Ulrike Kristin Schmidt

Gesammelte Texte

Der Hahn des Anstosses

Anderthalb Jahre lang wird Admiral Nelson, Held der Seeschlacht von Trafalgar, von seiner Säule aus auf einen blauen Hahn blicken: Die deutsche Künstlerin Katharina Fritsch hat den Fourth Plinth Wettbewerb mit einem monumentalen Federvieh gewonnen. Gefertigt wurde es in St.Gallen.

Höchste Geheimhaltungsstufe für einen Hahn: Zwanzig Monate wurde an dem Tier gearbeitet und nicht ein Foto durfte veröffentlicht werden. Dabei wäre es doch so spannend gewesen, haut- oder federnah zu beobachten, wie aus einem ordinären Bauernhofvogel ein fast 5 Meter hoher ultramarinblauer Güggel im Zentrum Londons wird; wie in der St.Galler Kunstgiesserei Formen gebaut, gefräst, Konstruktionen berechnet, Farbtests gemacht und immer wieder auf die kritischen Anmerkungen Katharina Fritschs eingegangen wird. Angefangen hatte es mit einem Atelierbesuch bei der Künstlerin in Düsseldorf im Oktober 2011. Aber eigentlich schon im Juli 2010. Dann nämlich wurden die sechs Kandidaten für den Fourth Plinth Wettbewerb am Londoner Trafalgar Square vorgestellt, darunter die spätere Gewinnerin Fritsch.

Der vierte leere Sockel des Platzes wird seit 15 Jahren mit zeitgenössischer Kunst bespielt. Die Aufmerksamkeit für diesen Kunstpreis könnte grösser kaum sein und immer wieder provoziert die Auswahl der Jury. So etwa als im September 2005 Marc Quinns Marmorstatue einer körperlich schwergeschädigten schwangeren Künstlerin präsentiert wurde. Die Irritationen mögen ein Grund dafür sein, warum vor der Enthüllung der Skulpturen kein Bild davon präsentiert werden darf. Und tatsächlich: Auch der blaue Hahn erzürnt so manchen Londoner. Besonders die Denkmalschützer echauffieren sich, da das Tier, das nationale Symbol Frankreichs, nun den Platz prägt, der dem historischen Sieg über die Franzosen gewidmet ist. Unpassend sei der Vogel und stehe in keinem Kontext zum Platz, heisst es in einem Schreiben an die Londoner Stadtverwaltung. Doch Bürgermeister Boris Johnson stellt sich hinter das Projekt. Einerseits betont er die Freiheit der Kunst und andererseits hat er das grosse Potential des Werkes als Attraktion für Londoner und Besucher erkannt.

In der Tat, „Cock/Hahn“ ist ein Hingucker. Inmitten der steinernen Pracht fällt er auf, setzt einen tiefblauen Kontrast zu grau verwitterten Bauten, Treppen, Brunnenskulpturen und Sockeln. Aber Katharina Fritschs Arbeit ist freilich mehr als eine ästhetische Spielerei. Das galt schon für den tiefschwarzen Rattenkönig, die grüne Elefantenkuh und die gelben Madonnen und nun auch für den Vogel. Schon beim Titel fängt es an, ist doch der „Cock“ im Englischen eindeutig zweideutig doppelbesetzt. Mit der Invasion des Französischen Nationalsymbols im Herzen Londons geht es weiter, und das ausgerechnet durch eine deutsche Künstlerin. Dann ist da noch die anspielungsreiche Platzierung des Gockels in unmittelbarer Nachbarschaft der auf Sockel gehobenen Generäle und Admiräle. Fritsch kommentiert mit dem Hahn die reaktionäre männlich Weltsicht und die Annahme des biologischen Determinismus, gleichzeitig darf sich der männlich dominierte Kunstbetrieb gemeint fühlen. Es ist kaum ein Zufall, dass der Hahn an Yves Kleins Vereinnahmung der Welt mit dem berühmten Ultramarinton erinnert. Doch neben all dem ist der Hahn auch ein Symbol für Erneuerung, Aufbruch und Stärke und das dürfte den Londonern recht sein.

