Ulrike Kristin Schmidt

Gesammelte Texte

Auf Signers Spuren durch St.Gallen

Roman Signers Werke sind im öffentlichen Raum präsent. Die Stadt lädt zum Kunstspaziergang Kunstvermittlerin Stefanie Kaspar.

Wer an Roman Signers Arbeit im Stadtraum St.Gallen denkt, hat vermutlich zuerst das rote Fass im Grabenpärkli im Kopf. Doch der „Wasserturm“ ist weder Signers erstes Kunstwerk im öffentlichen Raum, noch das einzige, dass eine genauere Betrachtung verdient, wie ein Rundgang mit Stefanie Kaspar zeigt. Anlässlich des 75. Geburtstags des Künstlers lud die Stadt St.Gallen gestern zum ersten von vier Kunstspaziergängen mit der in Wil geborenen Kunstvermittlerin ein. Stefanie Kaspar schrieb ihre Abschlussarbeit an der Universität Zürich über „Roman Signers Arbeiten im öffentlichen Raum der Stadt St.Gallen“ und baute am Kunstmuseum die Museumspädagogik mit auf.

Unterwegs also mit einer erfahrenen Kunstvermittlerin und ausgewiesenen Signer-Expertin: Zwei Dutzend Kunstspazierende fanden sich im Rathausfoyer ein. Dort ist derzeit Signers „Kajak II“ aus der Sammlung des Kunstmuseums zu sehen. Anschaulich sprach Kaspar über die Poesie der Gebrauchsdinge: Statt Starre und repräsentativem Anspruch in Marmor oder Bronze, gibt es bei Signer Werkprozesse und die fein austarierte Balance der Kräfte. Immer wieder sind Naturkräfte im Spiel. So läuft denn auch beim „Wasserturm“ im Grabenpärkli nicht einfach nur Wasser aus der Leitung ins Fass und wieder heraus. Wichtig ist der Wasserstand. Kaspar präsentiert Entwürfe, Fotografien früherer Versuchsanordnungen und spart auch die Rezeptionsgeschichte der ehemals umstrittenen Arbeit nicht aus. Und wer weiss, ob nicht der Streit weniger heftig ausgefallen wäre, hätte es damals bereits Kunstvermittlung auf heutigem Niveau gegeben.

Weiter geht’s zum Union-Gebäude am oberen Graben. Nachdem Kajak im Fass und dem Fass ohne Kajak ist nun ein Kajak ohne Fass zu sehen. Aber erst im obersten Stockwerk des Gebäudes, denn Signer nutzte hier die besondere architektonische Anlage des versetzten Treppenhauses und konzipierte für das Erdgeschoss ein kreisrundes schwarzes Becken, in dem einzeln fallende Wassertropfen konzentrische Kreise hinterlassen. Was sich beim Blick nach oben nicht offenbart, sondern am besten erlaufen wird: Die Tropfen fallen aus dem Heck eines Kajaks.

Wasser ist ein zentrales Element in Signers Schaffen, das zeigt sich auch bei der „Installation an der Steinach“. Signer legte den Wirbelfallschacht offen und zeigt den Wasserlauf ein letztes Mal, bevor er unter der Stadt verschwindet. Kaspar spricht über des Künstlers besondere Beziehung zur Steinach und arbeitet auch hier wieder mit Fotografien und Skizzen.

Kaum drei Wegminuten entfernt, sprudelt an der Mühlenstrasse 14 ein Wasserfall aus neun Röhren. Die Arbeit wurde auf private Initiative hin installiert und plätschert meist über die Mittagszeit, nun aber auch exklusiv für den Rundgang. Dieser endet hier. Doch vom Wasserobjekt beim Schulhaus Oberzil zum Fasslager bei der EMPA oder der Wasserschaukel auf dem Helvetia-Areal gibt‘s von Signer im Stadtraum einiges zu sehen. Der Kunstspaziergang macht Lust auf mehr.

TanzPlan Ost feiert die Künste

TanzPlan Ost geht 2014 zum dritten Mal auf Tournee. Bis Oktober 2013 sind Kurz- und Langstücke, Vermittlungsprojekte und die Audition für das Tanzprojekt TOP´14 ausgeschrieben.

Wie sieht gute Tanzförderung aus? Gelder sind wichtig, sind aber bei Weitem nicht alles. Ausbildungsstätten und Proberäume werden gebraucht, der Austausch zwischen der regionalen Szene mit Tanzschaffenden aus anderen Regionen und dem Ausland muss funktionieren, die Tanzschaffenden benötigen kompetente Ansprechpartner. Kurz: Der Tanz braucht eine Bühne – nicht nur im Sinne eines Aufführungsortes, sondern einer gut sichtbaren Plattform. Nur wenn der Tanz sowohl im eigenen Umfeld als auch für das Publikum sichtbar wird, findet er fördernde Rahmenbedingungen. Tanz braucht Präsenz und Wissensaustausch. Genau das ist das Ziel des Tanzförderprojektes TanzPlan Ost in der Region Ostschweiz/Liechtenstein.

Den finanziellen Boden bereiteten die Kulturbeauftragten der Kantone AR, AI, GL, GR, SG, SH, TG, ZH und des Fürstentums Liechtenstein im Jahre 2008. Bereits ein Jahr später war der gemeinsam koordinierte TanzPlan Ost unter der Trägerschaft des Vereins ig-tanz ost geboren und ging 2010 erstmals auf Tournee.

