Ulrike Kristin Schmidt

Gesammelte Texte

Steinfliegen an der Sitter

Jochen Lempert arbeitet derzeit im Gastatelier des Sitterwerkes. Anlässlich des Offenen Ateliers zeigt der Hamburger Künstler und Biologe Ergebnisse seiner fotografischen Forschung.

Der Wasserspiegel scheidet Lebensräume. Oberhalb desselben erbeutet der Wasserläufer ertrinkende Insekten, direkt unterhalb ist der Rückenschwimmer gleichfalls auf der Jagd. Beiden bietet die Spannung der Wasseroberfläche Halt. Nur an winzigen Stellen berühren ihre Gliedmassen die unsichtbare Haut. In den Fotogrammen von Jochen Lempert zeigen sich diese Stellen als schwarze Punkte. Die Insekten hingegen schweben als zartgrau getönte Objekte über die helle Fläche. Da das Fotopapier bei dieser Technik direkt belichtet und keine Kamera benutzt wird, entstehen diese Aufnahmen in direktem, ganz unmittelbarem Kontakt mit der Natur. Gerade das aber macht sie so fremdartig. Natur kann in den Bildern Lemperts völlig neu gesehen werden. Zum Beispiel ein Glühwürmchen: Die Lichtsignale des Leuchtkäfers erscheinen im Fotogramm als rhythmisch gesetzte Punkte auf einer Fläche.

Jochen Lempert (*1952) ist Forscher, Künstler, Biologe. In den 1980er Jahren gehörte er zum Filmproduktionskollektiv Schmelzdahin in Bonn. Die Gruppe bearbeitete vorgefundenes oder selbst gedrehtes Filmmaterial weiter, transformierte es durch gezielte oder zufällig ablaufende Zersetzungsprozesse – Filme als Forschungsmaterial. Dieser experimentelle Charakter ist Lemperts Arbeiten geblieben, aber sein Medium ist seit 25 Jahren die Fotografie. Ebenso lange arbeitet er als Wissenschaftler in einem anderen Feld: Lempert studierte Biologie und ist aktuell immer wieder als Ornithologe auf der Nordsee unterwegs, um das Verhalten der Vögel in der Nähe grosser Windkraftanlagen zu untersuchen. Beeinflusst nun die Biologie den Fotografen oder nutzt die Fotografie dem Biologen? Wenn überhaupt, dann gilt Letzteres. Aber Lempert ist ein unabhängiger Geist. Seine Arbeitsweise strahlt grosse Autonomie gegenüber Zweckzwängen, technischen oder ästhetischen Moden aus. Er fotografiert analog, und zwar nicht, weil es gerade wieder hip ist, sondern weil er gerade nicht das perfekte, schöne Bild sucht. Vielmehr geht es darum, die Methode ebenso wie die Abbildungsgeschichte zu reflektieren, darum, die Natur zu erfassen, abzubilden, was zu sehen ist. Dazu passt, dass Lempert seine Bilder nicht digital nachbearbeitet und sie grundsätzlich mit Klebeband direkt auf der Wand fixiert, ohne Rahmen, ohne Schutzglas.

So präsentiert er sie auch im Gastatelier des Sitterwerkes. Seit zwei Monaten arbeitet Lempert hier und hat sich eingehend mit dem Ort und seinen Besonderheiten auseinander gesetzt. Die Sitter hat es ihm dabei besonders angetan als natürlicher Lebensraum, der jedoch von zivilisatorischen Einflüssen geprägt ist. Wie etwa der durchs Kraftwerk Kubel beeinflusste Wasserstand. Gerade solche, fotografisch schwer zu fassenden Ereignisse haben es dem Künstler angetan. So entstand in den letzten Wochen eine Serie von Stein-Fotogrammen. Die grossen Flusskiesel erscheinen auf dem Fotopapier als weisse Fläche im grau monochromen Grund – fast wie Leerstellen, hätte nicht die Dynamik der Wasserstände die Umrisse verschwimmen lassen. Die unscharfe Begrenzung verleiht einzelnen Steine eine Aura. Ausserdem gelang dem Forscherkünstler an der Sitter ein weiteres besonderes Ereignis zu beobachten und auf Fotopapier zu bannen: das Massenschlüpfen der Steinfliegen. So kleine Wesen, so urwüchsig – so viel Natur so nahe der Stadt.

