Ulrike Kristin Schmidt

Gesammelte Texte

Ante Post Ante

Das Kunstmuseum St. Gallen hatte immer wieder sehenswerte zeichnerische Positionen im Programm der letzten Jahre. Nun erhält Ante Timmermans hier seine erste Museumsausstellung. Die Schau offenbart Witz, Tiefsinn und die installativen und performativen Qualitäten seines zeichnerischen Werkes.

Sie hat keinen guten Ruf, die monotone Arbeit, eingebunden in starre Systeme, in Stechuhr- oder Kollektivzwänge: Was ist der Mensch mit dieser Arbeit mehr als ein animal laborans ohne eigenen Gestaltungsspielraum, unterdrückt und ausgebeutet? Ist nicht die künstlerische Arbeit das Gegenteil? Vollständige Freiheit des Tuns und Denkens? Was passiert, wenn die Automatisierung allen diese Freiheit erlaubt, weil die monotone Arbeit von Maschinen erledigt wird? Fragen, über die schon so manche Philosophen in Streit geraten sind – Ante Timmermans (*1976) nähert sich ihnen ebenso unbefangen wie geistreich.

So wie Routine ihren Reiz haben kann, trägt Langeweile das Potential der Poesie in sich – für den, der es zu nutzen versteht. Timmermans entzieht sich dem Sog des Belanglosen nicht, sondern setzt sich ihm aus. Für die Manifesta 9 im Sommer diesen Jahres entwickelte der belgische Künstler die Arbeit „Make a molehill out of a mountain (of work)“, die nun in St. Gallen zu sehen ist. Im Zentrum der Installation steht eine Büroszenerie von erdrückender Enge. Inmitten hunderter Kopierpapierstapel sind mit Stempel, Locher und Stempelkissen Arbeitsabläufe angedeutet, deren Sinnlosigkeit nur von ihrer Gleichförmigkeit übertroffen wird. Und doch: In den begleitenden Zeichnungen blitzt Humor auf, die eintönige Situation wird reflektiert und im selben Moment unterwandert. Der abgeschottete Schreibtisch wird zur Klause, zum schützenden Gehäuse des geistig regen Individuums.

Timmermans Arbeiten müssen sowohl in ihrer Präsenz als auch in ihrem Entstehungsprozess betrachtet werden, um des Künstlers Denkangebote wahrnehmen zu können. „Spieltisch (Homo ludens)“ etwa zeigt einerseits, was der von seiner (monotonen) Arbeit befreite Mensch nun zur Sinngebung im Alltag zur Verfügung hat: Es sind die Amüsements des Jahrmarktes, die jedoch verdächtig einem Hamsterrad gleichen. Andererseits funktioniert das filigrane Drahtgeflecht als subtiler Verweis auf das Bedürfnis, in mühevoller Kleinarbeit etwas von Bestand herzustellen, auch wenn es für Andere wie eine überflüssige Spielerei, eine Belanglosigkeit anmuten mag. Es erzählt denen, die sie lesen wollen, unzählige Geschichten und begeistert als Zeichnung im Raum.

„Ich bin auch eine Zeichnung“ schrieb Timmermans 2009 in neutralen Lettern auf ein Blatt Papier. Die ganze Ausstellung ist eine Zeichnung. Mit sanftem Nachdruck durchdringt sie Welt und Arbeit.

Im Rausch der Farben

Gilles Rotzetter zeigt unter dem Titel «Wild Lonely» aktuelle Arbeiten in der Galerie Paul Hafner. Der Westschweizer Künstler reflektiert in seinen überbordenden, kraftvollen Gemälden Zeit und Vergangenheit.

Vital und ungestüm ist Gilles Rotzetters Malerei: Farbe strudelt, wirbelt über die Fläche. Das Material tost über die Leinwand, bildet Gipfel und Täler, bricht sich an Dämmen. Jeder Pinselstrich ist ein Ereignis. In ihrer Summe künden die malerischen Gesten vom Rhythmus der Malerei, von Schwung und Energie. Letzteres haben sie mit den Farbtönen gemein. Auch sie sind Zeichen dynamischer Prozesse.