Mag auch der Name etwas technisch klingen, der TanzPlan Ost ist ein breit wahrgenommenes, lebendiges Tanzfestival. Mehr noch: Er bietet gute Aufführungsbedingungen für Tanzschaffende mit Bezug zur Region. Alle teilnehmenden Tanzkompanien treten an mindestens vier Stationen der Tournee auf. Darüber hinaus gibt es Vermittlungsprojekte ausserhalb der etablierten Orte. Zudem ermöglicht das Festival Kontakte zwischen der regionalen und internationalen Szene. In jedem Jahr wird gemeinsam mit professionellen Choreographen, Musikern und Dramaturgen ein Stück eigens für die Tournee entwickelt. Im ersten Jahr von TanzPlan Ost 2010 erarbeiteten acht Tänzerinnen und Tänzer ein Stück mit Philippe Saire aus Lausanne, 2012 waren die in Washington tätigen Choreographen Sara Pearson und Patrik Widrig zu Gast und 2014 wird das Tanzprojekt unter choreographischer Leitung von LaborGras mit der Österreicherin Renate Graziadei (Choreogafie) und dem gebürtigen Schweizer Arthur Stäldi (Dramaturgie) entwickelt. Die Ausschreibung für die Audition ist online, sie findet am Sonntag, 3. November ganztags im Tanzhaus Zürich statt.

In jedem Jahr widmet sich TanzPlan Ost einem besonderen, aktuellen Aspekt des zeitgenössischen Tanzes. Im ersten Jahr wurde der „Spagat zwischen Publikum und Bühne“ thematisiert, 2012 der „Sprung über Generationen“ und damit die neuen Herausforderungen älter werdender Tanzschaffender. Das Festival des kommenden Jahres steht im Zeichen der Verbindung des Tanzes mit anderen Künsten, wird doch allenthalben kooperiert und fusioniert, werden Grenzen überschritten und interdisziplinäres getestet. Der Bühnentanz war immer schon ein Gesamtkunstwerk aus Tanz, Raum, Bild, Licht, Musik, Kleid, Film oder Foto, hinzu kommt die Nähe zum Theater, zu Performance und installativer Kunst.

Kompanien und Tanzschaffende müssen sich für ihre Teilnahme am TanzPlanOst aber nicht mit Stücken bewerben, die zum Thema passen, denn letzteres dient einer übergeordneten Ausrichtung des Festivals gleich einem Rahmen. Die künstlerische Leiterin, Gisa Frank, begründet die Aktualität des Mottos: „Tanzschaffende sind weitgehend abhängig von Tanzgeldern, Tanzplattformen und Tanzveranstaltern. Interdisziplinäres Arbeiten im Sinne von Kooperationen kann weitere Möglichkeiten eröffnen. Diese Möglichkeiten wollen wir mit TanzPlan Ost 2014 thematisieren und konkret versuchen, diesbezüglich in der Region neue Türen zu öffnen.“

Das Festival 2014 umfasst verschiedene Bereiche. Wie immer werden sechs bis acht aktuelle Kurz- und Landstücke von Tanzschaffenden aus der freien Szene zu sehen sein. Hinzu kommt das eigens konzipierte Tanzstück. Im Rahmenprogramm sind ein spezielles Kinoprogramm, Workshops und die Koordination mit der Museumsnacht geplant. Ausserdem konnte das Tanzarchiv Zürich als Partner gewonnen werden. Aline Feichtinger dazu: „Wir wollen den Tanzschaffenden und dem Publikum das Archiv zugänglich machen und zeigen, wie ein Stück aufgezeichnet und archiviert werden kann, und wie es sich in der historischen Einordnung präsentiert.“ Mitarbeiter des Tanzarchivs werden filmen, interviewen und eigens für das Festival einen Stammbaum erstellen mit Porträts der Choreographen und Tanzschaffenden und zum Abschluss der TanzPlan Ost-Tournee sind alle ins Archiv nach Zürich eingeladen und können erleben, wie das Material nicht nur abgelegt, sondern auch sichtbar gemacht wird.

Kann mit einem Tanzfestival nachhaltig Tanzförderung betrieben werden? TanzPlan Ost zeigt im Zusammenwirken mit der ig-tanz ost wie es funktioniert. Nach Abschluss der vierjährigen Pilotphase wächst das regionale Netzwerk unter den Tanzschaffenden und dem tanzinteressierten Publikum stetig, das Festival findet auch auf nationaler Ebene Beachtung, und die ig-tanz ost ist eine gefragte Anlaufstelle geworden.

moving emotions. Tanz Musik Bewegung, 3/13

Dialog im Arbeitsprozess

Die ig-tanz ost und ihr Vorarlberger Pendant netzwerkTanz kooperieren beim Tanzförderprojekt openSpace. Entwickelt wurde die offene Präsentationsplattform vor zwei Jahren im Vorarlberg.