Nach der Fotografie ordnet Lempert ordnet die Bilder und initiiert Dialoge. Das funktioniert auch mit ganz unterschiedlichen Motiven und prägt seine Arbeit sowohl in Ausstellungen als auch in den Büchern: Die Gruppierung der Fotografien und Fotogramme erlaubt vergleichendes Sehen in einer naturwissenschaftlichen Tradition.

Dialoge unter Bildern

Stephan Condamin zeigt aktuelle Arbeiten in der Galerie Oertli. Freie Malerei ist ihm ebenso wichtig wie das Zwiegespräch von gegenständlich und abstrakt.

Links ein afrikanischer Kultgegenstand, rechts ungegenständliche Malerei. Links ein Landschaftsdetail in Grau auf Weiss, rechts buntfarbige Abstraktion. Links monochrom flächige Blumen, links Auflösung, Andeutung, Wiederholung. Stephan Condamins Bilder feiern die Dialektik. Sie bestehen zumeist aus zwei eigenständigen, aber gemeinsam gerahmten Leinwandteilen – einem schmaleren und einem fast doppelt so breiten. Dabei wirkt der kleinere Teil wie ein Impulsgeber für den grösseren, obgleich Condamin betont, dass nicht definiert ist, wo das Bild beginnt, in welcher Reihenfolge es fortgeschrieben und vollendet wird.

Aber der schmale Leinwandteil ist meist jener mit einer gegenständlichen Darstellung, und diese ist auch hundert Jahre nach dem ersten abstrakten Bild der Kunstgeschichte visuell eingängiger. Zumindest in Condamins Gegenüberstellungen. Der 1952 geborene St.Galler zitiert einerseits Bilder aus seinem grossen kunsthistorischen Fundus. Es sind keine vollständigen, wörtlichen Übernahmen, sondern Anleihen in Stil, Duktus und Form. Mal imitiert er eine altmeisterliche Zeichnung, mal eine Renaissancegrafik oder eine frühe Landschaftsdarstellung. Andererseits begeistert er sich für freie Malerei.

Condamin lässt die Farbe rinnen und verkrusten, schabt sie wieder ab und spachtelt neu darüber. Er verdichtet und krakelt, kleckst und streicht. Unterstützt von den gegenständlichen Darstellungen schafft er Assoziationsräume.

Beide Bildteile kontrastieren miteinander oder ironisieren sich, ergänzen sich oder stellen einander infrage: Wirkt die Linie nur deshalb kraftvoll, weil nebenan eine weibliche Heldin einen Stecken schwingt? Wird ein Blau zum Himmelblau wenn Landschaft ins Spiel kommt? Wie viel Stadt ist nötig, bis eine Dreiecksform zum Dach wird, ein Spitzbogen zum Fenster? Wo hört Unmittelbarkeit auf und fängt der Primitivismus an? Condamins Gemälde geben keine Antworten, sondern inszenieren eigenständige Dialoge.

Das Gleiche gilt für die ebenfalls in der Galerie Oertli ausgestellten Monotypien. Sie kommen weniger laut und überschwänglich daher, sind poetischer, subtiler, obwohl auch ihnen Malerei zugrunde liegt. Im indirektes Verfahren des Umdruckens gehen in den Monotypien die Konturen verloren, Flächen fasern aus, Farben erscheinen zart und ausgebleicht. Condamin regt auch mit diesen kleinen Werken das Sehen an, sie sind mehr als der Lückenfüller in der Ausstellung.