Darüber hinaus steigern die grellen Farben den absurden Charakter so mancher Szene: Ein leuchtend blauer Bär schreitet über orangefarbenes Land. Rote Gräber sind in giftgrünes Friedhofsgras gestochen, die gelbe Trauergesellschaft tanzt vor den blauen Tannen, dahinter brennt der rote Himmel. Ein Vogel sitzt zwischen Zahnrädern über einem sprudelnd sich ergiessenden Rohr.

Nirgendwo gibt es konkrete Vorlagen für diese Gemälde. Die Arbeiten sind sehr persönliche Bilder des 1978 in Vevey geborenen Künstlers, entspringen seinem individuellen Speicher. Da sich dieser Speicher aber aus Gesehenem und Erinnertem speist, hat er viele Verknüpfungen zum kollektiven Gedächtnis. Der einsame Cowboy löst auch bei jenen Assoziationen aus, die nicht wie Rotzetter eine Zeitlang in den USA gearbeitet haben. Der Künstler zitiert die Klischees und unterläuft sie mit seiner unkonventionellen Malerei. Daneben schöpft er aus einem unendlich grösseren Kosmos. Gilles Rotzetter rezipiert die Arbeit der Historiker und Archäologen. Ihn faszinieren alte Weltkarten. Die Geschichte erweitert seinen Horizont für die Gegenwart. Der Künstler befragt die Vergangenheit, um Aussagen für unsere eigene Zeit treffen zu können. Die Kunst ist dabei sein Mittel, Dinge nicht zu vergessen, und das Zeichnen, das Mittel, um die Welt zu verstehen.

Als Rotzetter beispielsweise im Schweizerischen Institut in Rom weilte, war er zunächst von der Menge der hochkarätigen Skulpturen und Bauten ebenso wie von jener der Touristen wie gelähmt. Bald jedoch hatte es ihn gepackt: Zeichnend machte er sich auf die Spur aller Gemälde Caravaggios in der Stadt. Von Caravaggio selbst sind keine Zeichnungen erhalten. Indem sich Rotzetter das Werk des grossen Meisters zeichnend aneignet, erfährt es eine erfrischende Verwandlung. Rotzetter befreit es vom Staub jahrhundertelanger Anbetung und präsentiert es unmittelbar und lebendig.

Das Originalskizzenbuch ist in der Galerie Paul Hafner leider nicht zu sehen, grossformatige Kopien dienen als Ersatz. Sie sind gemeinsam mit anderen Zeichnungen Rotzetters im kleinen Raum der Galerie zu sehen. Hier hängt auch das Werk «Radiophonie Anticipation».

Es ist ein weiteres Beispiel für die Parallelen der Geschichte, bezieht es sich doch auf einen alten Atlas der Technologie. Darin wurde schon 1927 von einem «Visiophon» berichtet, das 1993 allen Menschen zur Verfügung stünde. Rotzetter hat den Text niedergeschrieben und das Schreiben als bildnerischen Prozess umgesetzt. Entdeckungen wie das «Visiophone» gibt es immer wieder in dem Werk des Künstlers, mitunter sind sie weniger offensichtlich, vieles bleibt auch rätselhaft. Etwa jene schwarze Kapsel mit roten Fugen in «Antarctica starts here II».

Obschon mit einem Ausguck versehen, gibt ihre hermetische Form keine Andeutungen preis, da mag das giftige Grün noch so drängen. Aber auch wenn das Bild sein Geheimnis für sich behält, weckt es die Lust, weiterzuschauen. Gilles Rotzetters Malerei berauscht die Sinne.

Jede Suche findet sich im Gehen

Die Rotes Velo Tanzkompanie zeigte in der Lokremise St. Gallen ihr aktuelles Stück „Alberto, der Mann, der geht“. Giacomettis Werk ist der Ausgangspunkt für Szenen über die künstlerische Arbeit.

Exequiel Barreras verehrt Alberto Giacometti. Der argentinische Choreograph und Tänzer widmete dem grossen Künstler bereits 2006 ein eigenes Tanztheaterstück. Die zweite Choreographie zu Giacometti entstand im vergangenen Jahr mit der Rotes Velo Tanzkompanie. In der Reihe Nachtzug in der Lokremise war sie zu nun zu sehen. „Alberto, der Mann, der geht“ erzählt vom Unterwegssein und vom fortdauernden Bestreben des Künstlers, seine Wahrnehmung in eine gültige Sprache zu übertragen. Alberto Giacomettis Weg war von Zweifeln und harten Auseinandersetzungen mit der Form geprägt. Wieder und wieder begann er die Arbeit an einem Werk, zerstörte es und begann erneut. Entstanden sind Plastiken von grosser Präsenz, die mit ihrer aufrechten Haltung, der fragilen Gestalt und der sich auflösenden Kontur dem Menschsein entsprechen.

