Ulrike Kristin Schmidt

Gesammelte Texte

Wohlergehen in Gais

Der Kurort Gais war der ideale Veranstaltungsort der diesjährigen Kulturlandsgemeinde unter dem Motto „wohl oder übel“. Bei Molke und Kraftelixier wurde über Gesundheit nicht nur geredet.

Wie gesund sind wir? Wie gesund müssen wir sein? Wie gesund ist die Welt? Die Kulturlandsgemeinde 2013 kümmerte sich ums Menschen- und Weltenwohl und sparte auch das Übel nicht aus. Letzteres geriet jedoch bald einmal in den Hintergrund angesichts der vielen aufs Wohlergehen ausgerichteten Angebote. Die verwinkelten Gänge des Hotel Krone in Gais führten zu Behandlungs-, Beratungs- und Bewegungszimmern. Ob Akupressur oder Tai Ch´i, Craniosacral-Therapie oder Krankenkassenberatung, ob Fussbäder oder Feldenkrais – alles konnte in Ruhe ausprobiert werden. Zwischendurch lockte ein Ruhezimmer zu einer Pause. Material für das Hirn gab es im Bücherzimmer. Aus den Beständen der Kantonsbibliothek Trogen war hier eine kleine, aber gehaltvolle Bücherei zusammengestellt worden.

Das eigentliche Herzstück der Kulturlandsgemeinde waren die Plattformen im Veranstaltungssaal des Hotel Krone. Am Samstagvormittag stand der „Körper in Hochform“ im Zentrum. Tänzer Philip Amann, Künstlerin Renate Flury, der Gaiser Extremsportler Reto Schoch und der neue Innerrhoder Landammann Roland Inauen sprachen über das Fliessen der Energien und Gedanken. Für Inauen war die Landsgemeinde naturgemäss ein besonderes Ereignis, aber ebenso wichtig sei es, die Alltagsmomente zu beseelen. Die Gesprächspartner waren sich einig, dass Balance wichtig und Lachen heilsam sei. Das ergab auch die zweite Plattform. Sie untersuchte „Was uns aufs Gemüt schlägt“. Rechtsanwalt Hermann Grosser, Lama Irene, Neurologe Jürg Kesselring und Künstlerin Michaela Müller unterhielten sich nicht nur, sondern lebten auf dem Podium vor, wie es funktioniert, einander wahr- und ernst zu nehmen. Ein Kernbegriff war die Verantwortung sich selbst, anderen und der Umwelt gegenüber. Letzteres ergründete die dritte Plattform. Wie schon zuvor führte Slam-Poet Richi Küttel launig und sprachgewandt ins Thema ein, er fand so sprechende Bilder wie jenen vom „Senkfuss im ökologischen Fussabdruck“. Gesundheitsökonom und Weltreisender Jürg Baumgartner, Journalistin und Autorin Susan Boos und der Ausserrhoder Gesundheitsdirektor Matthias Weishaupt schlugen den Bogen von der Gesundheitspolitik bis zu den globalen Ressourcen und zurück zur Gesundheit, denn das Verhalten des Einzelnen beeinflusst schlussendlich sein Wohlgefühl.

Einfache Rezepte für den kranken Planeten gibt es nicht, aber warum nicht vom Appenzellerland aus eine Revolution zur Entschleunigung anzetteln? So ein Fazit der Sendschrift zur Kulturlandsgemeinde. Sie wurde von Journalist Peter Surber verfasst und am Sonntag vorgetragen. Der eigentliche Höhepunkt des Sonntagsprogramms war aber zweifelsohne die Lesung von Endo Anaconda. Der Schriftsteller und Musiker mäanderte wortgewaltig unterhaltend vom Hobbyhypochonder zum Hobbymediziner, von surrealistischen Fieberträumen bis zur Frage „Hätte ich ein Appenzeller Nachtwanderseminar buchen sollen?“. Lachen ist gesund und in diesem Sinne dürfte allen Anwesenden einmal mehr wohl gewesen sein an dieser Kulturlandsgemeinde.

Michaela Müller, Transit

Transit, 2012, zwei synchronisierte Videoprojektionen, Animation auf Glas gemalt, Sound Design: Fa Ventilato

Hotels und Flughäfen sind Orte für Reisende. Doch während erstere dem zeitweiligen Bleiben dienen, sind letztere reine Durchgangsstationen. Wer auf dem Flughafen ankommt, will weiter, will nicht bleiben, will weg oder heim. Die Menschen eilen von Flug zu Flug, von der Passkontrolle zum Gate, von Gate zum Gepäckband, vom Gepäckband zum Zoll. Sie sind unterwegs.

Michaela Müller (*1972) hat sich auf die Menschenströme am Flughafen eingelassen. Tagelang hat sie dort, wo fotografieren verboten ist, gezeichnet, hat Notizen und Skizzen angefertigt und Töne aufgenommen. „Transit“ ist ein Kondensat der festgehaltenen Eindrücke. Statt Geschichten übers Reisen zu erzählen, fängt der in einer Endlosschleife sich wiederholende Animationsfilm die Flughafenstimmung ein. Michaela Müller verzichtet auf detaillierte Bilder oder Szenen zugunsten einer atmosphärischen Darstellung des Unterwegsseins.

Die in Zagreb und Reute lebende Künstlerin arbeitet mit Gouachefarbe auf einer schräg gestellten Glasplatte. Die entstehenden Bilder sind keine Einzelansichten, sondern gehen ineinander über, verändern sich ständig und lösen sich im nächstfolgenden Pinselstrich wieder auf. Die Farbmaterie fliesst, läuft herunter, hält niemals still. Nur eine waagerechte Linie bleibt konstant zu sehen. Ist sie der Handlauf eines Rollbandes? Viel wichtiger als ihr gegenständlicher Bezug ist ihre Wirkung: Sie verbindet die beiden Projektionen und gibt dem Film sowie den Figuren visuellen Halt.

Die Reisenden bleiben in Bewegung. Sie ziehen und stossen ihre schweren Koffer, halten auch inne, wenn die Last zu dazu zwingt. Manch einer hat es eilig, läuft schneller als andere, nach vorn gestemmt unter dem Gewicht des Gepäcks. Andere wirken gelassen, gehen aufrecht. Ein Kind wird flugs in die Arme genommen, da es zu langsam geht im Strom der Erwachsenen.