Tanz begeistert

Zeitgenössischer Tanz fällt auf. Vor allem dann, wenn er gute Orte findet, sich in den öffentlichen Raum hineinbewegen kann, hin zum potentiellen Publikum, und wenn er getragen wird von einer starken, vernetzten Szene. Lässt sich all das fördern? In der Ostschweiz und in Liechtenstein funktioniert das dank der ig-tanz ost. Der Verein koordiniert den Tanz und die Tanzförderung in den Ostschweizer Kantonen und dem Fürstentum Liechtenstein. Die Vereinszentrale ist ein kleines Büro in Heiden: Von hier aus hält Aline Feichtinger die Fäden zusammen. Auch jene für den TanzPlan Ost. Feichtinger ist die Projektleiterin des Zweitagesfestivals. Gisa Frank ist dessen künstlerische Leiterin. 2008 wurde es als Tanzförderprojekt ins Leben gerufen, 2010 gab es die erste Ausgabe, 2012 die zweite. Im TanzRaum Herisau begeisterte es so, dass die Vorfreude aufs kommende Jahr gross ist: Im August 2014 wird die TanzPlan Ost-Tournee wieder im TanzRaum Station machen. Wer regionalen Tanz auf hohem Niveau sehen will, muss aber nicht so lange warten. Denn es gibt openSpace, ein Tanzförderprojekt in Kooperation mit «netzwerkTanz Vorarlberg»: Tänzer und Tänzerinnen zeigen ihre Stücke im Entstehungsprozess und nicht nur das: Die Zuschauenden sind eingeladen, sich anonym und schriftlich zum Gesehenen zu äussern. Und sie dürfen dabei sein, wenn Fachpersonen die Stücke gemeinsam mit den Tanzschaffenden besprechen. Die nächsten Termine sind der 23. Juli beim Poolbar-Festival Feldkirch und der 14. November am Spielboden Dornbirn. Mehr Informationen gibt es unter www.igtanz-ost.ch.

Heimatgefühl und Fernweh

Die Ledi ist in Urnäsch angekommen. Im Schopf hat der Künstler Pascal Häusermann ein Wunderkabinett eingerichtet, das mit Exotischem und gut Bekanntem bestückt ist.

Urnäsch hat ein zweites Museum bekommen. Konkurrenz für das Brauchtumsmuseum? Mitnichten, denn das neue Museum ist nur eines auf Zeit und kooperiert noch dazu aufs Beste mit der alteingesessenen Schwester. Eingerichtet wurde es von Pascal Häusermann im Schopf unter der Ledi. Seit Mai ist die Ledi-Wanderbühne unterwegs und nun ist sie in Urnäsch auf ihrer dritten Station.

Pascal Häusermann (*1973) hat die Idee der Kunst- und Wunderkammer im Schopf wörtlich genommen und ein Schatzkabinett entworfen. Den Ausgangspunkt bildet die Stubenwand der Gaiser Grosseltern des Künstlers. Häusermann selbst lebt zwar seit dem Primarschulalter in Zürich, doch im Hause der Grosseltern bestaunte er aus Kinderaugen oft die dort versammelten Dinge. An der Wand hing beispielsweise der Landsgemeindedegen neben einer Machete. Die Grosseltern hatten ihn und andere Souvenirs aus Afrika und Ostasien mitgebracht. Die fremdartigen Alltagsobjekte und Ritualgegenstände mischten sich mit der heimeligen Biedermeierstimmung in der guten Stube. Dieses Zusammentreffen der Kulturen überträgt Häusermann in seine Installation „So fremd kann Heimat sein“.

Das Herzstück bildet eine modifizierte Nachbildung der Wohnzimmerwand der Grosseltern. Das Einbaumöbel funktioniert wie ein kostbarer Schrein für noch kostbareres Gut, darunter bedeutsame Stücke, die Häusermann aus dem Brauchtumsmuseum Urnäsch ausleihen konnte, aber auch solche, die ihren Wert nur durch die damit verbundenen Erinnerungen ihrer Besitzerinnen und Besitzer erhalten.

Aus dem Museum stammen beispielsweise zwei Fotografien aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Sie zeigen wie verschieden damalige Schuppel von heutigen sind. Damals herrschten weniger starke formale Standards. So war es möglich, die Tageskultur in den Kopfschmuck zu integrieren etwa die gesunkene Titanic oder den abgestürzten Zeppelin. Die traditionelle Kultur verbindet sich mit der aktuellen Lebenswelt. Solche Ambivalenzen sind es, die Häusermann besonders interessieren: Wo treffen sich Alltag und Ritual? Wo hat das Spirituelle noch Platz in der globalisierten Welt?