Die Premiere ist der Zeitpunkt der Exposition. Alles, was zuvor konzipiert, erarbeitet, geprobt wurde, wird dem kritischen Publikum präsentiert. Was wäre, wenn dieser Moment des Sich-Aussetzens weniger abrupt verliefe? Wenn bereits im Entstehungsprozess eine Rückmeldung von Aussenstehenden möglich wäre und deren Reflektionen in die Arbeit der Tanzschaffenden eingehen könnten? Wenn Arbeitsabläufe sichtbar gemacht und überprüft werden könnten? Genau dafür entwickelte das netzwerkTanz Vorarlberg openSpace und bietet das Tanzförderprojekt nun gemeinsam mit der ig-tanz ost an.

Tänzerinnen und Tänzer finden bei openSpace eine Bühne für ihre fertigen Stücke aber auch für die Präsentation neuer Konzepte. Das Besondere daran: openSpace ermöglicht den Austausch bereits während des sensiblen Arbeitsprozesses. Die Tanzschaffenden erhalten zu ihren Stücken, Entwürfen, Ideen einerseits fundierte Rückmeldungen von zwei Fachpersonen, andererseits ist auch das Publikum eingeladen, die eigenen, sehr persönlichen Eindrücke mitzuteilen. Dafür stehen dem Publikum Feedbackbögen zur Verfügung, die anonym an die Auftretenden überreicht werden können. Die Fachpersonen hingegen äussern sich direkt und im Gespräch. Zu ihnen gehören die Choreographin und Tänzerin Gisa Frank aus Rehetobel, die Vorarlberger Regisseurin Barbara Herold, Meret Schlegel und Hiekyoung Blanz, Tänzerin, Choreografin und Tanzpädagogin aus dem Allgäu.

Gisa Frank schätzt Offenheit der Plattform: „ Im Dialog geht es zuerst darum, wie das Stück auf mich persönlich wirkt. Alles andere fragen wir als Fachgruppe nach. Wir wollen ein förderndes Feedback liefern.“ Mit gezielten Fragen zu den gewählten Inhalten und der Umsetzung lenken die Fachleute die Aufmerksamkeit der Tanzschaffenden auf einzelne Aspekte des Stückes. Wichtig ist dabei, dass die Rückmeldungen positive, also umsetzbare Kritik enthalten und zugleich Mut machen zur Weiterarbeit. Doch es wird auch Klartext geredet wie Mirjam Steinbock, Geschäftsführerin des netzwerk Tanz, betont: „Wir als veranstaltende Vereine bieten die Bühne; was den Qualitätsanspruch betrifft, dafür stellen wir die Fachgruppen mit ihrem kompetenten Background zur Verfügung. Am Schluss geht es immer darum, professionelle Tanzschaffende und diejenigen, die es werden wollen, bestmöglich zu unterstützen. Aber openSpace darf auch polarisieren. Wen ein Thema unklar ist oder verschiedene Meinungen aufeinander treffen, dann wird diskutiert – manchmal sogar heftig. Und das ist doch das Beste, was dem Tanz passieren kann.“

Dem Publikum fällt es mitunter schwer, sich adäquat zum Tanz zu äussern, auch hier leistet openSpace Vermittlungsarbeit: Die Fachpersonen drücken sich so aus, dass sie sowohl den Tanzschaffenden als auch dem Publikum wertvolle Hinweise geben.

Wer sich für eine Teilnahme an openSpace entscheidet, profitiert aber nicht nur von differenziertem Feedback. Alle Auftretenden erhalten ausserdem kostenfreies Foto- und Videomaterial ihrer Präsentation. openSpace ist damit ein vielseitiges Förderinstrument sowohl für etablierte Tanzschaffende, als auch für solche, die erst beginnen, in der Tanzwelt Fuss zu fassen oder noch in Ausbildung sind.

netzwerkTanz Vorarlberg und die ig-tanz ost veranstalten die interaktive Plattform mehrmals im Jahr. Am 23. Juli 2013 ist openSpace in der Poolbar in Feldkirch zu Gast, am 14. November 2013 am Spielboden Dornbirn und am 22. Februar 2014 im TAK in Schaan. Für die Termine im November und Februar erfolgt die Ausschreibung via Newsletter. Mitglieder der beiden Netzwerke werden jeweils vorab informiert. Das Programm für den Sommer steht fest und zeigt es bereits: openSpace richtet sich an Künstlerinnen und Künstler aus der Region, aber auch an anderswo wohnende Tanzschaffende mit Bezug zum Dreiländereck. Damit entspricht es einem zentralen Anliegen der Tanzförderung durch die beiden Vereine: Die Tanzszenen werden miteinander vernetzt und der gegenseitige Austausch angeregt. Ganz so wie es beim TanzPlan Ost bereits erfolgreich funktioniert: Das Projekt war 2009 ins Leben gerufen worden, um den freien, zeitgenössischen Tanz in der Region Ostschweiz/Liechtenstein zu verbreiten, zu fördern und zu vermitteln. Trägerschaft und Koordination übernahm der Verein ig-tanz ost. Der gemeinnützige Verein will den Tanz im Raum Ostschweiz zu beleben, die öffentliche Wahrnehmung stärken und den Austausch der regionalen mit der Schweizer und der internationalen Szene fördern: Neben dem Tanzförderprojekt TanzPlan Ost und openSpace organisiert der Verein im Auftrag von Reso das nationale Tanzfest in St. Gallen, koordiniert regelmässige Profitrainings und berät die Tanzschaffenden aus dem gesamten Raum Ostschweiz und dem Fürstentum Liechtenstein. Das unermüdliche Engagement in den letzten zehn Jahren hat sich ausgezahlt: Aus der kleinen Interessensgemeinschaft ist ein stetig wachsendes Tanznetzwerk hervorgegangen. Genau so funktioniert es jenseits der Grenze: netzwerkTanz Vorarlberg unterstützt, berät und informiert Tanzschaffende und -interessierte seit 2007. Mit unterschiedlichen Formaten wird zeitgenössischer Tanz in der öffentlichen Wahrnehmung verankert. Indem nun beide Vereine ihre Schnittstellen stärken, können sie den Tanzschaffenden noch mehr Bühnen erschliessen. Die Zusammenarbeit hat noch viel Potential.