Innerhalb der Endlosschleife gleichen sich die Bilder, wiederholen sich auch. Michaela Müller hat bei „Transit“ bewusst auf einen Anfang verzichtet: „Bei einem Video bestimmt der Betrachter, wie lange das dauert, was der Künstler erzählt.“ Jederzeit ist der Einstieg in den Film möglich, ebenso wie der Ausstieg. Immer wieder laufen die blau auf weiss gezeichneten Gestalten über die beiden Monitore – mal mehr, mal weniger schemenhaft, manche mit einem Nachbild als wehrten sie sich gegen ihr Verschwinden. Anonym bleiben die Figuren aber alle. Wie im Flughafengetümmel verschwindet der Einzelne in der Menge. Individuelle Befindlichkeiten gehen in der allgemeinen Hektik unter. Sie zählen am Flughafen nicht, aber wer fliegen will, nimmt dies auf sich – wohl oder übel.

Text zur Kulturlandsgemeinde, 2013, „wohl oder übel“

Renate Flury, Frischluft

Das Gehirn braucht Sauerstoff zum Denken, je mehr, desto besser. Zwei Turbogebläse pusten frische Luft in den Veranstaltungssaal. Die kräftige Brise weht durch den Raum, sie tönt und strömt, sie beansprucht Aufmerksamkeit. Statt das Denken zu fördern, unterbricht das windige Brausen die Konzentration. Oder bringt es die abgeschweiften Gedanken zurück zum Ort des Geschehens?

Renate Flury inszeniert mit „FrischLuft“ eindrucksvolle Störmomente innerhalb der Kulturlandsgemeinde. Eben noch drehte sich alles ums Wohl- oder Übelsein und plötzlich trägt der Wind nicht nur die Worte davon, sondern mit ihnen die geäusserten Überzeugungen und Ideen ebenso wie deren Reflexion im Publikum. Für eine Minute lang erobert sich der mächtige Luftzug einen Platz in den Köpfen, schafft Raum für einen neuen Denkanfang.

Renate Flury hat eine Arbeit entwickelt, die gerade in ihrer immateriellen Erscheinung grösste Präsenz und Wirksamkeit entfaltet. Die Thurgauer Bildhauerin (1953 in Zürich geboren) beschreitet mit „FrischLuft“ neue Wege, die dennoch in logischer Konsequenz zum Vorangegangenen stehen. Was im Material Stein seinen Anfang nahm ist nun im Atmosphärischen angelangt, besitzt aber von nach wie vor gewichtige Ausdruckskraft.

Vor dem Eingang zum Hotel Krone ist ein Werk aus Muschelkalk zu sehen. Es gehört zur Gruppe der „Traumwesen“. Es ist weder Mensch noch Tier, genauso wenig gibt es ein Vorn oder Hinten. Die Skulptur will umrundet werden, nur so offenbart sie sich in Gänze. Männlich und weiblich finden unter dem wuchernden Haupt zu einer Einheit zusammen.

Der menschliche Körper ist immer wieder Gegenstand der künstlerischen Forschung Renate Flurys: Ende der 1990er Jahre übersetzt die Künstlerin menschliche Knochen zehnfach vergrössert in Marmor. Die Serie ist nicht abgeschlossen, da ist Flury gezwungen, sich neue künstlerische Materialien anzueignen. Die Künstlerin ist an Multipler Sklerose erkrankt. In den frühen 2000er Jahren beginnt sie mit Schaumstoff zu arbeiten. Der künstlerische Prozess ist in diesem Material ähnlich wie beim Behauen des Steines: „Ich muss die richtigen Punkte finden. Im Weghauen des Materials befreie ich das Werk aus der vorgegebenen Form.“ Es entstehen die pcbodys – ins Körperhafte übersetzte Computerkürzel, wie sie Drucker statt konkreter Fehlermeldungen ausspucken. Dem Zufälligen wird eine bleibende Form verliehen. Das gleiche Prinzip verfolgt Flury auch in ihren Wachstagebüchern: Die kleinen Plastiken sind Momentaufnahmen. Mit ihnen hält die Künstlerin Begegnungen, Ereignisse oder Dinge aus ihrem Alltag fest, verleiht ihnen eine neue Geltung.

Dem Flüchtigen und Unscheinbaren widmet sich Renate Flury auch in ihren Fotografien und Computerbildern. Erstere lenken den Blick auf Körperdetails, letztere sind spontan entstandene, fragile Kritzeleien, witzig, schwerelos, unbeschwert – so wie „FrischLuft“.

Frank Keller: Hypochondrien

„Es ist ausgesprochen merkwürdig, aber immer, wenn ich so eine Reklame für ein Heilmittel lese, komme ich unweigerlich zu dem Schluss, dass ich an der darin beschriebenen Krankheit leide, und zwar in ihrer übelsten Form. Jedesmal stimmen die beschriebenen Anzeichen exakt mit allen Symptomen überein, die ich je an mir wahrgenommen habe.“, Jerome K. Jerome, Drei Männer in einem Boot, Bristol 1889

Bilder haben eine grosse Kraft. Sie können uns faszinieren, aber zugleich auch erschaudern lassen, uns verunsichern, uns anekeln. Dies funktioniert selbst dann, wenn sie nur wenige Quadratzentimeter Realität abbilden oder gar nur entfernt realen Dingen gleichen.

Was zieht uns an, was stösst uns ab? Können wir es rational begründen? Frank Keller spielt mit der sinnlichen Ambivalenz der Bilder ebenso wie mit der Zweideutigkeit der Sujets. Ausgehend von Aufnahmen menschlicher Haut, aber auch von der Schale einer Zitrusfrucht oder selbst gezüchteten Bakterienkulturen erzeugt der Ausserrhodische Künstler (*1964) am Computer virtuelle Landschaften. Mal wirken sie tief zerklüftet, mal ziehen sich feine Linien hindurch. Mal wuchern dunkle Stellen in ihnen und breiten sich myzelartig aus. Dann wieder brechen tiefrote Krater auf. Die bestimmende Farbigkeit erinnert mal an fahle, mal an gerötete Hautstellen oder sogar an abgestorbene Epidermis. Über einige Landschaften ist ein unbestimmter Glanz gelegt, der den Reliefcharakter noch betont. Obgleich alle Bilder vage an Bekanntes erinnern, ist doch bei kaum einem präzise zu bestimmen, was es zeigt. Dies wird noch dadurch gesteigert, dass Frank Keller ein rundes Format wählt. Es gibt keine horizontale oder vertikale Richtung vor, jedes Bild erscheint als Ausschnitt eines grösseren Ganzen.

