselbständigen sich. So wird die Retrospektive zum Projekt über die Präsentation über Malerei. Dies gilt umso mehr, als dass die Schau insgesamt fünf Stationen hat und überall eine andere Auslegeordnung versucht wird. In der Tate gäbe es nicht nur verblüffende Parallelen zu den Präraffaeliten zu entdecken, sondern die Werke passen in der Tate Liverpool zur zeitgleichen Ausstellung „Glam! The Performance of Style“.

In St. Gallen wird die ästhetische Kraft der Bilder getestet. Statt Sleighs Affinität zum Dekorativen blosszustellen, wird sie aufgenommen und in der Inszenierung noch gesteigert. Die Bilder halten das aus: Malerei und Präsentation gehen eine perfekte Symbiose ein.

Don’t Smile

Vaduz: Die Besucher lächeln, unwillkürlich, immer wieder. Das ist schon viel. Denn „Don´t Smile. Vom Humor in der Kunst.“ ist eine Ausstellung der leisen Töne. Wer sich vor Lachen auf die Schenkel klopfen will, wer lautes Amüsement sucht, ist im Kunstmuseum Liechtenstein am falschen Ort. Dies zeigt bereits die Künstlerauswahl. Sie reicht von Bethan Huws und Anna Kolodziejska über Josef Dabernig und Rainer Ganahl bis hin zu Vaclav Pozarek, Kay Rosen und Eran Scherf – soweit von den Gegenwartspositionen die Rede ist.

Da von jedem Künstler, jeder Künstlerin grössere Werkgruppen zu sehen sind, weicht die Ausstellung vom üblichen Sammelsurium thematischer Ausstellung ab. Statt dessen lässt sie Arbeits- und Denkweisen deutlicher hervortreten und erweitert überdies die Möglichkeiten zu Querbezügen. Bei letzteren kommen die Klassiker ins Spiel. Marcel Broodthaers, Robert Filliou, René Magritte oder Joseph Beuys bieten Vorlagen, die Künstler immer wieder aufs Neue reizen.

Es ist kein Zufall, dass wiederholt das Motiv der Pfeife auftaucht: mal als abstrahierte geometrische Form bei Pozarek, mal als schlichter Verweis in Huws´ feinsinnigen Textarbeiten oder als Objekt mit Papierwolkenrauch bei Kolodziejska. Magrittes „Der Verrat der Bilder“ offenbart sich im Sinne der Semiotik einmal mehr als Zeichen mit viel Deutungspotential.

Was für das berühmte Pfeifengemälde des Surrealisten gilt, kann bezogen auf das ganze Schaffen Marcel Duchamps beobachtet werden. Sein Einfluss zeigt sich nicht nur in den Möglichkeiten des Readymades, die beispielsweise in Huws´ kleinen Objekten eine geistreiche Fortsetzung finden, sondern auch in den Reflexionen über Kunst und in seinen Wortspielen. Überhaupt ist Sprache das wichtige Instrument für jene kleinen Transformationen und Konfrontationen, die als Beweis von Humor gelten. Rosen lässt ein Alphabet freundlich grüssen, indem er zwei Buchstaben innerhalb des Ordnungssystems farbig hervorhebt: Das ABC sagt „HI“. Dabernig war nach einer Stoffwechselkrankheit gezwungen Diät zu halten, doch anstatt die Kur auszuführen, kopierte er das dazugehörige Ratgeberbuch Seite für Seite in Schönschrift – ein Versuch über Zeit, Genesung sowie sichtbares Resultat; und ein Festhalten des Flüchtigen wie es auch die Listen gerauchter Zigaretten oder bezahlter Tankfüllungen sind.

Humor ist Vieles und für jeden etwas anderes. In dieser Ausstellung drängt er sich nicht auf und kann sich gerade dadurch entfalten.

Kunstmuseum Liechtenstein, „ Don’t Smile. Vom Humor der Kunst“, bis 20. Januar 2013

Kunststation Strahlholz

Eine Postkarte ist eine Postkarte ist ein Relief ist eine Skulptur, ein Gemälde, eine Fotografie, eine Zeichnung, eine Caramellkreation. Und noch vieles mehr. Im Bahnwartehäuschen Strahlholz zeigt sich in jedem Jahr aufs Neue, was eine Postkarte alles sein kann. Einzig das Format mit den ungefähr 10 mal 15 Zentimetern setzt die Grenzen und selbst die werden umgedeutet. So fungiert beispielsweise eine Klarsichthülle als eine Minivitrine für zwei Holzbonbons. Birgit Widmer hat die beiden süssen Happen geschnitzt. Gemeinsam mit Hans Schweizer, Harlis Hadjidj Schweizer und Werner Steininger gehört die Künstlerin zu den Initianden des Kunsthalts im Wartehaus. Seit 1999 laden sie Künstler und Künstlerinnen ein, im November zu zeigen, was auf DIN A6 passt oder auch nicht. So manches Relief sprengt das zweidimensionale Format in den Raum hinein. Nur das Budget, das wird nicht gesprengt. Jede Karte ist für 30 Franken zu haben und nur an zwei Nachmittagen im Jahr ist Zeit, zu gucken, zu wählen, zu kaufen.