Hundert Kühe und noch mehr

Francesco Bonanno verwandelt seine Macelleria d’Arte in einen „Kunststall“. In seiner Ausstellung „Hommage à la vache“ feiert er die Kuh.

Andy Warhol hat es vorgemacht: Der Pop Art Künstler hat Motive aus der Medienwelt dutzendfach nebeneinander gesetzt. Immer gleich und doch verschieden in Farbton und -auftrag. Per Siebdruck liessen sich die verfügbar gewordenen Bilder unendlich oft wiederholen: zehnmal Mao Tse Tung, fünfzigmal Marylin Monroe, zweihundert Suppendosen, Wände voller Kühe, tausende.

So viele sind es bei Francesco Bonanno nicht, aber auch der St.Galler Künstler zelebriert die Wiederholung eines Motives, seines Motives: Die Kuh begleitet Bonanno schon seit seiner Galeriegründung vor 25 Jahren. Damals eröffnete er in der Metzgergasse in einer ehemaligen Metzgerei die Macelleria d´Arte. Das passende Logo dazu: Das linear reduzierte Bild einer Kuh mit eingezeichneten Schlachtteilen.

Inzwischen ist die Galerie mehrfach umgezogen, das Logo aber ist geblieben. Und mehr noch – es ist zum beherrschenden Motiv in Bonannos künstlerischen Werken geworden. Kein Wunder, ist doch die Kuh mehr als nur Schlachttier. Der Galerist kommt geradezu ins Schwärmen, wenn er von den Eigenschaften des Rindviehs spricht, von der der archaischen, majestätischen Ausstrahlung, der Ruhe und Geduld, auch von der historischen Rolle der Kühe. Heilige, himmlische, kraftvolle Wesen waren sie, Fleisch- und Milchlieferant sind sie. Francesco Bonanno thematisiert beides. Zwar zeigt er einzig die immer gleiche Kuh im Profil, aber in der Wiederholung und Behandlung des Motives bekommt die Kuh neue Präsenz.

Per Linolschnitt druckt Bonanno Kühe auf Kunst- und Kulturzeitungen, auf Stoffe und kostbare Hölzer. Ja sogar ein altes Ölgemälde kommt so zu neuen Ehren. Dieses Landschaftsbild wäre kaum der Rede wert, aber nun steht da am Seeufer eine doppelte Kuh mit durchbrochener Silhouette, voller Sandkleckse. Dem Künstler gelingt eine zweifache Aufwertung: Er schärft den Blick für das alte Bild und für die Kuh als künstlerisches Motiv.

Auch auf der Rückseite einer gespannten Leinwand prangt die Linolschnittkuh und liefert damit einen Kommentar zum Geltungsanspruch der Malerei. Ausserdem erscheint sie auf Papiersäcken, einer Servierplatte oder golddurchwirkten Tüchern und natürlich in Bonannos geistreicher Neuinterpretation des Sennenstreifens: In einem beleuchteten Holzkasten wandern 74 Kühe durch die vier Jahreszeiten. Der Papierbahn läuft zwischen zwei Rollen, angetrieben per Hand. Es gibt weisse Schneekühe und bunt hinterlegte Frühlingskühe, Sommerkühe vor blauem Grund und Tiere vor warmen Herbsttönen. Oben auf dem Kasten erinnert das Segment eines Elektrozaunes, dass das Leben der Rinder zwar im Freien, aber nicht in Freiheit stattfindet.

Was aber hat es mit jenem kostbaren Patchworktuch auf sich, das einen leichten Stallgeruch verströmt? Kuh ist darauf keine zu entdecken. Aber es gab eine darunter. Zur Ausstellungseröffnung hatte Francesco Bonanno damit die wunderschön gehörnte Loni geschmückt und von einem Abtwiler Hof auf den roten Platz geladen. Sie zeigte den Kunstgästen, wie das wirklich funktioniert mit der Gelassenheit und Ruhe, ganz egal ob auf grünem Gras oder rotem Kunststoff.