Dadurch, dass der Künstler eindeutige motivische Hinweise vermeidet, ruft er den emotionalen Aspekt der Wahrnehmung ins Bewusstsein: Obgleich kaum etwas visuell fassbar wird, stellt sich mit hoher Wahrscheinlichkeit beim Betrachten der Bilder ein gewisses Unbehagen ein. Dies gilt nicht nur für die zweidimensionalen „Bildscheiben“, sondern auch für die „Moulagen“ in der Petrischale. Auch die handtellergrossen Wachsobjekte sind weniger Abbild konkreter Vorlagen als Imaginationen, die ins reale oder irreale kippen. Ihr künstliches Rosarot nähert sich zuweilen dem Inkarnatton. Die schwarzen Spitzen könnten Borsten sein oder Haare, aber wer ohne Vorurteile schaut, entdeckt, dass der gelbe Eiterpunkt nichts weiter ist als ein Stecknadelkopf, oder dass des Künstlers Fingerkuppen im Wachs Spuren hinterlassen haben.

Die „Moulagen“ werden in der Sackgasse eines Ganges präsentiert. Sie sind sorgfältig aufgereiht und bilden damit einen Gegenpart zu den über die Wände wuchernden „Bildscheiben“. Gemeinsam ist ihnen die runde Form, die beide wiederum mit den auf Kästen und Tablaren positionierten Glasbehältern „Vitro“ verbindet. Neben den ausgestopften Tieren aus dem Fundus des Hotels muten sie wie Objekte aus einer naturwissenschaftlichen Sammlung an. Ein jeder Glassturz ist eine Vitrine für vom Künstler gezüchtete Schimmelpilzkulturen. Zart und farbig breiten sie sich aus und lassen beinahe die begleitenden Fäulnisprozesse vergessen. Aber eben nur beinahe: Einmal mehr liegen hier Schönheit und Schauder sehr nah beieinander.

Text zur Kulturlandsgemeinde 2013 in Gais, „wohl oder übel“

Der Rechner als Arbeitsgerät des Künstlers

Ein Gespräch mit Hubert Matt

Kaum ein Arbeitsplatz mehr ohne Computer: Ob Büro, Werkstatt oder Bauernhof, der Rechner gehört dazu. Und wie ist es in den Ateliers? Wofür benutzen Künstler den Computer? Geht es überhaupt noch ohne? Der Bregenzer Künstler Hubert Matt (*1956), Hochschullehrer für Design und Designtheorie an der FH Vorarlberg wirft einen kritischen Blick auf das Potential des Computers für die Kunstproduktion.

Welche Bedeutung haben Computer aus Ihrer Sicht als Künstlerwerkzeug?

„Der Computer ist als Werkzeug ist schwierig zu beschreiben, weil er nicht nur Werkzeug ist. Er ist ein Gerät, das Rezeption und Produktion gleichzeitig ermöglicht. Ein Buch würden wir nicht als Werkzeug bezeichnen, obgleich Lesen auch Arbeit ist. Mit dem Computer lässt sich aber etwas herstellen. Er hat als Werkzeug eine doppelte Rolle: Einerseits dient er zum Schreiben, Malen, Fotos bearbeiten, also für Anwendungen, die früher im analogen Bereich stattfanden. Andererseits fungiert er als echtes Werkzeug so wie ihn Bernhard Tagwerker nutzt.“

Der St. Galler Künstler Bernhard Tagwerker bezieht computergenerierte Zufälle in den kreativen Prozess ein. Seine jüngsten Werkserien werden ohne ästhetischen Entscheid via Computer umgesetzt. Matt beschreibt Tagwerker nicht nur als „den ersten, sondern auch den einzigen, der in hiesigem Umfeld den Computer als generative Maschine einsetzt“. Und in welche Kategorie fallen jene Künstler, die den Computer zur Bildfindung und -transformation verwenden und diese Bilder dann auch mit anderen Mitteln wie der Malerei weiterverarbeiten?

„Das ist eigentlich nichts Neues. Diese Strategien wurden in der Collagetechnik schon längst verwendet. Als erste integrierten die Kubisten vorhandenes Material wie Fahrscheine und Textfragmente in ihre Werke. Später arbeiteten die Pop Art-Künstler mit Comiczitaten oder Reklame. Neue Technologie hat immer den Anstrich, dass die damit entstandene Arbeit etwas Neues sei. Das aktuelle Gerät täuscht Aktualität in der Kunst vor. Mit dem Computer lässt sich aber bloss mehr Material einfacher besorgen.“

Das Internet hat die Art und Weise wie Computer genutzt werden sehr verändert. Spiegelt sich das auch in der Kunst?

„Für viele ist er Computer das Zugangsterminal zum Internet. Er ist weniger Werkzeug als Medium. Als Hardware ist er ein Interface zur medialen Welt. Allerdings ist die Medienreflexion derzeit im Urlaub oder in der Frührente. Vieles ist nur noch dekorativ statt reflektiert oder gar kritisch.“

Und die Medienkünstler? Gibt es die überhaupt noch in Zeiten der Blogs und des Social Web?

„Die Rolle der Medienkünstler ist vergleichbar zu jenen, die vor dem Computerzeitalter in Podiumsdiskussionen eingegriffen haben oder Zeitungen gründeten. Nur ist der Reiz in die Medienwelt einzugreifen heute viel geringer, da kaum noch etwas live passiert. Vielleicht würde eine kritische Reflexion des Mediums bedeuten, keine Kunst mehr zu machen. Vielleicht sind auch die Hacker die Künstler des 21. Jahrhunderts. Vielleicht ist es auch ein Weg, den Computer nicht zu benutzen. Schliesslich kann Malerei etwas, was der Computer nicht kann: Sie ermöglicht eine Performance des Betrachters. Sie setzt ihn in Bewegung, wenn er Nah- und Fernsichten ergründen will.“

Aufgaben gäbe es dennoch auch für Netzkünstler, wenn sie ihr Handwerk beherrschen.

„Ein Problem des Internet ist, dass es keinen öffentlichen Raum, keine Öffentlichkeit, keine unbesetzten Räume kennt. Ich komme von einer Website auf eine andere wie von einem Haus ins nächste, ohne die Strasse zu betreten. Es wäre einen Versuch wert, hier andere Vorgehensweisen zu finden. Computerprogramme sind eine hochkomplizierte Materie, die von gewaltigen Monopolen beherrscht wird. Wer das Geschehen begreifen will, muss es versehen und Strategien entwickeln um es verändern zu können. Ich wünsche mir eine Arbeit am Unwahrscheinlichen, Peripheren, Zufälligen. Freundliche Viren zu programmieren wäre so eine künstlerische Aufgabe.“

Dreimal Kunst im Hotel Krone

Die drei Kunstschaffenden Renate Flury, Frank Keller und Michaela Müller zeigen an der Kulturlandsgemeinde 2013 eigens für diesen Anlass entwickelte Werke. Das diesjährige Motto „wohl oder übel“ ist in den gezeigten Arbeiten auf unterschiedliche Weise präsent.