moving emotions. Tanz Musik Bewegung, 3/2013

Zeitreise in Appenzell

Stefan Inauen zeigt an der Ledi in Appenzell seine Installation „1.5.1.3“. Seine Vision: dem Lebensgefühl vor 500 Jahren näherzukommen.

Wie fühlte sich das Leben an, damals, vor 500 Jahren? Wie fühlte sich das Menschsein an? Stefan Inauen wagt ein Experiment, einen Sprung durch die Jahrhunderte. Für sein Kunstprojekt an der Ledi hat der in Appenzell geborene Künstler eine Zeitschleusse entwickelt. Eine physisch intensive Raumerfahrung bildet die Klammer zwischen dem Jetzt und der Vision eines anderen Daseins, eines das von Entschlossenheit und Freiheitsliebe geprägt ist: Wer die Schopfausstellung betreten will, muss sich klein machen, muss geduckt einen engen Tunnel passieren. In der physischen Enge kann der Alltag abgestreift werden, um unvoreingenommen ins Zentrum der Installation zu gelangen. Hier sind Werke von Vaclav Manser, Jolanda Streule, Kuk alias Matthias Krucker und Christian Meier zu sehen. Kuk und Streule arbeiten im Appenzeller Land, Manser ist inzwischen in Nordafrika zu Hause, und Meier pendelt zwischen Appenzell und Shanghai. Die Arbeiten der vier sind so unterschiedlich wie ihre Biographien. Für Stefan Inauen repräsentieren sie jenen Menschentypus, der kompromisslos und unbeirrbar seinen Weg geht, so wie die Appenzeller vor 500 Jahren.

Wechselnde Blicke auf gleiche Hügel

Im Zeughaus Teufen ist eine „Annäherung an Deine Landschaft“ zu sehen. Die Ausstellung zeigt variantenreiche Blicke aufs Appenzeller Land und Gemälde Hans Zellers neben aktueller Kunst.

Was bedeutet uns Landschaft? Welche Umgebung bezeichnen wir überhaupt als Landschaft? Was macht sie mit uns? Was machen wir mit ihr? Wo suchen wir nach ihr? Viele zieht es in die Ferne für aussergewöhnliche Natur- und damit auch Landschaftserlebnisse. Dabei lohnt es sich, die eigene, die nächste Landschaft immer wieder neu in Augenschein zu nehmen, ihren Besonderheiten nachzugehen und ihrem Wandel. Zudem erlebt Landschaft jeder anders. Ueli Vogt, Kurator des Zeughaus Teufen formuliert es so: „Was sich vor dem eigenen Auge zeigt, ist immer individuell, denn jeder Punkt kann nur von einem Schauenden eingenommen werden. Und selbst, wenn verschiedene Menschen von der gleichen Position auf eine Landschaft blicken, wird jeder etwas anderes darin sehen.“

Wie wäre es also mit einem Perspektivwechsel? Beispielweise beim Anblick des Säntis: Monika Ebnder lässt ihn für einmal nicht als Massiv aufragen. Die Trogener Künstlerin hat ein Gipsmodell des Alpsteins entlang der Kantonsgrenzen zerteilt. Die sonst immateriellen politischen Grenzen treten plötzlich als tiefabfallende Schluchten in Erscheinung und geraten zum Sinnbild für Trennendes und Verbindendes. Das Letztere ist in „Annäherung an Deine Landschaft“ Programm: Ueli Vogt bringt erstaunliche Zusammenklänge ans Licht. So dürfen einige Hans Zeller-Bilder ihre Kabinette verlassen und zeigen ihr grosses Potential neben Gegenwartskunst. Mitunter sind die Parallelen recht offensichtlich, wie zwischen dem Gemälde eines Faltenwurfes der Herisauer Künstlerin Vera Marke und Zellers „Spätherbstlandschaft mit Blick auf Alpstein“. Der grauweisse Stoff bauscht sich zu Hügeln, fliesst in Täler hinab, wellt sich und gleicht den dick mit Schnee bedeckten Gipfeln.

Subtiler ist die Nähe zwischen Zeller und den Arbeiten von Verena Schoch. Die Kamerafrau und Fotografin aus Waldstatt reagiert auf die lichtdurchfluteten Landschaftsgemälde des Appenzeller Malers mit eigenen Aufnahmen. Der Alpstein wirkt in ihnen seltsam entrückt. Reflektierende Wasserflächen lassen Vorder- und Hintergrund ineinander gleiten und eine Brise zerteilt die gespiegelte Sonne in unzählige Lichtpunkte.