Häusermann hat keine volkskundliche Ausstellung eingerichtet, sondern bespielt den Schopf subversiv und vielstimmig. Leihgaben aus dem Museum und von Appenzeller Reisenden sind nur ein Aspekt seiner Wunderkammer. Häusermann hat andere Künstler gebeten, Werke beizusteuern, die von Heimat und Fremde, von Animismus und Migration erzählen. Und so hat Cat Tuong Nguyen, ein Zürcher Fotokünstler mit vietnamesischen Wurzeln, eine Altarsituation entworfen mit Fotogrammen und Siebdrucken. Von Tom Fellner, der in den USA lebte und in die Schweiz zurückgekommen ist, sind Aquarelle mit japanischer Spielzeugfiguren vor dem Hintergrund seiner heimatlichen Berglandschaft zu sehen. Costa Veces Assemblage aus online ersteigerten und schwarz angesprühten Souvenirfetischfiguren thematisiert, wie die Globalisierung zu formaler und inhaltlicher Beliebigkeit führt. Aber sind demgegenüber die traditionellen Formen erweiterbar und aufnahmefähig für Neues? Häusermann zeigt das eindrücklich mit einer von der Decke hängenden Traube aus Schellen, einer Gemeinschaftsarbeit mit Schellenschmied Peter Preisig, oder mit dem Groscht von Lisa Schiess. Statt mit Reisig hat ihn die in Zürich lebende Waldstätterin mit silbriger Schokoladenfolie besteckt und Namen darauf geschrieben. Hans Neff schliesslich, Holzschnitzer aus Urnäsch, hat für die Präsentation Blechschablonen ausgeliehen. Einst dienten sie zur Verzierung von Patisserie. Jetzt treten sie im Schattenspiel auf, was sich wiederum auf die gezeigten Schattenspielfigur aus Bali verweist. In Pascal Häusermanns Wunderkammer gelingt die Symbiose der Sehnsucht nach Exotik und Heimatgefühl. Gegensätzliches ist hier aufs Selbstverständlichste vereint.

Aufgepumpt? Abgepumpt? Im Hochdruck durch den Wasserturm

Nur für Unerschrockene: Christoph Büchels Installation „Pumpwerk Heimat“ im Wasserturm der Lokremise St.Gallen ist nach elf Jahren wieder zugänglich.

Schon mal in einem Opel Manta gesessen? Zum Fussraum wieder herausgestiegen? Oder eine Kletterstange hinab direkt aufs WC gerutscht? In einer Gefrierkammer die erfrorenen Zierfische gezählt? Christoph Büchel machts möglich. Der Schweizer Künstler installierte 2002 im Wasserturm neben der Lokremise sein Werk “The House of Friction (Pumpwerk Heimat)”. 11 Jahre war es nicht zugänglich, nur die Tauben und andere Eindringlinge hatten sich dort eingenistet. Jetzt kann die frisch restaurierte Arbeit endlich wieder begangen werden. Wobei “frisch restauriert” falsche Assoziationen weckt. Denn intakt sind die Welten nicht, auf die sich die Büchel in seinen Installationen bezieht. Der inzwischen international bekannte Künstler setzt dort an, wo es hakt, schafft unbequeme Situationen – für die Ausstellungsmacher, fürs Publikum, für die Presse. Er verwandelte die Wiener Secession in einen Swingerclub, verschenkte ein Ausstellungsbudget an Findige, versteigerte seine Manifesta-Teilnahme bei Ebay, initiierte Abstimmungskampagnen gegen zeitgenössische Kunst.

Die Installation im Wasserturm ist da vergleichsweise harmlos, und doch: Sie ist deutlich mehr als ein amüsanter, abenteuerlicher Parcours durch verschiedene Szenerien. Über sämtliche Etagen hinweg sorgt sie mal für Beklemmung, mal für Befremden und immer für Irritationen. Das Chalet etwa im Wasserreservoir ist das Gegenteil des heimeligen Ferienidylls mit Ausblick, es ist ringsum umgeben von der übermannshohen Mauer, die weltweit viele Verwandte hat. Dies lässt sich auch vom Hüttenausstieg sagen: Einem Fluchttunnel gleicht die Röhre, die direkt in eine Kühlkammer führt – eine anspielungsreiche Fortsetzung der räumlichen Erzählung.

Die eingefrorene Behausung ist wiederum nur wenig ungemütlicher als das Wohnzimmer im ersten Stock. Dort verbreitet eine in die Jahre gekommene Stubeneinrichtung Tristesse. Ist die Wohnung eines verwahrlosten Menschen gemeint? Oder entdecken wir uns nicht auch selber in vielen Details? Immerhin sind die Materialien, mit denen Büchel arbeitet, nicht von so weit hergeholt, im übertragenen wie im wörtlichen Sinne, sondern Fundstücke zahlreicher Touren durch die Brockenhäuser der Stadt.