Eine frische Brise weht durch den Veranstaltungssaal des Hotel Krone in Gais. Die Luft strömt und braust, sie fordert Aufmerksamkeit. Renate Flury inszeniert mit „FrischLuft“ eindrucksvolle Störmomente innerhalb der Kulturlandsgemeinde. Die Thurgauer Bildhauerin installiert zwei Turbogebläse an den Fenstern des Raumes. Sie pusten in unregelmässigen Abständen eine Minute lang frische Luft herein und schaffen Platz für neue Gedanken. Bei der diesjährigen Kulturlandsgemeinde dreht sich alles ums Wohl- oder Übelsein, da kommt Sauerstoffnachschub gerade recht.

Renate Flury hat „FrischLuft“ eigens für die Kulturlandsgemeinde entwickelt und beschreitet damit neue Wege. Eine zusätzliche Ausstellung im Hotel Krone zeigt frühere Schaffensphasen der Thurgauer Bildhauerin (1953 in Zürich geboren). Ein „Traumwesen“ aus Muschelkalk begrüsst die Eintretenden. Es ist weder Mensch noch Tier, genauso wenig gibt es ein Vorn oder Hinten, aber männlich und weiblich finden unter dem wuchernden Haupt zu einer Einheit zusammen.

Der menschliche Körper ist immer wieder Gegenstand der künstlerischen Forschung Renate Flurys: Ende der 1990er Jahre übersetzt die Künstlerin Menschenknochen zehnfach vergrössert in Marmor. Mittlerweile lenkt sie mit grossformatigen Fotografien den Blick auf Körperdetails. So werden zwei aneinandergelegte Fusssohlen zum zweideutigen Fussgebet.

Auch Frank Keller spielt mit Mehrdeutigem und Körperlichem. Ausgehend von Aufnahmen menschlicher Haut, der Schale einer Zitrusfrucht oder selbst gezüchteten Bakterienkulturen erzeugt der Ausserrhoder Künstler (*1964) am Computer virtuelle Landschaften. Obgleich alle Bilder vage an Bekanntes erinnern, ist doch bei kaum einem präzise zu bestimmen, was es zeigt. Trotzdem stellt sich angesichts tiefroter Krater, geäderter, zerklüfteter Oberflächen oder myzelartig wuchernder dunkler Flecken mit hoher Wahrscheinlichkeit ein gewisses Unbehagen ein. Dies gilt auch für die „Moulagen“ in der Petrischale. Die Wachsobjekte sind weniger Abbild konkreter Vorlagen als Imaginationen, die ins reale oder irreale kippen. Wer ohne Vorurteile schaut, entdeckt, dass der gelbe Eiterpunkt nichts weiter ist als ein Stecknadelkopf, oder dass des Künstlers Fingerkuppen im Wachs Spuren hinterlassen haben. Auch diese Arbeit kreist um die Fragen, was anzieht, was abstösst und warum.

Die „Moulagen“ werden im Hotel Krone in der Sackgasse eines Ganges präsentiert. Sie sind sorgfältig aufgereiht und bilden damit einen Gegenpart zu den über die Wände wuchernden „Bildscheiben“. Wie Renate Flury mit „FrischLuft“ reagiert Frank Keller nicht nur inhaltlich auf die Kulturlandsgemeinde, sondern auch auf die Situation vor Ort. Dies gilt auch für die dritte Künstlerin im Bunde, Michaela Müller (*1972). Die in Zagreb und Reute lebende Künstlerin zeigt in einem Treppenaufgang das Video „Transit“. Es ist in einer Durchgangssituation präsentiert und thematisiert auch eine solche: Müller hat sich auf die Menschenströme am Flughafen eingelassen. Tagelang hat sie dort, wo fotografieren verboten ist, gezeichnet, hat Notizen und Skizzen angefertigt und Töne aufgenommen. „Transit“ ist ein Kondensat der festgehaltenen Eindrücke. Statt Geschichten übers Reisen zu erzählen, fängt der Animationsfilm die Flughafenstimmung ein. Michaela Müller verzichtet auf detaillierte Bilder oder Szenen zugunsten einer atmosphärischen Darstellung des Unterwegsseins. Innerhalb der Endlosschleife gleichen und wiederholen sich die Bilder: Reisende ziehen und stossen ihre schweren Koffer. Manch einer hat es eilig. Andere wirken gelassen. Immer wieder laufen die blau auf weiss gezeichneten Gestalten über die beiden Monitore, bleiben aber alle anonym. Wie im Flughafengetümmel verschwindet der Einzelne in der Menge. Individuelle Befindlichkeiten zählen in der Hektik des Flughafens nicht, aber wer fliegen will, nimmt dies auf sich – wohl oder übel.

Emanuel Geisser, A moon or a button

„Der Mond scheint“, sagen wir und wissen es doch besser. Aber auf die Poesie des Mondscheins verzichten, nur weil es naturwissenschaftlich inkorrekt ist? Im Rätsel liegt der Reiz, in der Wahrheit das Potential des Irrtums.

Emanuel Geiser (1974 geboren in St. Gallen, lebt in Berlin) fügt Scheinwerfer, Spiegel, Fernrohre, Zeichnungen und Bildzitate zu unkonventionellen Versuchsanordnungen, die weniger erhellen, als dass sie verschleiern. Auch wenn sie, wie seine für den Schaukasten an der Post in Herisau konzipierte Installation, mit einer eigenen Lichtquelle ausgestattet sind.

Ein halbtransparenter Vorhang, dahinter noch ein Vorhang, einer mit halbdurchsichtigem, kreisförmigem Loch. Licht dringt hindurch. Eine Figur blickt suchend hinterher. Das Licht trifft auf einen Lichtkegel, der ein Papierdreieck ist; eingefangen und zurückgeworfen von einer silbernen Scheibe: Der Mond ein Spiegel. Oder ein Knopf? Wer weiss das schon. Vielleicht irrt sich auch jener, der so bedeutungsvoll deutet und doch nur sein Spiegelbild erblickt? Es kommt ja auch gar nicht auf das Wissen an, sondern auf das Schauen. Wenn daraus das Erkennen folgt, gut. Wenn nicht, umso besser, dann bleibt das Universum voller Geheimnisse. Wer das Unerklärliche sucht, muss nicht weit reisen: Die schwarzweisse Modelllandschaft in Herisau birgt einiges an Zauber.

Schaukasten Herisau, www.schaukastenherisau.ch

Prinzessin mal anders

Das Basler Figurentheater Fäderliicht ist mit „Pinzessin Ardita“ zu Gast im Figurentheater St. Gallen. Das Stück nach einem Kinderbuch von Silvia Hüsler erzählt die Geschichte einer schlauen Königstochter.