Auch für Ulrich Binder ist das Licht in der Landschaft wichtig. Der Zürcher Künstler porträtiert keine konkrete Gegend, sondern sucht einen malerischen Ausdruck atmosphärischer Stimmungen. Sehenswert auch sein aus 258 Bildern der Webcam Rigi-Kulm komponiertes Video. Jede der ausgewählten Sequenzen zeigt die gleiche und doch eine immer wieder andere Landschaft. Noch prägnanter wird dies in Vera Markes Film „Der Ausblick“. Monatlich zeichnete die Künstlerin per Video auf, wie sie eine grosse Fensterscheibe putzt. Der Fensterausschnitt wird zum Bild, das sich nicht nur mit den Jahreszeiten verändert, sondern auch während es eingeseift, gewischt und poliert wird. Und es regt an, den eigenen Blick aus dem Fenster wieder einmal bewusster wahrzunehmen.

Dass sich auch bewusstes Hinhören lohnt, wird mit Sven Bösigers Arbeit deutlich. Der Musiker und Künstler aus Gais konserviert und transformiert Ortsklänge, etwa das leise Atmen des gefrorenen Seealpees.

Wie schon zuvor sind einige der Arbeiten eigens für diese Ausstellung entstanden, so etwa Christian Rattis Fledermausexperiment, Jürg Rohrs Gittersätze, Anita Zimmermanns Säntisbild oder Texte von Ralf Bruggmann. Felix Stickel malte eine perspektivische Karte der beiden Appenzell direkt auf die Zeughauswand ganz ähnlich der berühmten Walserkarte aus dem 18. Jahrhundert, nur das bei Stickel weiter- und mitgewirkt werden darf. Und Roman Häne stellt sein Forschungsprojekt zu Andres Sulzer vor. Der Teufener Landschaftsarchitekt hat in seinen Arbeiten immer wieder die Appenzeller Hügel nachmoduliert. Doch wie spezifisch sind diese Hügel? Der Winterthurer Fotograf Christian Schwager blendet alles Umliegende aus. Seine grossformatigen Aufnahmen zeigen grasbewachsene Kuppen unter graublauem Himmel. So einfach und doch so schön.

Kunstmuseum St. Gallen: Filipa César –Single Shot Films

Das Kunstmuseum St. Gallen präsentiert die erste Einzelausstellung von Filipa Cesar in einem Schweizer Museum. Die portugiesische Künstlerin untersucht ausgehend von ihrer portugiesischen Heimat die Entkolonialisierung Guinea-Bissaus.

Armando Lona blättert ein altes Fotoalbum durch. Behutsam streicht der Journalist und Archivar die Seiten um. Ab und an deutet er auf eine der vielen kleinformatigen Schwarzweissaufnahmen um knapp zu erklären, wer oder was darauf zu sehen ist. Nur dann, wenn er auf die politischen Ereignisse in Guinea-Bissau zu sprechen kommt, beginnt er wortreich zu erzählen und unterstreicht das Gesagte mit seinen Gesten. Hände und Stimme des Erzählenden sind die wesentlichen Elemente von „The Embassy“. Der Film ist ein Ergebnis der Recherchen Filipa Césars (*1975). Die Künstlerin arbeitet das Filmschaffen in Guinea-Bissau auf. Als sie sich mit der Salazar-Diktatur in ihrer portugiesischen Heimat auseinandersetzte, wuchs ihr Interesse für die koloniale Vergangenheit des Staates. In Guinea-Bissau stiess sie 2011 auf ein verwahrlostes Filmarchiv mit unzähligen Rollen sich bereits zersetzenden Filmmaterials über den Unabhängigkeitskampf. Sein wichtigster Protagonist, Amilcar Cabral, wertete den Film als Mittel zur Bildung eines neuen nationalen Bewusstseins und beauftragte Filmschaffende mit der Dokumentation der Revolution. Cesar liess 40 Stunden Film- und 200 Stunden Tonmaterial in Berlin digitalisieren und gab Original und Kopie zurück. Sie rettete nicht nur die Filme vor dem Zerfall, sondern entwickelte daraus Arbeiten, die nun in ihrer ersten monografischen Museumsausstellung in der Schweiz zu sehen sind. Gemeinsames Merkmal sind der Respekt und der aufmerksame, direkte Blick der Künstlerin gegenüber dem Material. In „The Embassy“ ergeben sich die Verschränkungen der Zeit- und Bildebenen sowie der persönlichen und kollektiven Erinnerungen wie von selbst. In der Trilogie „Luta Caba Inda“ (Der Kampf ist noch nicht zu Ende) kommen durch Referate und Filmvorführungen in Berlin weitere Sichtweisen und Reflektionsebenen hinzu, ohne in der Gefahr des Eurozentrismus zu erliegen.

Cesar arbeitet ausgehend von subjektiven Ansatzpunkten wie einer Fotografie, einer Briefmarke oder auch einer Freundschaft. In der Folge entsteht ein dichtes Geflecht von gesellschafts- und medienkritischen, aber auch geschichtswissenschaftlichen Untersuchungen. Diesen wird die St. Galler Ausstellung mit einer offenen, grosszügigen Präsentation gerecht. Projektionswände sind nur angelehnt, auf zusätzliche Wände wurde verzichtet, Originalmaterialien werden einbezogen. Der Gang durch die Ausstellung ist ein sinnliches und intellektuelles Erlebnis.