Es passt also bestens, die Arbeit anlässlich der Ausstellung „Home! Sweet Home! Vom (un)heimeligen Zuhause in der Kunst“ im Kunstmuseum St.Gallen wiederzueröffnen. Während jene aber nur bis Oktober läuft, kann im Wasserturm in St.Gallen nun zum ersten und bisher einzigen Mal eine Installation Büchels dauerhaft besichtigt werden.

Bücher über Bücher

Stefan Steiners Bücher sind poetische Schatztruhen. Gemeinsam mit ausgewählten Gemälden sind sie in einer retrospektiven Ausstellung in der Kunsthalle Ziegelhütte zu sehen.

Stefan Steiner gestaltet keine Künstlerbücher im traditionellen Sinne. Seine Bücher reflektieren das Handwerk des Büchermachens, das Buch als Medium, als Objekt und manchmal auch als inhaltsschweres Werk. Eigentlich ist Stefan Steiner Maler. Der in 1963 in Steinhausen im Kanton Zug geborene Künstler arbeitet in seinem Kölner Atelier an Acryl- und Aquarellbildern. In den Aquarellen setzt er kleine, nahezu rechteckige Farbfelder mit vielen Weissräumen mosaikartig aneinander. Acrylfarbe legt er in kreisförmigen Schwüngen Schicht über Schicht und entwickelt konzeptuelle abstrakte Gemälde mit sich überlagernden Ebenen und grosser Bildtiefe. Daneben widmet sich Steiner seit über 20 Jahren seinen Büchern. Sie werden in der Kunsthalle Ziegelhütte als Schlüsselwerke zu Steiners künstlerischer Entwicklung präsentiert und öffnen den Blick für seine systematische Arbeitsweise. Immer wieder erlaubt die Ausstellung „Stefan Steiner. Efach, Einfach“ im grossen Skulpturensaal Querblicke zwischen Bild und Buch.

Die Bücher sind auf eigens vom Künstler entworfenen Sockeln ohne Vitrinen ausgestellt. So können sie aus unmittelbarer Nähe betrachtet werden, nur Anfassen ist leider nicht gestattet. So bleiben diejenigen Ideen verborgen, die erst in der Abfolge der weissen Blätter sichtbar werden. Anschaulich werden hingegen die formale gestalterische Vielfalt sowie die hoch reflektierte und poetische Imaginationswelt des Künstlers.

Während die Acrylgemälde aus schwungvollen Gesten aufgebaut werden, sind die Buchstaben, Formen und Farben in den Büchern behutsam und zielgenau gesetzt – das gilt selbst dann noch, wenn sie ihr Aussehen dem Zufall verdanken. Die Schmauchspuren etwa von Streichhölzern verselbstständigen sich zu insektenhaften Gebilden. Gerade so, als habe einer das Buch zugeklappt und die Fliege erwischt, oder besser den Moskito. Stefan Steiner bezieht sich in einer Werkgruppe explizit auf den gleichnamigen Roman William Faulkners. Eine andere Werkgruppe bilden die gestempelten Bücher. Auch hier spielt der Zufall hinein. Wenn Steiner zum Beispiel das Wort „Immergrün“ auf die Seiten stempelt, dann setzt er den Stempel erst in blaue, dann in gelbe Farbe. Dicht an dicht drängen sich die immer gleichen Wörter in variierendem Grün, mal stärker, mal weniger stark eingefärbt. Ein lebendiges Flirren überzieht das Weiss. Die „Blaupause“ kommt ebenfalls in dicht gestempelten Versalien daher, ist aber in einem Farbton gehalten. Mit der Restfarbe des Stempels bedruckt Steiner A6-formatige Kärtchen. Zu dem Wort „Blaupause“ gesellen sich hier knappe Notationen wie „Pfefferminzeis kalt grün“ und „roter Plastiklöffel“. Es sind kleine Hinweise auf die Fülle der Welt, nüchtern und doch voller Poesie. Ganz ähnlich wie die Begleittexte des Künstlers zu seinen  Werken. Sie erklären nicht, sondern deuten an, was vor, nach und neben dem Machen geschieht. Versammelt sind diese Texte im Katalog zur Ausstellung. Alle Künstlerbücher Stefan Steiners werden darin in Wort und Bild vorgestellt.

Wilde Wesen unterwegs

Eigenwillige Gestalten durchstreiften seit dem Herbst 2012 das Appenzellerland. Ihr Ziel: Der Landsgemeindeplatz in Hundwil, die Bühne des Festspiels «Der Dreizehnte Ort». «Grenzwechsel» waren Teil des Rahmenprogramms zum Kantonsjubiläum.