Am vergangenen Wochenende war es wieder soweit und das Gedränge im Wartehäuschen war gross – kein Wunder, denn der Raum ist so klein und die Kunst so gut.

Sie kamen von überall her, die Postkarten der Künstler und Künstlerinnen. Das Ostschweizer Netzwerk ist stark vertreten, aber auch Kunststudentinnen aus Basel, Akademiestudenten aus Düsseldorf und Karlsruhe oder ein Japaner aus Kassel schickten Arbeiten in verheissungsvoll bauchigen Umschlägen. Wohl keiner kannte all die Künstlernamen, die da mit feinem Bleistift direkt auf die weissen Bretterwänden gekritzelt waren. Macht aber nichts, die neben, unter und über den Namen aufgehängten Werke waren ohnehin die Hauptsache und so manch einer stieg mit einem kleinen Stapel und glücklichem Gesicht wieder ins Appenzeller Bähnli.

Freuen wir uns auf nächste Jahr, auf den nächsten Kunsthalt im Strahlholz.

http://www.ost-blog.ch/kunststation-strahlholz/

Der Bär tanzt

Jozef Frucek will mit seinen Produktionen ambivalente Gefühle auslösen. Dies gelingt ihm gemeinsam mit Linda Kapetanea und der Tanzkompagnie des Theaters St. Gallen mit „Bulldog Ant“ in der Lokremise.

Das Positive vorweg: Jozef Frucek und Linda Kapetanea entwerfen gemeinsam mit der Tanzkompagnie des Theaters St. Gallen starke Bilder. Die Tänzer und Tänzerinnen leisten viel auf höchstem Niveau. Die Musik trägt ganz wesentlich zur Kraft und Dynamik des Stückes „Bulldog Ant“ bei. Dennoch bleibt bei dieser Produktion ein schales  Gefühl zurück.

Das Stück bedient Geschlechterklischees ohne Bruch, ohne Gegengewicht, ohne Auflösung. Die Tänzerinnen bleiben in der Situation des Erduldens, während die Tänzer in Handlungen, Bewegungsart und -spielraum die aktive Rolle wahrnehmen. Sie dominieren, agieren, besetzen den Raum. Das ruft geradezu nach Ausgleich, zumal es den Tänzerinnen anzusehen ist, dass sie mit Körper und Charisma über viel Potential verfügen. Allein, sie werden gebändigt. Die führende männliche Hand kontrolliert die Bewegungslust. Einzig in endlos wiederholten rhythmischen Gesten darf sie sich Bahn brechen. Immerhin: Als Schreibkraft der Mind Map ist frau einsatzfähig oder auch in der (ausgezeichnet gesprochenen) Rolle der Wissensvermittlerin. Da jene aber mit geöffneten Schenkeln an eine der Lokremisensäulen gefesselt ist, dominiert auch hier die sexuelle Symbolik. Die Tänzerinnen nehmen wieder und wieder die Opferposition ein.

Wenn Missbrauch auf der Bühne thematisiert wird, sollte auch den Opfern eine Identität zugestanden werden. Dass anfangs ein Bär als testosterongesteuertes Triebtier seine Tatzen in Frauenschenkel gräbt, fügt dem Ungleichgewicht der Geschlechter nur eine weitere Facette hinzu. Dabei funktioniert dieses Bild wie viele andere des Stückes durchaus.

So taugen die knapp übermannshohen Eisenbahnschwellen sowohl als Gegenpart der Tänzer wie auch zur Gliederung des Raumes. Die Tänzer betätigen sich als Zimmermänner der Gefühle, sie errichten Barrieren, stossen sie um (am Ende des Stückes darf dies auch eine Tänzerin), begraben ihre Opfer darunter. Immer wieder rufen die Mühen der Tänzer mit den 40 kg schweren Holzelementen den Titel des Stückes in Erinnerung. Gleichzeitig wird die Isolation der Figuren schmerzhaft spürbar.