Museum im Lagerhaus, St. Gallen: Naive Schweiz Suisse Brut

Sie arbeiten unberührt von ästhetischen Debatten und jenseits etablierter Kunstformen. Sie leben am Rande der Gesellschaft und behandeln doch zentrale Fragen des Daseins. Sie entziehen sich sogar jenen Kategorisierungen, die eigens für ihre Werke entwickelt wurden: Die Begriffe «Art brut», «Aussenseiterkunst» oder «Naive Kunst» schubladisieren das Werk von Künstlerinnen und Künstlern, deren Werk ausserhalb gängiger Systeme entsteht. Zudem scheint es, als ob gerade die Einordnungs- oder vielmehr Abgrenzungsversuche die adäquate theoretische Aufarbeitung verhindern. Der von Jean Tinguely bewunderte Heinrich Anton Müller beispielsweise ist in Gesamtdarstellungen der kinetischen Kunst bis heute nicht verzeichnet, obwohl seine Maschinen in der Pionierzeit der Kinetik entstanden. In diesem Dilemma setzen spezialisierte Institutionen wichtige Zeichen: Das St. Galler Museum im Lagerhaus feiert gemeinsam mit der Stiftung für schweizerische Naive Kunst und Art Brut sein 25jähriges Bestehen mit einer breit angelegten Ausstellung. Klassiker wie Hans Krüsi, Adolf Wölfli oder der auch der Neuen Sachlichkeit zugerechnete Adolf Dietrich stehen neben weitgehend Unbekannten wie dem Bauernmaler Jakob Schweizer-Bösch oder der aus Kamerun stammenden Zeichnerin Pauline Ingold. Die heterogenen Positionen eint der unbedingte Wille zum Ausdruck und dessen kompromisslose Umsetzung.

Kunstkammer statt Abstellraum

Der „Schopf“ unter der Ledibühne ist ein sich ständig verändernder Ausstellungsraum. Er wird an jedem Standort neu von lokalen und regionalen Kunstschaffenden und ihren Gästen bespielt.

Der Lediwagen ist umgekippt. Alles ist herausgefallen: Der Gummistiefel, das Dreirad, das Bügeleisen, Besteck, ein Gartenstuhl, ein Rasenmäher, eine Wohnzimmerpflanze, Fernsehapparate und vieles mehr. Was brauchen Menschen wirklich? Was schleppen sie unnützerweise mit sich herum? Wohin damit? Fragen, die sich viele schon einmal gestellt haben werden. Nun wurden sie auf anschauliche Weise in die erste Kunstinstallation unter der Ledibühne in Herisau übersetzt. Nützliches trifft sich hier mit Kuriosem, Antiquiertes mit Neuzeitlichem und alles kommt in künstlicher Holzmaserung daher.

Die Mischung macht’s. So lebt die Installation „Wad häsch da häsch“ vom Nebeneinander der vielgestaltigen Objekte, von Gegenstand, Film und Ton. Ein Nebeneinander, das miteinander erfunden wurde, denn die Kunstinstallationen für die Ledi beruhen auf Bandenbildungen. Für jeden der sechs Ledistandorte wurde eine Künstlerin oder ein Künstler eingeladen, sich mit anderen zusammenzutun, sich zu vernetzen und eine gemeinsame Arbeit zu entwickeln. Die Zürcher Künstlerin Ursula Palla hat sich für Herisau mit Gabriela Brühwiler, Pascal Lampert und Stefan Rohner zusammengetan. Dann fanden die Künstlerinnen und Künstler weitere Mitwirkende: beispielsweise Die Herianos, Komponist und Poet Steff Signer aus Herisau, Schülerinnen und Schüler der Schule für Beruf und Weiterbildung in Herisau oder Martin Rüesch, Bauer in Urnäsch, der seinen Lediwagen auslieh. Alle Beteiligten diskutierten, organisierten, arbeiteten und schufen ein Resultat, dass im Alleingang nicht möglich gewesen wäre. Wichtig dabei: Die Zusammenarbeit funktionierte gleichberechtig oder wie es Stefan Rohner formuliert: „Es hat gut ‚giget‘ zwischen uns.“