Drei Tage vor der Festspielpremiere in Hundwil: Noch sind die Zuschauersitze mit Plachen geschützt, darinnen kleine Wasserpfützen, noch herrscht ringsum beschauliche Sonntagsruhe. Doch plötzlich kommen sie über die Weiden bergab: seltsame Gestalten in Pelzen und Filz, hintereinander, ernst und verhalten. Auf ein unsichtbares Zeichen hin erobern sie rennend den Festspielplatz. Sie reissen sich die Felle vom Leib, rangeln und raufen. Sie sind angekommen. Seit Dezember waren sie unterwegs, haben die Wälder durchstreift, Bäche durchwatet und Gipfel erklommen, sind im Persianer über den Schnee oder gemähtes Gras gerutscht.

Fünfmal sind die wilden Wesen der Grenze zwischen beiden Appenzell entlanggewandert. Sie hatten gehört vom Festspiel in Hundwil und dem Jubiläum der beiden Kantone. So die Vorgeschichte der „Grenzwechsel“. Gisa Frank alias frank-tanz performance hat dieses künstlerische Projekt in Kooperation mit dem Theater zum Kantonsjubiläumsjahr entwickelt. Sie lud zu kleinen performativen Scharmützeln ein, die allen Beteiligten neue Blicke aufs Appenzellerland bescherten.

So auch am vergangenen Sonntag. Es war die letzte Grenzwanderung mit Start in Gonten und Zielort Festspielplatz in Hundwil. Etwa zwei Dutzend «äägni, frönti ond schreegi» Gestalten machten sich auf den Weg und mit ihnen Figuren aus dem Festspiel: Kinder und Hunde von Hundwil, Zaungäste, die Historikerin, Chormitglieder. Still hintereinander schreiten sie vom Bahnhof aus durchs Dorf und hinauf in Richtung Hundwiler Höhe. Doch bald schon weicht das Wandern anderen Bewegungsformen. Alle werfen sich zu Boden, erheben sich und kämpfen sich armrudernd voran, dann lausen sie sich oder stehen Kopf. Beiläufig werden choreografische Elemente gesammelt für einen wilden Auftritt beim Grenzstein der Hundwiler Höhe.

Gisa Frank ist mittendrin. Immer wieder erspäht sie besondere Orte wie eine Krete oder den Vorplatz einer Scheune, an denen sich das Rudel neu formiert und flüchtige Bilder in die Landschaft setzt. Die Tänzerin und Choreographin arbeitet seit langem daran, dem Tanz neue Räume zu eröffnen und die Kunstform zu erweitern: Ab wann wird Bewegung in der Natur als bewusst gestaltet wahrgenommen? Wieviele Spielregeln braucht es und wieviel Freiheit ist möglich? Beides ergänzt sich auch bei den Grenzwechseln. So trennt sich die Gesellschaft auf einen Pfiff hin in zwei Gruppen, die anschliessenden Seitenwechsel und Raufereien folgen eigenen Gesetzen. Oder ist da speziell Innerrhodisches oder Ausserrhodisches zu spüren? Unwillkürlich kommt es zu kleinen Geschichtslektionen angesichts der Frage nach der Trennung der beiden Kantone. Diese ging schliesslich kampflos vonstatten. Aber es ist den Grenzwechslern anzumerken, dass es gut tut, mit dem ganzen Körper zu agieren, auch oder gerade weil viele mittun, die keine tänzerische Ausbildung haben.

Am Sonntag war Olivia Clerici die einzige Innerrhödlerin der Gesellschaft, so trug sie auch die Fahne Innerrhodens. Es war ihr zweiter Grenzwechsel. Zwar waren alle Akteure des „dreizehnten Ortes“ jedes Mal eingeladen mitzuwandern, aber während der intensiven Probenzeit sind viele froh um einen Ruhetag. Die Ausserrhodische Fahnenträgerin, Marlies Longatti, ist hingegen jeden Grenzwechsel mit gelaufen – im Dezember von Büriswilen bis zum St.Anton, im Februar von Gais über den Hirschberg, im April von Teufen nach Stein, im Juni von Urnäsch über Blattendürren zur Schwägalp. Über die Wandergesellschaft sagt sie: „Mittlerweile ist es eine Familie geworden.“ Denn viele waren an diesem Sonntag nicht zum ersten Mal dabei und reisten aus Zürich, Basel, St. Gallen oder Winterthur an, um sich dem wilden Rudel anzuschliessen. Und viele von ihnen haben Appenzeller Wurzeln. So traf sich nicht nur die Freie Szene mit der offiziellen Grossveranstaltung, sondern die Heimwehappenzellerin mit dem zugezogenen Westschweizer oder der Alteingesessene mit der angereisten Schaulustigen. Der Tanz hat sie über die Grenzen hinweg zusammengebracht.