Das ganze Geschehen spielt sich vor einer überdimensionalen schwarzen Tafel ab, auf der besagte Mind Map ausgehend von den Begriffen „Lust, Genuss, Vergnügen“ entsteht. Da darf die Kunst nicht fehlen. Zitate aus der Kunstgeschichte sorgen denn auch für ästhetisch hochwirksame visuelle Effekte im Stück. Die Bahnschwellen erinnern an die Minimal Art-Holzskulpturen von Carl Andre. Wenn mit grosser Geste weisse Farbe auf die schwarze Tafel aufgetragen wird, ist das Action Painting nicht fern: Die Gemälde Franz Klines kommen in den Sinn. Überdies ist Einiges an Kreuzsymbolik ins Stück gepackt, die allerdings vordergründig bleibt.

Und die Frauen? Zu Beginn der letzten Viertelstunde dürfen sie kurz als gleichberechtigte Aktionspartnerinnen auftreten, die Isolation der Tanzenden wird aufgehoben, kraftvoll wird miteinander und gegeneinander agiert – bevor sich die Tänzerinnen wieder in zappelnde, kichernde Püppchen verwandeln. Ihnen hilft es nun auch nicht mehr, wenn der Bär mit dünnen Schnüren in Fesseln gelegt wird.

Zünftige Kunst

Das Künstlerduo a & a zeigt auf Einladung des Nextex wie Kunst ohne festen Raum funktioniert. Statt im White Cube gibt es Kunst im Open Cube.

„In St. Gallen kommt man um den roten Platz nicht drum herum.“ Sagen Amayi Wittmer und Annina Burkhalter alias a & a. Die beiden müssen es wissen, arbeiten sie doch seit Jahren gemeinsam im öffentlichen Raum. Die Kunst zum Leben zu bringen, ist ihr Ziel. Dass dabei lebendige Kunst entsteht, Kunst, die aus dem Leben schöpft, zeigt die aktuelle Ausstellung der beiden Künstlerinnen im Nextex, oder vielmehr für das Nextex – denn im Kunstraum selbst ist keine Kunst zu sehen.

Eigentlich war es ein Zufall, dass der neuerliche Umzug des Nextex ausgerechnet in die Zeit der Ausstellung von a & a fällt. Doch die Künstlerinnen waren froh darüber, keinen festen Ort nutzen zu müssen. Schliesslich passt das zu ihrer besonderen Form des Künstlerkollektivs: a&a sind Kunstgesellinnen. Sie gründeten beim gemeinsamem Studium an der Hochschule für Kunst und Design in Luzern eine Zunft, legten einen Gesellinneneid ab und sind seither auf Wanderschaft. Sie haben sich der Freiheit, dem Reisen und dem Leben verschrieben.

Wittmers und Burkhalters Ausstellung in St. Gallen besteht im Kern aus einem wöchentlichen „Krug“. Immer donnerstags wird in Anlehnung an den Krug-Brauch der Gesellen auf der Walz ein Treffen mit Alteingesessenen und anderen Wandernden einberufen. Er soll dem Kennenlernen und dem Gedankenaustausch dienen, und er findet stets an anderen Orten statt. Als erstes war der rote Platz, der Raiffeisenplatz dran. Er wurde Ort einer genau abgestimmten Aktion: Die beiden Künstlerinnen filzten. Filz hat wie auch das Belagsmaterial des roten Platzes keine Laufrichtung. Zu roten Teppichen oder Wolken verarbeitet, lässt es sich beliebig und im Gegensatz zur Tartanbahn temporär im Stadtraum platzieren. Zudem erinnert es an „Red Cloud“ und damit an eine der wenigen erfolgreichen Episoden im Freiheitskampf der amerikanischen Ureinwohner.

a & a bedienen sich eines Handwerkes, deuten es um, passen es an, reagieren auf Gegebenheiten. Immer dabei ist ihr mobiles Zunfthaus: ein ehemaliger Wohnwagen des Modells La Boheme. Die Künstlerinnen haben ihn ausgeweidet und verwandelt. Aus dem Reiseanhänger ist ein offener Atelier- und Aktionsraum geworden, ein Open Cube. Er bildet die Basis, das Zentrum und die Werkstatt der beiden Künstlerinnen. Mit ihm sind sie unterwegs und vor Ort. Ihn reichen sie weiter wie den Krug. Zu Allerheiligen wird er an der Talstation des Mühleggbähnlis stehen, Gerüche und Geräusche werden aus ihm herausdringen, aber ansonsten wird er die Feiertagsruhe nicht stören. Ausnahmsweise, wird in seinem Inneren, im Verborgenen gewerkelt. Die Filzwolken werden weiterverarbeitet.