Genauso war es geplant: Die sechs ausgewählten Kunstschaffenden denken und agieren über den Kunstkontext hinaus, beziehen Menschen aus dem eigenen Umfeld ein, aus der Region oder auch von weiter her. Sie bespielen den Schopf nicht selbst, sondern „bauen das Haus für Andere.“ Diesen Vergleich zu den Para-Pavillons an der Biennale in Venedig zieht Eduard Hartmann, einer der Projektleiter neben Ursula Badrutt, Theres Inauen und Agathe Nisple. Wie an der Biennale sollen sich im Appenzeller Land die Künstler selbst einbringen in der Auswahl der Mitwirkenden und der Gestaltung des Ausstellungsortes, zugleich ist aber Offenheit nötig für die Ideen und Konzepte der Anderen. So konzipiert Stefan Inauen sein Projekt für die Ledi in Appenzell als begehbare Raumskulptur. Sie soll das Lebensgefühl in früheren Zeiten vergegenwärtigen. Pascal Häusermann wiederum baut für die Urnäscher Station der Ledi die Raumsituation der grosselterlichen Wohnung nach und kreuzt Gegenstände aus dem Appenzeller Land mit Objekten von aussen. Zusammenarbeiten wird der in Zürich lebende Künstler mit Kunsthandwerkern und Künstlern, so mit dem in Herisau geborenen, inzwischen international agierenden Künstler Costa Vece, dem Schellenschmied Peter Preisig oder dem Schnitzer Hans Neff. In Gais richten Katrin Keller und Simon Kindle einen Setzkasten ein, in dem die Menschen aus Gais und Bühler ihre Liebhaberobjekte präsentieren können, dazu sind Gespräche und ein täglicher Stammtisch geplant. Emmanuel Gaiser präsentiert in Teufen eine Weltausstellung in einem vergessenen Museum. Hier werden Hans Schweizer und Thomas Stüssi mitarbeiten und Kunstwerke, Kulturgüter, aber auch zukunftsweisende Erfindungen in einer eigentümlichen Versuchsanordnung verzahnen. In Oberegg schliesslich ist Palatti zu Gast: Die international besetzte Künstlergruppe ist ins Appenzeller Land ausgeschwärmt und vereint ihre Entdeckungen aus der Aussen- und Innensicht in einem lebendigen Archivraum.

Ob Archiv, Setzkasten, Kabinett oder Museum – diese Räume dienen dazu, ein grosses Spektrum mal wundersamer, exotischer, mal alltäglicher, vertrauter Dinge zu zeigen. Auf ganz individuelle Weise interpretieren die Kunstschaffenden und Mitwirkenden das gemeinsame Motto vom Schopf als Kunst- und Wunderkammer.

Kunst in Schieflage

Das Nextex präsentiert in der Ausstellung „Liquid Becomes Solid“ aktuelle und eigens geschaffene Werke von Saskia Edens, Monica Germann und Daniel Lorenzi. Zu sehen sind lustvoll inszenierte Balanceakte und Abgüsse.

Wenn Flüssiges fest wird, ändert sich nicht nur der Aggregatzustand, sondern auch die sichtbare Oberfläche, genauso wie die Haptik und meistens auch die Form. Doch eine Pfütze bleibt eine Pfütze, auch wenn sie gefriert.

Saskia Edens (*1975) arbeitet mit flüssigem Zinn. Mit einem Kompressor schiesst sie das Metall auf Gegenstände. Es fliesst über Schriftzüge und Lederporen, umgibt Druckknöpfe und Verzierungen. Entfernt die in Basel lebende Künstlerin dann den beschossenen Gegenstand, bleibt sein detailgetreuer Abdruck bestehen, gebildet und umhüllt von einer Schicht silbrig schimmernden Zinns. Nicht nur die Objektform zeigt sich, sondern auch der künstlerische Prozess: Die flüssigen Metalltröpfchen gerinnen zu eigenständigen Strukturen. Die klar umgrenzte Gestalt des Objektes breitet sich wuchernd in den Raum hinein aus.

Edens erzeugt eine Negativform, die zugleich ein Positiv ist. Besonders eindrücklich zeigt sich dies im Nextex in den abgegossenen Foto- und Filmapparaten. Wie eine Schar deformierter Flugobjekte hängen die Kameraabgüsse an transparenten Schnüren, eine jede getragen von einer erstarrten Metallpfütze. Von der Raummitte aus sind die Gehäusedetails und Objektive zu sehen. Mit letzteren richtet sich der dutzendfache Blick aus dem Fenster des Ausstellungsraumes und plötzlich fällt die Überwachungskamera des Blumenbergplatzes ins Auge. Kameras beobachten Kamera oder umgekehrt, denn die Perspektive richtet sich mit der Aussenkamera wieder nach innen. Hier trifft sie als erstes auf eine fragile Holzkonstruktion. Schräg in den Fensterrahmen geklemmte Bretter stützen einander, werden von kleinen Keramiken gehalten und tragen diese wiederum. Alles erscheint in einem labilen Gleichgewicht. Monica Germann (*1966 in St. Gallen) und Daniel Lorenzi (*1963) haben es inszeniert und mit kleinen Keramikversionen grosser Designklassiker bestückt. Auch einer von Saskia Edens Modellautoabgüssen findet hier seinen Platz und dies ist nicht die einzige Schnittstelle innerhalb der Ausstellung. Auch die Pfützen wiederholen sich. Bei Germann und Lorenzi bestehen sie aus Kaltplastik zur Fahrbahnmarkierung. Diesmal tragen auch die Pfützen Möbelmodelle – das Formlose als Basis des Geformten.

Die beiden in Zürich lebenden Künstler spielen lustvoll mit Zitaten aus Kunst- und Designgeschichte, durchsetzen sie mit eigenen Formerfindungen und bringen so manches in wörtlich verstandene Schieflage. Mal sind die Balanceakte real, wenn etwa eine Stütze gestützt werden muss. Mal sind sie Element der vielschichtigen Wandmalereien, wenn etwa der Kunstkosmos von Monet bis Giacometti davon zurollen droht. Mal geraten sie an den Rand kippender Gedankenwelten, wenn im Wandgemälde ein ondulierter Gestalter mit irrem Blick den Freischwinger fixiert und über ihm der Sesselklassiker mit abgeknickten Beinchen käfergleich zappelt.