„Flex-Sil Reloaded – Eine Hommage an Roman Signer“

Die sieben Teile des zersägten Kajaks stehen auf dem Boden. Die Kerze mit Fussluftpumpe ist dagegen an erhöhter Position montiert. Vor 25 Jahren war es andersherum: Roman Signers „Kajak I“ stand auf einem weissen Podest, die „Kerze“ hingegen auf Fusshöhe – damals in der Kunsthalle St. Gallen. Nun werden die Werke nicht einfach erneut gezeigt, sondern die ganze Ausstellung wird wieder zusammengetragen, aber nicht als möglichst identischer Nachbau, sondern als Gruppenschau, die Hommage, Rekonstruktionsversuch und Experiment sein will. Der Anlass ist der 75. Geburtstag des Künstlers. Seine Präsentation in der Kunsthalle im Jahre 1988, damals noch in den Räumen an der Wassergasse, bildet den Kern von „Flex-Sil Reloaded“. Doch während etwa in Venedig mit „When Attitudes Become Form“ eine Wiederholung in grossem Stil zelebriert wird, darf in St. Gallen Neues passieren. Die historische Ausstellung – gut belegt mit Archivmaterial, Fotografien von Peter Liechti, einem damals geführten Interview mit dem aus St. Gallen stammenden Hans Ulrich Obrist und Konzeptzeichnungen – und vielmehr noch das gesamte Werk Signers spiegelt sich in den Arbeiten einer jüngeren Künstlergeneration. Einige von ihnen hatten bereits grosse Ausstellungen in der Kunst Halle: So Matias Faldbakken (*1973), dessen subversive Gesten jenen Signers verwandt sind, oder Navid Nuur (*1976) mit seinen performativen Skulpturen. Manche der Arbeiten verblüffen durch ihre Koinzidenzen, in anderen kommen neue Aspekte hinzu, so haben in einem Werk von Nina Canell (*1979) 4000 Volt harmonische Brandspuren auf einen Stecken gezeichnet, und Norma Jeane, auch früher bereits in St.Gallen präsent, lädt zur zeitlich begrenzten Crackerbearbeitung ein. Valentin Carron zeigt „Ciao°5“, ein Mofa der Marke Piaggio und transportiert damit nicht nur Teenagersehnsüchte seiner Zeit, sondern eine überdeutliche Referenz an Roman Signer. Dieser hat den Ape Piaggio seit langem im Repertoire. In der Kunst Halle stellt er ein Exemplar aufs Heck und verwandelt es in einen „Springer“. Dass er dies durchaus wörtlich verstanden haben will, zeigt er mit einem ebenfalls vertikal positionierten Modell des Fahrzeugs auf einem Schachbrett: Kunst kann aus dem Spiel heraus entstehen. Das gilt für Ausstellungen ebenso. „Flex-Sil Reloaded“ ist ein spielerisch inszeniertes, unbefangenes Geburtstagsgeschenk.

Anthony McCall, Two Double Works, Lok / Kunstmuseum St. Gallen

Das Kunstmuseum St. Gallen zeigt in der Lokremise Anthony McCalls erste Einzelpräsentation in einem Schweizer Museum. Seine raumgreifenden Lichtarbeiten sind bewegte Skulptur, Film im realen dreidimensionalen Raum, Zeichnung mit Licht und ephemere Form.

Das bewegte Bild auf der einen, der Projektor auf der anderen Seite – noch immer dominiert diese filmische Anordnung im Kino und im Kunstbetrieb. Aber spätestens seit dem Expanded Cinema der 1960er und 1970er Jahre gibt es sie: die Versuche, Projektionsgrösse und den -hintergrund zu variieren, ebenso die Anzahl der parallel projizierten Bilder oder die Position und Art des Projektors. Anthony McCall (*1946) gehört zu den Pionieren der Bewegung, und ist doch weit mehr als ein Filmkünstler. Mit „Line Describing a Cone“ hatte er 1973 aus einem Film heraus eine ephemere, animierte Skulptur entwickelt: Innerhalb von dreissig Minuten vergrössert sich ein Lichtpunkt kontinuierlich bis zur Sichel und weiter bis zum Kreis. Zugleich entsteht durch das Licht des Filmprojektors eine Kegelform im Raum.