Widerspenstig ist sie und schlau, wild und pfiffig, ungekämmt und doch eine Prinzessin. Heiraten soll sie, so will es der König. Was aber, wenn die Tochter nicht mag? Prinzessin Ardita will sich nicht beugen und ersinnt eine List. Sie wird nur den zum Manne nehmen, der sich gut verstecken kann. So gut, dass sie ihn nicht findet. Also muss sie gar nicht heiraten, oder?

Das albanische Märchen über Prinzessin Ardita beginnt mit einer kleinen Rebellion, einer schier unlösbaren Aufgabe und einem Apfel. Den aber lässt Markus Vogt erst einmal wieder verschwinden, denn zuerst bekommt die Prinzessin ihren grossen Auftritt in einer kleinen, feinen Landschaft. Ein Tisch, drei Filzhüte und ein Metallkistchen – daraus lässt der Basler Puppenspieler vom Figurentheater Fäderliicht das verträumte Schloss im Gebirge wachsen. Hier wohnt die wilde Ardita. Sternguckerin ist sie und findet mit ihrem besonderen Fernrohr jeden, sei er auch noch so gut versteckt.

Vogt spielt das gemeinsam mit Silvia Roos entwickelte Stück mit kleinen gestrickten Figuren. Mal ist er ihnen ein Dialogpartner, mal jagt er sie um den Tisch. Besonders lebendig werden sie in den kleinen feinen Gesten, etwa jener des Schweissabwischens auf der winzigen gestrickten Stirn. Es dauert nicht lange, da hat Vogt das Publikum im Figurentheater in seinen Bann gezogen. Kein Wunder; er spielt die Geschichte leidenschaftlich und mit ganzem Körpereinsatz, integriert Szenenwechseln mühelos ins Stück und arbeitet mit überraschend einfachen, aber gerade dadurch faszinierenden Materialien. Wenn er beispielsweise aus Socken einen Wald wachsen lässt, so mutet dieser eben nicht wie ein Baumschule aus Socken an, sondern er wird zu einem bunten, aber auch ein klein wenig unheimlichen Urwald. Dort wohnen denn auch ganz besondere Tiere. Selbstverständlich können sie sprechen, oder ist es nur Agim, der sie versteht? Der Holzfällersohn geht im Wald seiner Arbeit nach. Und wie es sich im Märchen gehört, ist das Glück dem Tüchtigen hold. Agim rettet drei Tiere – allesamt liebevoll gestaltete Wesen aus Filz. Zum Dank erhält er von jedem eine Geschenk und ein Zaubersprüchlein. Da kann eigentlich nichts mehr schief gehen auf dem Weg zum Schloss.

Drei Zaubergaben, eine Prinzessin, ein Held, eine Reise: Das Märchen „Prinzessin Ardita“ enthält alles, was ein gutes Märchen braucht und dazu noch Wortwitz, Sternengefunkel und einen echten Apfel. Mmh.

Die Kunst kommt mit dem Kran

Das Forum Würth ist die neue Kunstdependance der Würth Gruppe in Rorschach. Im Aussenraum und im neuen Gebäude werden 100 Kunstwerke installiert.

Langsam fährt der Lastwagen rückwärts – der Uferweg zwischen Grünanlage und Rorschacher Hafenbecken ist eng. Langsam senkt der mobile Kran die Spanngurte herunter. Langsam bugsieren die Transporteure die Ladung ans Tageslicht. Alles geschieht bedächtig und mit grösster Sorgfalt, denn die Fracht ist kostbar: Niki de Saint Phalles „Large Bull Totem“ bekommt seinen grossen Auftritt in Rorschach. Noch ist das Maul der Figur mit einer dicken Decke umwickelt, nur die Hörner ragen schon aus der Verpackung heraus. Goldene Mosaikscherben blinken hervor. Eine riesige Spinne, besetzt mit blauen Steinen, krabbelt auf dem silbern glitzernden Rumpf der Skulptur. Sie ist eines von 100 Kunstwerken in der Eröffnungsausstellung des Forum Würth Rorschach.

Der Weltkonzern Würth eröffnet am See ein neues Verwaltungs- und Ausbildungszentrum. Wie an den anderen 14 Würth-Standorten in Europa wird in Rorschach Kunst gezeigt. Sie gehört seit über 20 Jahren zur Firmenphilosophie: Nicht nur die Arbeitsplätze werden mit Kunst ausgestattet, sondern auch der frei zugängliche Aussenbereich. Obendrein werden eigene Ausstellungsinstitutionen geschaffen. Das Museum Würth am Stammsitz in Künzelsau machte 1991 den Anfang. In der Schweiz kamen 2002 das Kulturforum Würth in Chur und 2003 das Forum Würth in Arlesheim hinzu. Nun also Rorschach.

Am Kran schweben 800 kg Kunst über der neu gestalteten Uferpromenade zwischen Strandbad und Bahnhof. Der Standplatz inmitten frisch angesäten Rasens ist vorbereitet. Doch wohin soll das goldene Haupt des Totems blicken? Lun Tuchnowski hat die Position bereits genau im Kopf. Der Ausstellungsarchitekt und Bildhauer arbeitet seit zwei Jahrzehnten für die Würthsche Kunstsammlung. Er kennt die Werke genau und hat ein gutes Gespür für ihre Platzierung. Klar, der Totem soll zum See hin ausgerichtet sein. Gleichzeitig ist er zwei anderen Werken Niki de Saint Phalles zugeordnet: „Drache“ und „Bär“ sind bereits auf der Uferpromenade gelandet. Löchrig wie ein alter Stamm präsentiert sich der „Drache“ als bunt spiegelndes Seeungeheuer. Besonders die kleinen Spaziergänger werden sich nicht von den gefletschten Zähnen abschrecken lassen und die aufgestellten Rückenstacheln bald einmal als Kletterspielplatz entdecken.

So sind Niki de Saint Phalles Arbeiten auch gemeint: Es ist Kunst zum Anfassen und sogar zum reinsitzen. Der „Bär“ etwa verbirgt in seinem Bauch eine Bank. Wie ein Strandkorb lädt er ein, zu verweilen und die Seesicht zu geniessen. Aber auch der Blick zur anderen Seite lohnt sich; Gucklöcher korrespondieren mit der Architektur und ihren vielfältigen Durch-, Ein- und Ausblicken.