Der Entdeckungen sind viele möglich und einige sogar käuflich: Die drei Künstler haben im kleinen Nextexraum einen T-Shirt-Laden eingerichtet mit eigens geschaffenen Unikaten.

Tanz in der Stadt

Zuschauen, Mittanzen, Lernen – ein Wochenende lang wurde in St. Gallen getanzt. Auf Strassen, Plätzen, in Parks, Schulen und zahlreichen Gebäuden dominierte das diesjährige Tanzfest mit einem abwechslungsreichen Programm.

Was für ein Auftakt! Bei schönstem Wetter startete das Tanzfest am Donnerstagabend mit zwei geführten Tanzrundgängen durch die St. Galler Innenstadt. Sechs Formationen zeigten eigens erarbeitete Choreographien. Sie alle hatten nicht nur die hohe künstlerische Qualität gemeinsam. Alle Produktionen thematisierten die Stadt und waren ganz auf den jeweiligen Aufführungsort bezogen. Oft werden attraktive öffentliche Räumen als Wohnzimmer der Stadt bezeichnet. Künzler/Mock nahmen dies wörtlich. Der Gallusplatz wurde zur guten Stube – Zügeln, Einrichten und Putzen inbegriffen. In äusserst präziser Körperarbeit belebte sich hybrides Mobiliar, funktionierten Lampe und Sessel einmal anders.

Die Tanzkompagnie des Theaters St. Gallen schickte drei ihrer Tänzer am Bärenplatz in den samstäglichen Einkaufsrummel. Selten wurden grosse Tragetaschen so elegant über die Bänke balanciert, selten kleine Dramen unter shoppenden Männern schöner ausgetragen. Hinzu kamen lustvolle Zitate aus der HipHopkultur, die das Publikum zu spontanen Begeisterungswellen mitrissen.

Die Stadtlounge alias roter Platz bot Sandstøproduction die perfekte Bühne für intensiven Tanz zwischen fragiler Künstlichkeit und temporeicher Vitalität. Kein Wunder, dass es fast eine Kollision zwischen staunendem Passant und Töfflifahrer gab. Die Verkehrsbeunruhigung nahm unterhalb des Blumenbergplatzes noch rasant zu, als Hasselbeck & Stiftung Freizeit als Komitee zur standardisierten Zebrastreifenüberquerung auftraten. Wohl kaum einer der Tanzfestgäste wird wohl hier jemals wieder eine der vielen Fahrbahnen überqueren, ohne an die turbulenten Polonaisen, das Fussgänger-Stop und Go, die Kreistänze auf der vielbefahrenen Kreuzung zu denken. Da kam nicht nur so mancher Postautochauffeur ins Schwitzen.

Stillere Töne schlug die Compagnie Bewegungsmelder an. In der Passage zwischen Neugasse und Marktplatz entwickelten sie ein stimmiges Duett zwischen Tänzerin und Akkordeonspieler. In der Dunkelheit der Gasse faszinierte der Dialog der beiden Silhouetten. Danach gings weiter in den Innenhof von Katharinen. Zwischen den alten Mauern fand der Rundgang mit „Nachtschatten“ von Cie Claudia Roemmel seinen Abschluss. Der Ort bot die ideale Kulisse für die ruhelosen Rangeleien, die in geschmeidigen Tanz übersetzten Rang- und Revierkämpfe einer wilden Fünferbande.

Nach dieser gelungenen Eröffnung des Tanzfestes gab es bereits Freitagabend den nächsten Festhöhepunkt mit der gut besuchten Tanznacht in der Offenen Kirche. Tanzfreundinnen und -freunde konnten von professionellen Tanzschaffenden drei einfache Bewegungssequenzen erlernen. Weder Babybauch noch gebrochener Arm stellten Hindernisse dar; und der Enthusiasmus der Profis half über so manche Ratlosigkeit angesichts nicht ganz unkomplizierter Bewegungsabläufe hinweg. Selbst die Pausen wurden zum Weitertanzen genutzt. Die St. Galler Slackliners sorgten musikalisch für Stimmung und es war allen im Saal anzusehen: Tanzen macht gute Laune.

Am Samstag und Sonntag lockten weitere vielseitige Programmpunkte. Einer davon war der grosse Back to the Roots Battle der Breakdancer. Er wurde wegen des Wetters vorsorglich in die Jugendbeiz Talhof verlegt. d.point.c crew gewannen den Wettbewerb und präsentierten sich dann am Abend in der Lokremise beim zweiten Teil von Tanzrauschen. Den ersten Teil verfolgten 2000 Interessierte in der Multergasse. Die farbenfrohen Aufführungen der Tanzschulen der Region spannten den Bogen von Nah- bis Fernost, von Afrika bis Zumba, von Bollywood bis Ballett und fanden mit den Breakdancern einen beeindruckenden, akrobatischen Abschluss. Am Sonntag hiess es bei schönstem Wetter und vielen Kursen und Workshops dann wieder: Mittanzen erlaubt!