McCalls frühe Werke wurden vielbeachtet, doch der Künstler verfolgte sie zunächst nicht weiter. Erst nach einer über zwanzig Jahre währenden Pause rückten grosse Gruppenausstellungen seinen Beitrag zur Kunst der 1970er Jahre wieder in den Fokus. McCall begann an seinen Solid-Light-Installationen weiterzuarbeiten, nun mittels digitaler Technik statt im 16mm-Film. Teilweise sind die neuen Werke vertikal von oben auf den Boden gerichtet und intensivieren so den skulpturalen Effekt. Andere Arbeiten beruhen auf Doppelprojektionen, in denen zwei Handlungen gleichzeitig, aber separat ablaufen. So ist der in der Lokremise St. Gallen gezeigte „Leaving (with Two-Minute Silence)“, 2009 ein zweiteiliger, horizontal projizierter Sold-Light-Film mit zwei Projektoren: Vor einer Klanglandschaft aus New Yorker Strassen- und Wellengeräuschen, inklusive der im Titel genannten Stille, reduziert sich eine mit Licht auf die Wand gezeichnete Ellipse um einen immer grösser werdenden Keil. Ein zweiter Keil wächst in gleichem Masse heran als positives Resultat der Reduktion. In der zweiten Arbeit der Ausstellung, „You and I, Horizontal (III)“, 2007, erweisen sich die Lichtstrahlen als Linien, Wellen, offene Ellipsen. Künstlich erzeugter Nebel verstärkt das räumliche Erlebnis der Projektionen, indem er Lichtmembrane evoziert. Die Lichtzeichnungen auf der Wand sind gleichsam der Fussabdruck der jeweiligen Lichtkegel oder -bahnen im Raum. Letztere bleiben trotz ihrer Präsenz immateriell und verleiten doch dazu, Interaktion zu suchen, die Lichthüllen zu durchschreiten, zu durchbrechen, Verwirbelungen auszulösen – die Lichtskulptur physisch zu erleben.

Die zweite Dekade

Jubiläumsausstellung 20 Jahre Kunsthalle Arbon

Ein Quadratmeter Boden, zwei Kubikmeter Luft, zwei Quadratmeter Holzplatte – ist das wenig? Ist das viel? So oder so: Es lässt sich einiges daraus, darauf und darinnen machen. Kunst zum Beispiel. Im Falle der Kunsthalle Arbon von allen Künstlerinnen und Künstlern, deren Werke seit der 10-Jahres-Jubiläumsausstellung 2003 dort zu sehen waren. Jeder und jede von ihnen hatte mit einer «Carte Blanche» jeweils die gesamte Halle bespielt, also das Sechshundertfache eines Quadratmeters. So gross ist der Oberlichtsaal der Kunsthalle in dem Industriebau des frühen 20. Jahrhunderts. Früher wurden hier Blechpressteilen für Karretten gefertigt. Seit 20 Jahren ist die unbeheizte Halle in den Sommermonaten Ort der Kunsthalle Arbon. Der eigenständige Charakter der Halle ist für Künstlerinnen und Künstler Inspiration und Herausforderung. Er stellt hohe Anforderungen und verlangt durchdachte, klar ausformulierte Projekte. Auf dem Programm der Kunsthalle stehen deshalb nicht klassische Bilderschauen, sondern raumgreifende installative Interventionen. Experimente sind gefragt und Gespür für das Raumvolumen oder für den öffentlichen Raum, denn seit 2006 organisiert die Kunsthalle Arbon zusätzlich Projekte in der Stadt, am Seeufer, im See, um die Kunst aus dem geschützten Rahmen hinauszutragen – ein breites Spektrum also, in dem Kunst neu entstehen kann. Mit der Jubiläumsausstellung haben nun alle Kunstschaffenden für einmal die gleiche Ausgangslage, um ihr gutes Raumgespür zu beweisen. Aber die letzten zehn Jahre lassen es bereits erahnen: Viel Gleiches wird nicht zu sehen sein, sondern Gemaltes, Verlängertes, Ausgesägeletes, Umgebautes, Gesammeltes, Filmisches oder Funktionales auf jeweils einem Quadratmeter. Und ein bisschen Platz muss noch frei bleiben: Die Vernissage der Ausstellung am 17. August 2013 wird als grosses Sommerfest gefeiert mit Bar in M.S. Bastians und Isabelle L´s umgebautem Wohnwagen, mit Musik und langer Tafel im hinteren Hallenteil der Kunsthalle Arbon. Auf an den See!