Giacometti verstand sich in seinem künstlerischen Bemühen als Suchender. Ein Bild dafür sind die Figuren des gehenden Mannes. Jeder Weg beginnt mit einem Schritt. Jede Suche findet sich im Gehen – auch im Stück von Exequiel Barreras. Schritte und Blicke korrespondieren miteinander, lenken sich gegenseitig. Die vier Tanzenden fassen die Ferne ins Auge und ihr Gegenüber. Sie finden sich und streben wieder auseinander.

Der Typus des Künstlers ist sowohl in äusserlichen Andeutungen wie etwa gipsverschmierten Hosen als auch in der Rolle des Schöpfers präsent. So vereinen sich Hella Immler, Emma Skyllbäck, Yannik Badier und Exequil Barreras in wechselnden Duetten von Gestalter und Gestaltetem. Eindringlich zeigen sie den Kampf des Künstlers mit seinem Werk, der zuweilen auf engstem Raum stattfindet. Gemeinsam werden zwei zu einer Skulptur, die sich wie Berninis berühmter Raub der Proserpina auf engstem Raum empor schraubt. Immer wieder wechseln die Tanzenden die Seiten, die Grenzen zwischen Schöpfer und Geschöpf verwischen.

Die Tänzerinnen und Tänzer – alle Mitglieder der Tanzkompanie am Theater St. Gallen – begeistern in diesem Stück mit perfekter, in jedem Detail stimmiger Körperarbeit. Das reicht bis hin zum Gesicht. Nicht nur in einem klamaukigen Intermezzo zu Hildegard Knefs „Ich brauch kein Venedig“ ist die Mimik wichtiger Teil des Ganzen, sondern auch in Szenen über das Erschaffen. Hier nehmen die Tanzenden mal den passiven mal den aktiven Part ein, immer aber wirken die Bewegungen stimmig. So entstehen eindrucksvolle Sequenzen über die Wahrnehmung, das Erleben und die künstlerische Arbeit. Ab wann ist ein Werk vollendet? Wann beginnt es zu leben? So wie die Tänzer und Tänzerinnen sich einander annähern, umrunden und berühren, so nähert sich das Stück künstlerischen Gestaltungsprozessen an. Giacometti ist der Anlass – aber das Ringen um die Form endet nie.

Ort ond Lüüt – Virtuelle und appenzellische Begegnungen

H.R.Fricker will die Menschen zusammenbringen: Menschen aus den Gebieten der damaligen 12 Mitglieder der Eidgenossenschaft, nämlich Basel, Bern, Glarus, Freiburg, Luzern, Ob- und Nidwalden, Schaffhausen, Solothurn, Uri, Schwyz, Zug und Zürich mit Menschen aus Innerrhoden und Ausserrhoden. Austausch ist das Ziel, auch Freundschaften, zumindest aber Begegnungen.

Frickers für das Kantonejubiläum AR◦AI 500 entwickeltes Projekt „Ort ond Lüüt“ setzt auf heutige Vernetzung. Mittels Facebook sind Interessierte aus den alten Kantonen und aus den beiden Appenzell eingeladen, erste Kontakte zu knüpfen, weitere Aktivitäten zu planen und sich an einem Tisch zusammenzufinden.

Doch das Projekt hat durchaus seine Tücken. Eine davon ist die Unverbindlichkeit des virtuellen Netzwerkes. Ein anderes die Mobilität. Während früher die begrenzten Transportmittel den Austausch über grosse Distanzen stark einschränkten, so führen die Möglichkeiten heute dazu, dass eher nach Stockholm als nach Stans gereist wird, eher nach Hawaii als nach Herisau. Gerade besteht aber auch die Chance von „Ort ond Lüüt“. Denn die mitwirkenden Frauen und Männer aus den alten Orten werden zu Begegnungen mit je einer am Projekt beteiligten Appenzellerin oder einem Appenzeller an ein Mittagessen in Herisau oder Appenzell eingeladen. Sie werden sich bei der Ledi-Wanderbühne treffen und für so manchen wird es wohl die erste Reise hierher sein, aber sicherlich nicht die letzte. Umgekehrt darf dies freilich ebenso funktionieren: Vielleicht macht sich der eine oder die andere aus Appenzell erstmals auf den Weg nach Sarnen oder Sisikon und entdeckt ganz neue Seiten der alten Kantone.