Mona Hatoum im Kunstmuseum St.Gallen

Das Kunstmuseum St.Gallen widmet Mona Hatoum eine grossangelegte Ausstellung. Für einmal gibt es keinen poetischen Ausstellungstitel, denn der Name der international arbeitenden Künstlerin ist Aussage genug.

Haare sind schön. Haare sind eklig. Je nachdem, wo sie sich befinden. Ob auf dem Kopf oder in der Suppe – Haare rufen Reaktionen hervor. Das frisierte Haar wird als Geschlechterbestimmung wahrgenommen und in einigen Religionen bedeckt. Es stiftet Identität und kann Zugehörigkeit demonstrieren. Entführten, gefangenen oder anders internierten Menschen wurde (und wird unter manchen Regimen noch immer) das Haar abrasiert, um sie zu entwürdigen und ihre Individualität zu untergraben. Zudem wird ihnen im übertragenen Sinne ihre Kraft genommen. Seit dem Altertum ist das Haar ein Symbol für Kraft und Schönheit.

Im Haar vereinen sich sinnlich ästhetische Qualitäten und Bedeutungsanspruch. Das Haar ist also niemals nur formbare Hornsubstanz. Auch dann nicht, wenn es als künstlerisches Material eingesetzt wird. Mona Hatoum arbeitet seit langem mit menschlichem Haar. Die palästinensisch-britische Künstlerin hat es zu einer Kufiya verwoben oder zu tumbleweedartigen Bällchen verzwirbelt, hat ein Schaamhaardreieck auf der Sitzfläche eines Gartenstuhles ausgelegt.

Und die zeichnet mit Haar auf Papier. Diese stillen Arbeiten sind Teil der Ausstellung „Mona Hatoum“ im Kunstmuseum St.Gallen. Mal kringeln sich auf dem weissen, von der Künstlerin handgeschöpften Paper einzelne Haare zu kleinen Nestern, mal sind sie zu zarten Gespinsten verknotet und verflochten. Beides zeigt im Kleinen, was die Künstlerin auch in ihren raumfüllenden Installationen beschäftigt: Mona Hatoum arbeitet körperbezogen und mit starken formalen Lösungen. Ihre Werke wirken in sinnlicher und geistiger Hinsicht. Die Haarbilder etwa weissen all die Zwischentöne von schön bis irritierend auf. Genauso die Zeichnungen mit Blut. Oder „Paravent“ und „Daybed“, zwei Werke aus dem Jahr 2008: Die Künstlerin Hatoum vergrössert eine klappbare Käsereibe zu einem überkopfhohen Raumteiler und eine Reibe mit geschwungenen Enden zu einer zwei Meter langen Ruhestätte. Aber einladend wirkt diese nicht. Die scharfen hochstehenden Zacken sind nicht länger geeignet, Lebensmittel zu zerkleinern, sondern eine jede für sich ist zum bedrohlichen Werkzeug mutiert.

In der Vergrösserung verlieren die Haushaltsgeräte ihren harmlosen Charakter. Es wäre jedoch verfehlt, nur auf dem Unbehagen angesichts der Arbeiten nachzuspüren. Wie immer bei Mona Hatoum haben die Dinge mindestens zwei Seiten. Die ausgestanzten Ecken der Reiben fügen sich zu einem gleichmässigen Raster. Es entfaltet sowohl grafische als auch räumliche Wirkung und erinnert so an die nichtperspektivische, ornamentierte Gestaltung in der abbildlosen Kultur des Islam, an die geometrischen und arabesken Muster in Moscheen, an Balkongittern und auf Fliessen. Diese Tradition ist in der Ausstellung auch ganz direkt präsent im Werk „Twelve Windows“. Auf verspannten Stahldrähten hängen zwölf bestickte Tücher in fein abgestimmten sonoren Farben. Sie sind das Werk palästinensischer Frauen in libanesischen Flüchtlingscamps. Jedes Fenster stellt mit seinen Mustern eine Region Palästinas dar. Seit Jahrhunderten lehren die Mütter die Stickerei ihren Töchtern. Die Arbeit präsentiert also ein Stück palästinensischer Kultur und tut dies ohne direkte politische Aussagen damit zu verknüpfen.