Das Schweizer Architektenduo Annette Gigon und Mike Guyer hat den neuen Firmensitz entworfen. Sie gingen mit ihrem Projekt „Lichtspiel“ als Sieger aus einem international besetzten Wettbewerb hervor. Das Gebäude ist mit einer doppelten gläsernen Hülle verkleidet. Die äusseren Scheiben tragen eine metallisch glänzende Gewebeeinlage und wirken wie ein schillernder Vorhang. An vielen Stellen ist er geöffnet. So wie Henri Moores „Large Interior Form“. Lun Tuchnowski hat die 5 Meter hohe Bronze vor dem Eingang des Hauses platziert: „Ich versuche, möglichst alle Blickachsen zu berücksichtigen. Daraus legt sich der Standort selbst fest“.

Moores Werk wird nun für längere Zeit in Rorschach bleiben. Andere Arbeiten sind speziell für die Eröffnungsausstellung hierher gebracht worden. Etwa die Eisenplastiken  von Robert Jacobsen und Bernhard Luginbühl. Dem Dänen wird im Foyer eine kleine monografische Ausstellung eingerichtet. Der Berner ist mit einem Einzelwerk vertreten und gleichzeitig Teil der stark präsenten Schweizer Kunst. Max Bill, Johannes Itten, Ferdinand Hodler, Jean Tinguely und Niki de Saint Phalle zählen hier genauso dazu wie Hans Josephsohn. Noch vor Josephsons Tod im vergangenen Sommer wurde eine „Liegende“ angekauft – eine Würdigung des grossen Bildhauers einerseits und eine Referenz an die Region andererseits ist doch das Kesselhaus im St. Galler Sitterwerk dem Werk Josephsons gewidmet.

Luginbühls Plastik „Die grosse Schraube“ wurde eigens für eine Würth-Ausstellung 1996 geschaffen und gibt denn auch motivisch einen deutlichen Hinweis auf das Spezialgebiet der Unternehmensgruppe: Zwischen den verschweissten Metallteilen finden sich Muttern in vielen Grössen, Schraubschlüssel und ein ganzes Dutzend Schrauben. Alles ist stark korrodiert. Der Rost darf bleiben, der Staub nicht. Lidia Ciotta reinigt Luginbühls „Grosser Schraube“ mit Staubsauger und feinem Pinsel. Die Kunsthistorikerin arbeitet im Art Forum Würth in Capena bei Rom. Gemeinsam mit Christoph Bueble begleitet sie den Aufbau in Rorschach. Bueble ist seit 20 Jahren als freischaffender Restaurator für die Sammlung tätig und immer auch beim Ausstellungsaufbau dabei: „Diese zwei Bereiche ergänzen sich sehr gut. Ich schätze beides“.

Bueble begutachtet den Fortschritt der Arbeiten im Innenhof. Noch werden hier die Fenster geputzt, doch Max Ernsts Ganoven warten schon. Die drei Mitglieder des „Lehrkörpers für eine Schule der Totschläger“ sehen so gar nicht furchteinflössend aus. Tuchnowski nennt sie gar eine „lustige Gesellschaft“. Der Ausstellungsarchitekt hat gemeinsam mit C. Sylvia Weber, Kunstdirektorin bei Würth, den Platz im gläsernen Innenhof ausgewählt und freut sich bereits auf den Aquariumseffekt: „Mein Prinzip ist es, der Architektur zu folgen. Ich kann nicht das grösste Bild auf die kleinste Wand hängen.“ Im Obergeschoss, dem eigentlichen Forum Würth und Herzstück der Kunstpräsentation, wird es dann aber doch recht eng. Auf 600 Quadratmetern werden hier thematische Schwerpunkte aus der Sammlung ausgebreitet. Da gibt es selbstbewusste Frauen von Max Beckmann, Ernst Ludwig Kirchner, René Magritte, Pablo Picasso und Fernando Botero. Eine Wand werden sich Männer mit Hut teilen, eine andere Landschaften von David Hockney, Giovanni Segantini und Ferdinand Hodler. Mit einem Triptychon von K. H. Hödicke wird zu den Stadtlandschaften übergeleitet. Max Beckmanns „Genius“ gehört hier dazu und natürlich die Verpackungskunst von Christo und Jeanne-Claude. Hier besitzt die Sammlung Würth wichtige Arbeiten, darunter eine der frühen Ladenfronten oder etwa die vorbereitenden Zeichnungen und das Modell der 1968 verhüllten Kunsthalle Bern.

Um derart viele Werke unterzubringen, ist gute Vorausplanung notwendig. Lun Tuchnowski zeigt ein Modell im Massstab von 1:50. Mit Stecknadeln sind Miniversionen der Kunstwerke in den kleinen weissen Räumen befestigt. So sieht Ausstellungsmachen nach Lehrbuch aus. Flexibel zu bleiben ist dennoch wichtig. C. Sylvia Weber und Lun Tuchnowski klammern sich nicht zwingend am Konzept fest, denn „Originalwerke haben eine eigene Präsenz.“ Wenn sich diese im Ausstellungssaal entfaltet, müssen noch so manches Mal die weissen Handschuhe übergezogen und ein Gemälde in neue Nachbarschaft gebracht werden. Spannend bleibt es bis zum Schluss.

Ostschweiz am Sonntag

Appenzeller Land als Filmland

Drehvorbereitung

Der Säntis ist der einzige Berg, den Franz Hohler von seinem Haus in Zürich-Oerlikon aus sieht. Die Aussicht als Anlass für einen Weg und roter Faden für einen Film: Für „Hohler, Franz“ begab sich der Zürcher Filmemacher Tobias Wyss gemeinsam mit Franz Hohler auf die Reise vom Haus des Schriftstellers und Kabarettisten bis in den Alpstein – zu Fuss durch die Vororte der Stadt, entlang dem Greifensee, in Richtung Zürcher Oberland, über den Ricken ins Toggenburg, der Thur entlang bis Nesslau, hinauf zur Schwägalp und schliesslich zum Säntis. „Auf diesem Weg, durch wechselnde Landschaften, habe ich versucht, diesem ´literarischen Allgemeinpraktiker´ auf die Spur zu kommen. Eine Besonderheit bestand darin, dass wir tagsüber nur zu zweit unterwegs waren und ich ihn mit einer kleinen Kamera begleitete. In diesen Stunden wuchsen unsere Wanderung, die jeweiligen Landschaften und der entstehende Film zusammen.“

Doch auch ein solch unmittelbares, von der Präsenz der Person getragenes Projekt benötigt eine genaue Vorausplanung vor Ort. Tobias Wyss und sein Kameramann Adrian Stähli besuchten die wichtigsten Punkte und Passagen der Wanderung, um die Stimmungen und Aufnahmen festzulegen: Zentral waren dabei der Greifensee und der Hasenstrick, der Übergang ins Toggenburg und ganz besonders der Eintritt in die alpine Landschaft um den Säntis. An bestimmten Orten wurden ausserdem Überraschungen für Franz Hohler geplant, dort wartete dann eine professionelle Equipe.