Kunst ist Kommunikation. H.R.Fricker kommuniziert. Heute findet ein Grossteil der Vernetzung und somit auch der Kommunikation im Internet statt, auch für H.R. Fricker. Doch zuvor? Lange vor weltweiten digitalen Plattformen vernetzte sich der Trogener mit Künstlern aus aller Welt. Eigens gestaltete Briefe und Briefmarken reisten von einem zur anderen. International besetzte Treffen fanden statt. Das war in den 1980er Jahren. Aber wie sah es vor 500 Jahren aus? Wie wäre die Geschichte ausgegangen, wenn schon vor 500 Jahren heutige Kommunikationsmittel existiert hätten? Wären sie genutzt worden? Lässt sich nachholen, was damals nur beschränkt möglich war?

Anmeldung und Auskünfte bei H.R. Fricker: h.r.fricker@bluewin.ch oder http://www.facebook.com/hrfricker

Grenzwechsel – Streifzüge zwischen zwei Kantonen

Wenn zwei eng beieinander sind, gibt es immer auch Trennendes. Das ist bei den Menschen genauso wie bei den Kantonen. Selbst wenn sich Menschen physisch noch so nahe kommen, die Haut grenzt sie voneinander ab, sie ist Schutz und Barriere in einem, sie ist sichtbar und fühlbar. So einfach ist es bei den Kantonen nicht: Die Grenze ist da und doch nicht zu sehen. Sie ist durchlässig und dennoch präsent. Grund genug für Gisa Frank, sich auf den Weg zu machen, die Grenze neu zu erfahren, sie zu erwandern, zu unterwandern und zu bespielen.

Die Tänzerin und Choreographin aus Rehetobel unternimmt für das Kantonejubiläum AR°AI500 „Grenzwechsel“. „Ägni, frönti, schregi“ Gestalten sind da unterwegs. In Pelzen, Filz und Haar erinnern sie an Tier und Mensch zugleich, mal frech und übermütig, mal scheu und unscheinbar. Von Herbst 2012 bis Sommer 2013 streifen sie durch die Wälder, tauchen an Wegkreuzungen auf, waten durch Bäche und tanzen über Kreten. Immer entlang der Grenze zwischen den beiden Appenzell. Es gibt Scharmützel und Pausen, stille Linien und laute Rudel. Ständig formiert sich die eigenwillige Wandergesellschaft neu und taucht von Grenzstein zu Grenzstein als sich wandelndes Bild in der Landschaft auf.

Gisa Frank arbeitet sich seit langem an der Ausweitung der traditionellen Tanzbühne. Sie geht in die Natur, bezieht Laien und Zuschauer ein, überschreitet Gattungsgrenzen. Sie untersucht die Wechselwirkungen von Landschaft und Kunst ebenso wie die künstlerische Form: Ab wann wird eine Bewegung in der Natur als bewusst gestaltet wahrgenommen? Wie viele Spielregeln braucht es und wie viel Freiheit ist möglich? Wie verändert der Ort die Bewegung?

Auch für „Grenzwechsel“ werden Landschaft und Weg die Gruppe prägen – eine Gruppe, die überdies in sich selbst dynamisch ist: Spaziergängerinnen, Wanderer, Schaulustige sind eingeladen sich dem Streifzug anzuschliessen. In sechs Etappen geht es von Vorderland bis Säntis und schliesslich bis ins Festspiel auf dem Landsgemeindeplatz in Hundwil hinein. Das Stück „Der dreizehnte Ort“ lieferte einerseits Anregungen für die Figuren und wird nun andererseits durchdrungen. Die in Fell und Filz gewandeten Gestalten werden über die Bühne streifen, das Dach besetzen und sich unters Publikum mischen. Es gilt, die Augen offen zu halten!