An den danach folgenden Donnerstagen geht es spiralförmig durch die Stadt weiter und immer in anderer Hand. Europa: Neue Leichtigkeit ziehen in den Kantipark, Jan Buchholz bespielt den Tivoliweg 5, mit noch ungenannten Gästen geht’s zum Kinderfestplatz und zu guter Letzt zum Güterbahnhof beim Kugl. Das Nextex hingegen darf in Ruhe zügeln und sich dann zum Heimspiel in den neuen Räumen am Blumenbergplatz präsentieren.

Malerei ohne Malerei

Das Amt ist ausgezogen, die Kunst zieht vorübergehend ein. Mit Christian Vetter zeigt die Guerilla Galerie im ehemaligen Betreibungsamt einen international arbeitenden Künstler.

Christian Vetter ist Maler. Malerei, was ist das genau? Während motivisch überladene Gemälde, ganz gleich ob gegenständlich oder nicht, grosse Markterfolge feiern, arbeitet Vetter (*1970) an der Essenz der Malerei. Sie interessiert den Zürcher Künstler als Medium, mit dem sich Körper und Welt ins Verhältnis setzen lassen. Malerei kann unabhängig von willkürlich gewählter Farbmaterie und Farbträger existieren und sie hinterlässt Spuren. All dies ist Thema seiner Ausstellung für die Guerilla Galerie. Unter dem Titel „Die Negation der Negation“ inszeniert Christian Vetter Malerei, ohne dafür einen Pinsel zur Hand zu nehmen. Im ersten Stock des Gaiserbahnhofsgebäudes verwandelt er Räume in Bilder. Das Vorgefundene ist selbstverständlicher Teil des Ganzen, ja es ist sogar sein Ausgangspunkt.

Bis April war hier das Betreibungsamt untergebracht. Nun sind Flur und Bürozimmer leer – und auch wieder nicht. An einer Kastentür klebt ein Zettel. „Neue Adresse ab 1.4.1978 Bahnhofsplatz 8“ steht darauf: Mehr als dreissig Jahre lang haben hier Behördenalltag, Arbeitsabläufe und Amtspersonen gewirkt und die Räume geprägt. Die Spannteppiche sind ausgetreten und fleckig. Staub und ausgeblichene Stellen an den Wänden zeugen von früherem Bildschmuck. Die Hängeregister in den Schränken sind noch da, aber geleert. Es dominieren Grau und Beigetöne. Wer eintritt, ist sofort Teil der Installation. Sie nimmt einen gefangen noch bevor die künstlerische Intervention ins Bewusstsein rückt.

Vetter hat sämtliche Leuchtstoffröhren durch Tageslichtröhren ersetzt. Das gleissende, kalte Licht verbindet alle Räume. In fünfen sind Fichtenholzleisten zu ephemeren Konstruktionen verbaut. Sie spreizen sich zwischen Decke und Boden, imitieren Trennwände und verbinden zugleich. Mehr oder weniger verhüllt von schwarzem Molton wirken sie mal wie Überreste mal wie Kulissenarchitektur oder Paravents. Oder sie sind zu einem hermetischen, schwarzen Kubus gefügt, der den Betrachter aussen vor bleiben lässt. So wie es der grosse Empfangsschalter des ehemaligen Amtes tat.

Vetter spielt nicht nur mit Atmosphäre und Identität der Amtsstuben. Er verstärkt und akzentuiert sie und deutet sie um. Er verzichtet auf Malerei, doch die Negation führt nicht zum Bildverlust, sondern schärft im Gegenteil den Blick. Die Holzleisten bilden einen deutlichen Kontrast zu den grau gestrichenen, massiven Tresoren und den ebenso grauen Schränken aus Pressspanplatten. Aber sie lenken den Blick auch auf das Raster der Fensterstreben und des Parketts im Flur. Mehrdeutig auch die halb herunter hängenden Tücher. Einerseits entsprechen sie dem abgenutzten Zustand des Amtes, andererseits kommen sie unvermittelt und provisorisch daher.

Bewusst arbeitet der in St. Gallen aufgewachsene Künstler mit einfachsten Materialien. Seit längerem untersucht er die kommerziellen Interessen an der Kunst und die daraus resultierenden Probleme. Nun kann er mit temporären Werken die Kunstmarktinteressen ausgerechnet im Betreibungsamt unterlaufen.