Die Landschaft wurde ein gewichtiger Mitspieler im Film: „Je hügeliger der Weg wurde, je länger die Tagestouren dauerten, je nach Wetter entstanden andere Stimmungen, die sich in den Aufnahmen abbilden. Vom Moment an als wir gegen die Schwägalp hinaufstiegen – an diesem Tag regnete es auch ausgiebig – verzichteten wir auf meine Kamera, um den Aufstieg zum Säntis langsam vorbereiten zu können.“ Hier und bei der Passage aus dem Toggenburg hinauf zur Schwägalp zeigen sich schliesslich auch die Besonderheiten der appenzellischen Landschaft: „Hügelig, manchmal kleinräumig, dann plötzlich mit grosser Aussicht. Mit Blick auf die Appenzeller Landschaft ist es vor allem der steile Aufstieg zum Säntis, den Franz Hohler allein macht, in dem sich die Energie von Hohler und die Kraft, Grösse und Weite dieser Welt treffen.“

Tobias Wyss, geboren 1942 in Dielsdorf, lebt in Zürich. Nach dem Studium der Romanistik und Komparatistik an der Universität Zürich und einem Filmkurs an der Kunstgewerbeschule Zürich arbeitete Wyss von 1973-95 als freier Autor und Regisseur bei SRF. 1981–1999 Lehrauftrag an der Schule für Gestaltung Luzern, 1999–2007 Leiter des Studienbereichs Video an der Hochschule Luzern. Seit 1984 ist er freischaffender Autor und Regisseur. Seine Filme sind regelmässig an den Solothurner Filmtagen zu sehen und erhalten über die Schweiz hinaus Aufmerksamkeit. Sein aktueller Film „Hohler, Franz“ lief im März in einer gekürzten Fassung im SRF und wird ab Herbst 2013 im Kino zu sehen sein.

Casting

Marcel Gisler filmte im Juli 2012 erstmals in seinem Heimatort Altstätten. Der 1981 nach Berlin ausgewanderte Filmemacher verankerte sein teilweise autobiografisches Filmprojekt „Rosie“ auch geografisch in der eigenen Geschichte. Das war jedoch nur einer der Gründe für den Dreh in der Ostschweiz: „Filmisch ist die Gegend noch ´jungfräulich´. Hier wird nicht viel gedreht, und wo selten gedreht wird, sind die Behörden und Privatpersonen viel entgegenkommender.“ Ausserdem hatte Gisler beim Drehbuchschreiben bereits Motive im Kopf: „Ich wusste, wo Szenen spielen konnten, ich habe ja 15 Jahre lang dort gelebt.“  Viele Orte und Restaurants stimmten genau mit Gislers Erinnerungen überein. Aber nicht alle. Aus dem geplanten Hauptmotiv des Filmes, einem Haus mit Garten am Rande Altstättens, wurde das Balmerhaus. Die Kamerafrau Verena Schoch, die bei „Rosie“ als Location Scout arbeitete, entdeckte es und es passte ausgezeichnet zur Geschichte einer alternden Mutter, die nicht mehr allein für sich sorgen kann. Mit dem Haus inmitten des umgebauten Stadtzentrums ergab sich eine Subgeschichte im Film: Ringsum verschwindet alles Vertraute, die Vergangenheit wird wegsaniert. Marcel Gisler ist stets offen für solche Einflüsse – dies gilt auch fürs Casting. Da „Rosie“ angelehnt ist an Gislers Familiengeschichte, war es nicht einfach, sich für die Figuren der Mutter und ihrer beiden Kinder von den Originalen zu entfernen, aber Gisler sieht diese Herausforderung bei den meisten Castings: „Das Drehbuch liefert den Steckbrief einer Figur. Der Schauspieler muss diese Figur in sich finden oder erfinden. Sein Spiel, die Gesten und Feinheiten können für den Regisseur sehr überraschend sein.“ Für Verena Schoch ist das Drehbuch stets wichtiger als das Casting: „Wenn eine Geschichte nicht zu Ende gedacht ist, entsteht auch mit besten Schauspielern nur ein durchschnittlicher Film. Schauspieler, Kameraleute, Tontechniker ziehen nur dann am selben Strick, wenn alle verstehen, was Regisseur und Drehbuch wollen.“ Technische Perfektion rettet eine unbeholfene Geschichte nicht und der falsche Dialekt kann einer guten Geschichte nichts anhaben: Die Schauspieler in „Rosie“ sprechen Züridütsch statt Ostschweizerisch. Marcel Gisler: „Die Familie kann zugewandert sein. Wichtiger als die geographische Authentizität der Sprache ist ihre milieubedingte und emotionale Echtheit. Die kann ein guter Schauspieler in jedem Dialekt erschaffen.“

Marcel Gisler, 1960 in Altstätten geboren, studierte an der Freien Universität Berlin Theaterwissenschaften und Philosophie. In Berlin gründete er mit Freunden eine Filmgruppe, aus der sein erster Kinospielfilm Tagediebe hervorging. Mit dem Film gewann er den silbernen Leoparden in Locarno. „Rosie“, Eröffnungsfilm der 48. Solothurner Filmtage, erhielt sechs Nominierungen für den Schweizer Filmpreis 2013.

Die Kamerafrau und Fotografin Verena Schoch ist 1957 in Waldstatt geboren und nach Wanderjahren seit 1997 wieder dort. Stationen ihres Werdegangs: Ausbildung zur medizinisch technischen Radiologieassistentin; während sechs Jahren Ausbildung zur Fotografin und Kamerafrau. Seit 1997 ist sie für verschiedene Auftraggeber wie Filmproduktionsfirmen, diverse Regisseure und das Schweizer Fernsehen freischaffend tätig. Drei Jahre lang leitete sie Um- und Aufbauphase des Kulturfrachters Alpenhof.