Weitere Informationen unter: https://www.facebook.com/Grenzwechsel

Die Kiste – der Soundtrack des Appenzellerlands

Werkstatt, Dorfplatz, Baumkrone – drei Orte, die nicht viel gemeinsam haben, oder doch? Hier brummt und summt es, da wird gewerkelt und geweibelt, Töne ringsumher. Ob absichtsvoll oder zufällig: In jeder Sekunde und fast überall klingt es. Die Geräusche sind vergänglich. Schade eigentlich, denn sie erzählen soviel von Menschen und Tun, von Orten und Kultur. Höchste Zeit also für ein Tonarchiv. Anlässlich des Kantonsjubiläums tragen Alteingesessene, Zugereiste, Ausgewanderte und Zurückgekehrte aus den beiden Appenzeller Kantonen zusammen, was in Innerrhoden und Ausserrhoden klingt. Alles ist erlaubt, ob urchig oder geschliffen, musikalisch oder chaotisch, unscheinbar oder herzzerreissend.

Alles darf in „Die Kiste“. Sie wird als überdimensionale Jukebox mit der Ledi-Wanderbühne von Frühling bis Herbst umherreisen und für Stimmung sorgen. In dieser Kiste wird der DJ spielen, was zuvor gesammelt wurde und was die Besucher dann vor Ort wünschen. Dazu müssen sie sich nicht etwa in einen Rechner einwählen. „Die Kiste“ funktioniert ganz klassisch: Alle Klangstücke kommen als Unikate auf Vinyl-Singles daher. Analog statt digital: Eine Schallplatte in der Hand zu halten, ist einfach ein anderes taktiles Erlebnis, als einen Datensatz anzuklicken. Diese sinnliche Erfahrung ist dem Initiant des Projektes, Patrick Kessler, wichtig. Für das Kantonejubiläum AR°AI500 entwickelte der Gaiser Musiker die Idee der Appenzeller Tonsammlung und der überdimensionalen Jukebox mit 200 Schallplatten: „Die Kiste“. Für sie ist er derzeit viel unterwegs zu Opernsängern oder Zimmerleuten, Schlossern oder Künstlerinnen, Rappern, Schülern oder Jazzerinnen. Alle Mitwirkenden finden oder erfinden Kompositionen aus Geräuschen, Musik, Gesang oder Texten und nehmen sie auf. Auch die Plattenhülle gestalten sie selber. Auf dass ihre privaten Klangfavoriten den Ledi-Besuchern besonders ins Auge fallen und somit oft gespielt werden. Auch hier ist alles erlaubt, was sich auf Single-Covermasse verkleinern oder vergrössern lässt.

Schon bei den Vorarbeiten zeigt sich: Das Tonarchiv verbindet und taugt zur Identifikation, wenn sich etwa die Truppe einer Putzfirma als ganzes Team beteiligt. Und auch während der Ledi-Tour wird wohl so manch einer auch nochmal die eigene Single für andere zu Gehör bringen lassen.

Anmeldung und Auskünfte bei Patrick Kessler: info@bassilikum.ch / www.diekiste.ch

Faites vos jeux!

Bitte Platz nehmen zur nächsten Runde! Das Amtskarussell dreht sich, die Jahrmarktsmusik dudelt – wer fährt noch einmal mit? Die zweite Chance ruft. Für den Kulturraum des Kantons St.Gallen ist sie längst gekommen. In den 1970er Jahren wurde der Saal durch Ernst Brantschen im klassizistischen Zeughaus Felix Wilhelm Kublys als Ausstellungsraum erstellt. Wand- und Deckengestaltung, Boden und Entree sind eine Gesamtkomposition, die es in sich hat. Man sieht ihr das Alter an, doch sie entfaltet nach wie vor ihre Kraft. Im besten Fall wirkt sie markant – eine Herausforderung ist sie immer. Seit dem vergangenen Jahr bespielt das Amt für Kultur des Kantons diesen Raum nun mit Gegenwartskunst. Aktuell präsentiert Anita Zimmermann (*1956) dort das «Amtskarussell» und verhilft nicht nur dem Raum zu einem grossen Auftritt. Sein dunkel gebeizter, glanzlackierter Boden erstrahlt im Licht dutzender Kristallleuchter. Sie wiederum beleuchten einen seltsamen Bilderschatz: Gemälde, Drucke, Zeichnungen, typologisch geordnet, meist in altmodischen Rahmen. Sie liegen horizontal auf Putzschwämmchen ausgelegt wie Inseln im Fluss.