St. Gallen: Pipilotti Rist

Pipilotti Rist (*1962) bringt die inneren Bilder zum Fliessen. Kleines wird riesig. Grosses wird klein. Inneres kehrt sich nach aussen; Bilder stehen Kopf. Rists Videoarbeiten umfangen den Betrachter. Sie verlassen die zweidimensionale Projektionsfläche und wuchern über Wände, Boden und Decke. Rist erforscht Leib und Sinne und sprengt gleichzeitig die Raumgrenzen. Statt linearer Erzählungen vermitteln ihre Werke komplexe Raum- und Körpererfahrungen. Keine Falte ist zu tief, als dass sich die Kamera nicht ihren Weg bahnen könnte. Doch nie ist die Schweizerin voyeuristisch, nie stellt sie bloss. Liegt es an der Nähe, der Dimension? Daran, dass jeder Betrachter automatisch Teil des Gezeigten wird? Pipilotti Rist lässt die Distanz zwischen dem Körper des Betrachters und dem projizierten Körper schwinden – und sie entwickelt ihr Vokabular ständig weiter. Das Kunstmuseum St. Gallen zeigt dies anschaulich in einer grossangelegten Einzelausstellung.

Einzelwerke von Rist sind regelmässig in internationalen Grossausstellungen zu sehen und begeistern das Publikum dort mit ihrer punktgenauen Inszenierung und ihrer Opulenz. Dennoch oder gerade deswegen tut es gut, den Weg der Künstlerin in der Zusammenschau nachzuvollziehen, angefangen von den frühen Einkanalvideoarbeiten über die ersten Installationen bis zu einem eigens geschaffenen Farblabor.

Schon „Eine Spitze in den Westen – ein Blick in den Osten“ (1992) umfängt den Betrachter, aber noch bleibt das Videobild frontal und begrenzt. Bald breiten sich die Bilder zu Haupt und Füssen des Betrachters aus, oder er wird zur Symmetrieachse einer riesenhaften Spiegelung. In „Administrating Eternity“ (2011) wird er schliesslich in Bewegung versetzt und wandert durch einen wehenden Bilderwald.

Die Grösse und Präsenz der Videobilder lassen mitunter vergessen, dass Pipilotti Rist das Verhältnis umkehren kann. In ihren Rauminstallationen sind Videoprojektionen ein kleiner Teil des grossen Ganzen. Sie schwimmen über Teller oder verstecken sich inmitten dichter Objektlandschaften auf scheinbar beiläufig platzierten Bildschirmen.

Ebenso souverän wie mit der zeitgenössischen Technik vermag Rist auch mit den Alten Meistern umzugehen. Wie schon in Baden rückt sie die Sammlung des Hauses in den (farbenfrohen) Blick. Und ganz ohne Video geht es schliesslich auch: Blütenweiss und vielsagend lässt Rist eine Unterhosengirlande durch den Stadtpark wehen.

Kunstmuseum St. Gallen, Pipilotti Rist. Blutbetriebene Kameras und quellende Räume, 2. Juni – 25. November 2012

St. Gallen: Nicole Böniger und Markus Müller

Der Kulturraum des Kantons St. Gallen ist ein starkes Stück Architektur. In den 1970er Jahren wurde er im klassizistischen Zeughaus als Ausstellungsraum erstellt und wartet nun mit einer markanten Wand- und Deckengestaltung auf. Eine Herausforderung die Markus Müller annimmt und beantwortet. Ursprünglich hatte der Basler Künstler massive Einbauten mit eingeschnittenen Durchblicken geplant. Geblieben sind die Löcher, oder vielmehr deren Positivform: Müller stülpt die Löcher um. Er stellt zwei unregelmässig ovale Scheiben in den Raum. Ihre schwarzen Seiten schlucken das Licht und weisen in unbestimmte Tiefe. Der braun gestrichene Rand suggeriert Maserung und nimmt Kontakt auf zum dunklen Holzboden. Beide Scheiben stehen für sich und sind doch auf den Raum bezogen. Müller attackiert das Vorgefundene nicht, sondern denkt es unbefangen weiter. Nicole Böniger nimmt ebenfalls den Dialog auf, jedoch verhaltener. Ihre Malereien und Papierarbeiten entfalten eigene Räume. Die Zürcherin beschreibt Farben als Zustände. Übereinander gelegt und verwoben oder wieder abgetragen, eröffnen sie lichte oder tiefe Stellen. Überdies entwickeln die Lacke, Kunstharze und Wasserfarben ein einkalkuliertes Eigenleben. Böniger gibt dem Beiläufigen Gewicht und stiftet zum bewussten Hinsehen an – das kommt wiederum auch der Architektur zugute.

Kulturraum am Klosterplatz, St. Gallen, Nicole Böniger, Markus Müller: Nach der Garderobe, 17.8. – 14.10.2012