Leistungsschau der Kreativen

Das Ende ein Anfang: Die Schule für Gestaltung St.Gallen präsentiert unter dem Titel „Finale“ zum ersten Mal Abschlussarbeiten aller Schülerinnen und Schüler. In der Hauptpost ist viel Qualität, aber auch weniger Gelungenes zu sehen.

Die Ausstellung ist eine Schau der Superlative: Die Schule für Gestaltung zeigt in der Hauptpost auf 1´700 Quadratmetern Hunderte von Arbeiten von Hunderten Lernender. Das Spektrum reicht von ersten künstlerischen Gehversuchen bis zu ausgereiften Statements, von Fingerübungen in der Freizeit bis zur beruflichen Abschlussarbeit. Zum ersten Mal sind alle Abschluss- und Semesterarbeiten aus allen Klassen der Schule in einer gemeinsamen Ausstellung vereint.

Eine solch umfassende Schau ist eine Herausforderung. Wie kann so eine Vielfalt stimmig präsentiert werden? Wie allem gerecht werden? Das Ganze gelingt unterschiedlich gut und hängt vom Ausbildungsgrad und dem Gespür der Beteiligten ebenso ab wie von der professionellen Unterstützung und dem Raumangebot. Während den Einen eine Kuratorin zur Seite stand, sind die Arbeiten Anderer nicht einmal mit den Namen gekennzeichnet. Letzteres verunmöglicht nicht nur die Identifikation, sondern lässt eine gewisse Wertschätzung gegenüber diesen Werken vermissen.

Zu den gelungenen Beispielen gehören die beiden Präsentationen der Gestalterischen Vorkurse für Erwachsene. Susann Albrecht leitet den Vollzeitkurs, ihre 18 Absolventinnen und Absolventen haben alle bereits einen Platz an einer Hochschule. Daher hat die Kursleiterin einen kleinen Postverteilungsraum für eine einfallsreiche und farbenfrohe Präsentation der Portfoliobücher genutzt. Andy Storchenegger leitet den berufsbegleitenden Vorkurs, seine 14 Teilnehmenden haben im Monotypieverfahren eine gemeinsame, raumfüllende Installation eigens für die Ausstellung entwickelt.

Die Fachklasse Grafik hat die ihr zugeteilten Räume kurzerhand in eine stimmige Agenturpersiflage verwandelt, inklusive transformierter Weltzeituhren, Töggelikasten und ironischer Designpreise. Aber auch die eigentlichen Arbeiten kommen nicht nicht zu kurz, darunter die diesjährigen Olmaplakatideen – die Fachklasse Grafik stellt wieder einmal den Siegerentwurf.

Andreas Tschachtli kommt zu Recht ins Schwärmen, wenn er über seine Fachklasse spricht. So ist es auch bei Roland Stieger angesichts der Arbeiten seiner angehenden typografischen Gestalter. Auch sie zeigen starke Entwürfe in einer stimmigen Übersicht.

Ein besonderes Gewicht wurde auf die Diplomausstellung der ersten Absolventinnen und Absolventen des dreijährigen HF-Lehrgangs Bildende Kunst gelegt, sie wurden sogar kuratorisch unterstützt von Kunsthallenmitarbeiterin Maren Brauner. Zwischen den alten lückenhaften Teppichen und herausgerissenen Deckenpaneelen des ehemaligen Amtes für Migration ist hier viel Qualität, Sinn für Materialien und Mut zum Experiment zu sehen: angefangen von Gespinsten aus Plastiksäcken über Zeichnungskonvolute oder eine auseinanderdriftende Slumskulptur bis hin zu einem schwebenden Apfelbaum. Selbst der kurzfristig angeordnete Abbau einer Raumnische aus Brandschutzgründen wurde gemeistert: Die Installation PutZen Dienste wurde umgeplant und funktioniert dennoch, dies ist auch ein Zeichen für die erarbeitete künstlerische Sicherheit.

Während dem Lehrgang also bescheinigt werden darf, dass das Kursziel erreicht wurde, sieht dies in beim Weiterbildungskurs Farbe Form Raum ganz anders aus. Selbstverliebte, banale oder eklektische Spielereien in konventioneller Machart hängen nichtssagend nebeneinander. Irritierend, dass an der Vernissage zu hören war, der HF-Lehrgang Bildende Kunst solle mit dem FFR-Kurs zusammengelegt werden, und betont wurde, dass dies aber nicht eine Abschaffung des Kurses bedeute. Die Qualitätsunterschiede sind einfach zu gross, als dass beide Gefässe in einem existieren können.