Die Bilder gehören zur kantonalen Kunstsammlung. Ihre Gemeinsamkeit: Seit Jahrzehnten verstauben sie im Depot, auch sie warteten auf ihre zweite Chance. Anita Zimmermann hat die Werke in vielen Arbeitsstunden gereinigt, gruppiert, ins Licht geholt – auf dass ihnen der Perspektivwechsel ein neues Existenzrecht verleihe; Hund neben General, Matterhorn neben Auenlandschaft, Kürbisse neben Blumenstilleben. Aussortiert und doch von erstaunlicher Präsenz unter dieser Regie der St.Galler Künstlerin. In der Rolle der Karussellfrau preist sie die (Kunst) Attraktionen höchstpersönlich an. Wer Platz im rotierenden Bürosessel nimmt, wird von einer lila Schönheit umkreist, gesprayt auf grosse Formate. Die Farbe, die Technik, die Ausstrahlung – alles fällt bewusst etwas aus der Zeit und behauptet sich doch. Anita Zimmermann (*1956) ist eine Spezialistin für das Potential des Ausrangierten.

Bis Sonntag, 3. Februar 2013 im Kulturraum am Klosterplatz.

Publiziert im Ost-Blog: http://www.ost-blog.ch/faites-vos-jeux/

Die Summe der Entscheidungen

„Katalin Deér fotografiert doch nur.“ Nein. Katalin Deér fotografiert weder nur noch ausschliesslich. Sie fotografiert viel, aber wenn die Künstlerin die Kamera zur Hand nimmt, entstehen nicht nur Aufnahmen des Gesehenen. Deérs Fotografien sind der Ausgangspunkt ihrer Auseinandersetzung mit dem dreidimensionalen Raum. Die Künstlerin interessieren gewachsene bauliche Strukturen im urbanen oder ländlichen Umfeld. Mit ihrem offenen Blick entdeckt sie selbst im unscheinbarsten Betonbau eigentümliche Details. Sie stellt formale Parallelen heraus und wird dabei nie formalistisch. Sie zeigt in ihren Fotografien die Seele des Gebauten als Summe des Gewordenseins und der jeweiligen Atmosphäre des Ortes.

Im Zentrum der Bilder Deérs stehen die Gestalt und das Körperhafte von Architektur. Zugleich nimmt die Künstlerin jedes Foto selbst als Körper wahr. Jeder Abzug ist mehr als ein auf Papier belichtetes Bild, er ist ein Objekt, das sich im Raum manifestiert. Es liegt also nahe, die Fotografien in den dreidimensionalen Raum zu überführen. Den Anfang machten kleine Pappmodelle, deren Kontur den fotografierten Bauten entsprach mit allen kippenden und fliehenden Linien.

Inzwischen giesst Katalin Déer Fotografien in Beton oder Gips ein, legt sie auf vorgefundenen Tischen aus oder auf eigens gefertigten Podesten. Sie wechselt die Perspektive und rückt die Bilder als eigenständige Objekte in den Blick. Überhaupt gelingt es der Künstlerin, Dingen zu einer neuen Präsenz zu verhelfen: In Deérs Atelier stehen diese kleinen Hocker – unscheinbar, ein bisschen windschief und nicht eben neu aussehend. Nur der wirklich aufmerksame Blick oder besser noch eine Berührung enthüllt, dass sie ein Nickelbronzeguss sind. Warum also diese Verwandlung? Die Transformation in ein anderes Material bringt die archetypische Gestalt des Gegenstandes ins Bewusstsein. Deér sieht, was ist, und lässt es die Betrachter sehen, mit jeder Arbeit wieder. Was nun aber so einfach klingt, ist ein Weg voller Wagnisse und Entscheidungen, der nicht nur die Auswahl aus Tausenden von Bildern betrifft, sondern auch neue Materialien, Verarbeitungsprozesse und Präsentationsformen. Künstlerische Entscheidungen – andere gibt es auch noch, denn wie landet eine international arbeitende Künstlerin mit einem Mal in der Ostschweiz?

Katalin Deér hatte 12 Jahre in Berlin gelebt und dort an der Hochschule der Künste studiert. Weitere fünf Jahre pendelte die in Kalifornien geborene Künstlerin zwischen Berlin und New York. Dort arbeitete sie im Atelier mit Blick auf Manhattan. Dann stand sie 2003 vor der Entscheidung. New York oder Berlin? Berlin oder New York? Eine der beiden Metropolen sollte zum endgültigen Wohn- und Arbeitsort werden. Dann kamen ein St. Galler und St. Gallen ins Spiel. Die Stadt konnte sich gegen die grosse Konkurrenz durchsetzen. Der Kunst wegen? Auch der Kunst wegen.