Filmmusik

Wie klingt die Landschaft? Welcher Klang entspricht ihr? Wenn Peter Liechti in seinem Film „Hans im Glück“ die Geschichte von einem erzählt, der auszieht, das Rauchen loszuwerden, und wenn dieser dann von seinem Wohnort Zürich nach St. Gallen auf drei verschiedenen Routen läuft, so heisst das nicht, dass die Musik zu diesen Wegen dreimal grundverschieden ist: Die filmischen Bilder sind für Norbert Möslang wichtiger als die faktisch durchlaufenen Orte. Der St. Galler Künstler und Musiker hat bereits 1985, damals mit Andy Guhl, die Musik für einen Film von Peter Liechti konzipiert. Inzwischen umfasst die Zusammenarbeit fünf Filme, und jedes Mal war Norbert Möslang früh in das jeweilige Projekt des Zürcher Regisseurs involviert. Früh hat er Filmausschnitte gesehen und aus der Erinnerung heraus erste Klangfelder produziert. Die Herangehensweise hat für Möslang mit einer grundsätzlichen Haltung zu tun: „Soll die Filmmusik illustrativ sein oder soll sie einen Gegenpol bilden?“ Illustrationen sind Möslangs Sache nicht. Er setzt sich mit dem Charakter des Filmes auseinander, experimentiert und findet manche eine Lösung auch spontan.

«Senkrecht/Waagrecht», jener Film von 1985, zeigte Aktionen Roman Signers in der appenzellischen Landschaft. «Kick That Habit», 1989, vertonte sich als Film selbst, er porträtierte die Arbeit von Norbert Möslang und Andy Guhl und handelte gleichzeitig ebenfalls von der Landschaft. Sie ist für Möslang ein starker Gegenpol: „Die Landschaft hat mit mir selber zu tun. Sie beeinflusst mein Lebensgefühl und sie löst Widerstand aus. Sie beeinflusst auch die Haltung der Menschen, mit denen ich mich auseinandersetzen muss.“

Auch Paul Gigers Musik ist mit der Landschaft verbunden. Künstlerisch blickt der Musiker weit über die Appenzeller Hügel hinaus: „Ich weiss nicht immer, wo die Klänge sich herfinden. Die Musik der ganzen Welt geht in Ohr und Herz ein.“ Gleichzeitig gibt es die Ausserrhodischen Wurzeln,  Kuhreihen, Zäuerlis oder Alpsegen mischen sich mit anderem. Zum Beispiel in Paul Gigers Filmmusik für „Auch ein Esel trägt schwer“ von Andreas Baumberger: „Diese Arbeit hat mir speziell Spass gemacht, weil ich so arbeiten konnte, wie ich mir vorgestellt habe, dass Hans Krüsi gearbeitet hat: frech, frisch, schräg, eigenständig, rudimentär, volkskünstlerisch“. So lässt sich dann auch ein Clavichord als Hackbrett verwenden.

Norbert Möslang, geboren 1952 in St. Gallen, lebt als Musiker, Künstler, Geigenbauer und Fotograf in St. Gallen. Von 1972 an arbeitete er 30 Jahre lang mit Andy Guhl im Duo; seit 1984 waren die beiden als „Voice Crack“ unterwegs. Mit Erik M und Günter Müller erweiterte sich das Duo zum Ensemble poire_z. Möslang setzte dabei zunehmend „geknackte“, decodierte Alltagselektronik in seinen Improvisationen ein. Für seine Filmmusik zu Peter Liechtis Dokumentarfilm „Das Summen der Insekten“ gewann er 2010 den Schweizer Filmpreis und den Cinema Eye Award, New York, 2011.

Der Komponist und Violinist Paul Giger, geboren 1952 in Herisau, lebt in Rehetobel. 1970/71 reiste er als Strassenmusiker durch Asien. Anschliessend absolvierte er ein Musikstudium in Winterthur und in Bern. Von 1980 bis 1983 war er Konzertmeister des Sinfonieorchesters St. Gallen; seit 1983 arbeitet er freischaffend. Gigers Repertoire umfasst die Violinliteratur vom Barock bis zur Moderne. Weitere Schwerpunkte bilden Improvisation, verschiedene Folkloretraditionen. Giger komponiert seit 1992 Chor-, Orchester- und Kammermusik und hat bei ECM bisher sechs Aufnahmen unter eigenem Namen vorgelegt.

Filmkritik

Filmkritik ist ein Echo dessen, was zu sehen ist, und gleichzeitig ein sehr persönlicher Auseinandersetzungsprozess. Wenn der Kritiker oder die Kritikerin einordnet, reflektiert und abwägt, geschieht dies vor seinem individuellen Erfahrungshorizont, seiner Wahrnehmung des Weltgeschehens. Beides wird durch das Lebensumfeld, die Geographie geprägt. Andreas Stock rezensiert seit … Jahren Filme für das St. Galler Tagblatt. Beschäftigt sich ein Filmemacher mit der Region hier, ist der Zugang zum Film für Stock sofort ein besonderer: „Der eigene Background schwingt mit. Zudem versuche ich herauszuarbeiten, inwiefern die Region eine Rolle spielt. Wenn etwa ein regionaler Regisseur das Lebensgefühl als beengend empfunden hat, thematisiert das die Filmkritik ebenso, wie wenn einer dem Lebensraum verbunden ist.“ Auch der Aussenblick ist für den Kritiker interessant. Etwa Erich Langjahrs „Männer im Ring“ über die letzte Männer-Landsgemeinde von Hundwil. Der Blick des Regisseurs ist unbelastet von Emotionen, Historie und lokaler Kultur: „Langjahrs Film ist stimmig. Ohne zu kommentieren, überlässt er es dem Zuschauer, sich eine Meinung zu bilden.“ Eine heikle Frage ist für Stock jene nach einem Kritikerbonus für lokale Filmschaffende: „Wir sind eine Region, die filmhistorisch nicht mit sehr vielen herausragenden Filmemachern glänzt. Wenn es jemand schafft, wahrgenommen zu werden, freut mich das sehr.“ Schöne Fingerübungen eines lokalen Autodidakten werden denn auch milder betrachtet als kommerzielle Grossproduktionen. Marcel Elsener, Kinok-Vorstandsmitglied und langjähriger Filmschreiberling, sieht das ähnlich: „Es ist ein Unterschied, ob ein Film in Cannes läuft oder hier entsteht und seinen Weg finden muss. Wichtig ist eine gut erzählte Geschichte, ein eigener Zugang, der einer möglichen Wahrheit oder überindividuellen Fantasie nachspürt.“ Und die Besetzung muss stimmen, ein gut überprüfbares Kriterium bei einem Film: Marcel Elsener erinnert sich mit Begeisterung an jene rauchenden Kinder in Peter Liechtis „Hans im Glück“ – wahrhafte, stimmige Charaktere. Für Elsener „ist es unerklärlich, dass die Ostschweiz als Filmlandschaft nicht schon längst entdeckt worden ist.“

Marcel Elsener, Jahrgang 1964, studierte Philosophie und Journalistik in Fribourg und ist nach einem Volontariat bei der „Ostschweiz“ seit 1989 hauptberuflicher Journalist für Kultur und Politik.

Obacht Kultur No. 15, 2013/1