Katalin Deér war schon seit den 1990er Jahren immer wieder zu Gast gewesen in der Kunstgiesserei. Schliesslich wurden die hervorragenden Arbeitsbedingungen ein wichtiger Grund für ihr Bleiben. Ein weiterer war das kulturelle Leben in St. Gallen, das sich in den letzten 20 Jahren sehr entwickelt hat. Zudem ist die internationale Kunstwelt nicht fern, für den, der gut vernetzt ist.

Auch Zufälle helfen manchmal, vorausgesetzt, die Qualität stimmt. Ein Beispiel ist Katalin Deérs „photographic mission“ für Guimarães, die europäische Kulturhauptstadt 2012: Deérs Künstlerbuch «Present Things» entstand anlässlich einer Ausstellungsreihe im Museum of Contemporary Photography des Columbia College, Chicago, im Kunstverein in Heilbronn und dem Museum Moderner Kunst Kärnten in Klagenfurt. Irgendwie hatte es seinen Weg in eine Londoner Kunstbuchhandlung gefunden. Dort fiel es dann jenem portugiesischen Kurator in die Hände, der die Künstlerin prompt in die portugiesische Textilmetropole einlud.

Guimarães war ein europäisches Zentrum der Textilindustrie bis dort der wirtschaftliche Niedergang verheerende Folgen hatte. Katalin Deér fotografierte den Zustand der Fabriken, der Häuser der Zuarbeiter, der Infrastruktur. Sie wertet nicht, sie klagt nicht an, sondern akzeptiert was ist. Sie gibt dem Moment Gewicht. Dies verzahnt ihre fotografischen Arbeiten einmal mehr mit ihren Werken aus Stein oder Stuckmarmor wie sie in Amden zu sehen waren oder in der Doppelturnhalle Arbon zu sehen sind: Jede offen gelegte Schicht ist nur eine Möglichkeit im Universum aller möglichen Zustände. Die künstlerische Entscheidung macht den Unterschied.

Amtskarussell im Kulturraum

Die Situation dürfte in allen öffentlichen Sammlungen ähnlich sein: Einige Werke passen nicht länger ins Gesamtbild, sind ungeliebt, beschränken den Platz für Neuanschaffungen. Was tun? Anita Zimmermann (*1956) hat einen offenen Blick für aussortierte Dinge. So besteht ihr Brunnen vor dem neuen Bundesverwaltungsgericht in St. Gallen aus Abgüssen alter Vasen und Schalen aus Brockenhäusern. Solche Funde verarbeitet sie auch zu kristallenen Leuchtkörpern. In der Ausstellung „Amtskarussell“ tauchen sie den Kulturraum des Kantons St. Gallen in vielfach gebrochenes Licht. Sie illuminieren einen besonderen Teil der kantonalen Kunstsammlung: Alle Bilder, die hier auf Putzschwämmchen ausgelegt sind, verstaubten seit Jahrzehnten im Depot. Zimmermann hat sie gereinigt, geordnet, gruppiert, ins Licht geholt – auf dass ihnen der Perspektivwechsel ein neues Existenzrecht verleihe; Hund neben General, Matterhorn neben Flusslandschaft, Kürbisse neben Blumenstrauss und alle in der Horizontalen. In der Rolle der Karussellfrau preist die Künstlerin die (Kunst-)Attraktionen an. Wer Platz im rotierenden Bürosessel nimmt, wird zu Jahrmarktsmusik umkreist von einer lila Schönheit, vervielfacht auf grossen Formaten. Die Aufmachung jener Dame gleicht den ausgemusterten Bildern: Nicht mehr ganz frisch und doch überaus vital.

Kulturpreis 2013: Rosmarie Nüesch-Gautschi

Rosmarie Nüesch-Gautschi ist die „Grubenmann-Frau“ und nicht nur das. Sie ist Denkmalpflegerin, Architektin, Vermittlerin, Mutter, war Kantonsrätin, Mitglied der Staatsbürgerlichen Arbeitsgemeinschaft beider Appenzell, Heimatschutz-Obmann.

Obmann? Obmännin? Rosmarie Nüesch hat sich ganz selbstverständlich in Männerdomänen bewegt zu einer Zeit, als es noch nicht einmal einen geeigneten Begriff für ihren Vorsitz des Heimatschutzes Appenzell Ausserrhoden gab. Sie war eine der ersten Architekturstudentinnen der Schweiz, war von 1970 bis 1999 im Vorstand des Heimatschutzes und von 1971 bis 1991 dessen Obmann. Auch als FDP-Präsidentin von Teufen und als Mitglied der Eidgenössischen Kommission für Natur- und Heimatschutz und der Eidgenössischen Kommission für Denkmalpflege war sie jeweils 1978 eine der ersten Frauen. 1989 wurde sie zusammen mit Elisabeth Kunz erste Kantonsrätin; kurz nach der Einführung des Frauenstimmrechts auf kantonaler Ebene. Gäbe es dafür einen Preis – Rosmarie Nüesch würde ihn wohl nicht annehmen, so selbstverständlich war ihr die Arbeit, so uneigennützig, pragmatisch ihr Engagement.

Aus diesem Geist heraus war Nüesch auch zur Stelle als für das Jubiläum «1979 – 500 Jahre Teufen» eine Gemeindebibliothek und eine Grubenmann-Sammlung zur Diskussion standen. Schon 20 Jahre vorher war Nüeschs Grubenmann-Leidenschaft geweckt worden, als der Schweizerische Ingenieur- und Architektenverband(SIA) sie mit einer Ausstellung zu Hans Ulrich Grubenmann im Historischen Museum St. Gallen beauftragte. Eine Ausstellung im Auftrag der Pro Helvetia ging dann auf Reisen an alle westdeutschen Technischen Hochschulen und Rosmarie Nüesch mit ihr. Seither hat diese Baumeisterfamilie sie nicht mehr losgelassen – schon ein halbes Jahrhundert lang.

Rosmarie Nüesch hat Pläne und Holz-Modelle gesammelt, hat Arbeitsverträge, Abrechnungen, Berichte von Zeitgenossen und Druckgraphiken archiviert, konnte die Sammlung um fotografische und Planaufnahmen bereichern. Immer wieder fand sie bis dahin unentdeckte Dokumente und inventarisierte weiter. Es überrascht nicht, dass Rosmarie Nüesch als Grubenmann-Fachfrau bei der Instandsetzung von Grubenmann-Bauten in der ganzen Ostschweiz zu Rate gezogen wurde – und während ihrer Amtszeit als Obmann des Heimatschutzes wurden viele Bauten restauriert. Das Verständnis für Heimatschutz und Denkmalpflege war erst allmählich im Wachsen begriffen; in Appenzell Ausserrhoden wurde die Denkmalpflege erst 1991 auf kantonaler Ebene eingerichtet. Rosmarie Nüesch kämpfte häufig ohne die nötige institutionelle Absicherung im Rücken. Das bedingte viele Gespräche und das nötige Verhandlungsgeschick. Dutzende von Häusern wurden restauriert und umgenutzt, wichtige Bauten mit viel Einsatz gerettet, wie zum Beispiel der «Baumgarten» in Herisau, das Gätzihaus in Urnäsch, die hölzerne Gitterbrücke über den Rotbach bei Teufen und zusammen mit dem Verein „pro Freihof“ in Heiden dieses geschichtsträchtige Haus im Dorfkern. So viel Engagement strahlt aus. Der Wakkerpreis für Gais, oder der Schoggitaler für Trogen, aber auch die Einrichtung und der Betrieb der Grubenmann-Sammlung in Teufen und die nationale Vortragstätigkeit haben die Leute mit dem Appenzellerland in Verbindung gebraucht. Umgekehrt funktioniert dies genauso. Grubenmann zieht Architekten, Ingenieure, Interessierte nach Ausserrhoden. Erst recht, seit im vergangenen Sommer das Grubenmann-Museum ins Zeughaus Teufen eingezogen ist. Rosmarie Nüesch hat den Stab weitergegeben, dank ihr lebt das Erbe der Baumeisterfamilie weiter. Der Ausserrhodische Kulturpreis, der mit Fr. 25’000 dotiert ist, hat mit Rosmarie Nüesch eine würdige Preisträgerin gefunden.

Obacht Kultur, Nummer 14 | 2012/3