Oft werden Hatoums Werke politisch interpretiert. Wenn sie Soldatenbetten stapelt oder Stacheldraht in den Raum hängt, mag das nahe liegen. Auch manche ihrer frühen Arbeiten weisen in diese Richtung. Etwa „Roadworks“, ausgestellt im Foyer des Kunstmuseums: Das Video dokumentiert eine Performance in Brixton. Dort gab es 1984 gewalttätigen Rassenunruhen und Hatoum lief ein Jahr später barfuss durch jene Strassen und hatte sich Verfolgern gleich Doc Martens mit den Schnürsenkeln an ihre Fesseln gebunden. Diese frühen Arbeiten sind noch immer gültig und von grosser Präsenz. Hinzugekommen ist in den vergangenen Jahrzehnten aber eine stärkere inhaltliche Ambivalenz der Werke und eine perfektionierte formale Durcharbeitung und Inszenierung. Mona Hatoums Werke prägen sich ein.

This Infinite World, Set 10 aus der Sammlung des Fotomuseums Winterthur

Die Sammlung des Fotomuseums Winterthur begann 1913 bei null. Seither ist sie auf 4000 Werke von 400 Künstlerinnen und Künstlern angewachsen. Bedeutsamer als diese Zahlen sind aber die inhaltlichen Grundsätze des Sammelns und die damit initiierte Bilddiskussion.

Das Fotomuseum Winterthur hat sich nicht wenig vorgenommen: Die Sammlung will zum Bild erziehen, das Wirken der Fotografie vermitteln und die Fotografie in einem gesellschaftlichen und medialen Kontext zeigen. Zwei Linien sind dabei bestimmend: der dokumentarische und der konzeptuelle Ansatz. Doch gerade auf diese Unterscheidung verzichtet Paul Graham. Der Fotokünstler hat die zehnte der Set-Ausstellungen kuratiert. Es ist gleichzeitig die zweite Jubiläumsausstellung im Jahr des 20jährigen Bestehens. Dass Graham dafür gewonnen werden konnte, ist ein schönes Detail, wurde das Haus doch mit einer Einzelpräsentation des damals noch kaum bekannten Briten eröffnet. Nun erhielt er „carte blanche“ und wählte 21 Positionen aus für eine sehr persönliche Ausstellung mit starken assoziativen Verknüpfungen. Innerhalb der einzelnen Räume arbeitet er Harmonien heraus und setzt zugleich Kontraste. So etwa zwischen einem Akt bei Diane Arbus und einem Doppelporträt Rineke Dijkstras: Verletzlich wirken die Abgelichteten in beiden Fällen, doch bei Arbus entblösst er sich, während bei Dijkstras Modell die Nacktheit selbstverständlicher Natur ist.

Überhaupt zieht sich der Mensch, oder mit den Worten Grahams, das, was Künstler im „unendlichen Fluss des Lebens sehen“ als roter Strang durch die Ausstellung. Ganz gleich ob die Werke nun als dokumentarisch kategorisiert werden oder nicht – allen ist der künstlerische Blick gemein. Nur dank diesem können der überbordenden Welt fassbare Bruchstücke abgerungen und miteinander verwoben werden. Letzteres passiert im Fotomuseum so, dass sich über Generationen und Kontinente hinweg Entsprechungen und variierende Untertöne ergeben. Das Interieurthema etwa reicht von Richard Billinghams berühmter Serie über seine Eltern über Bieke Depoorters zurückhaltende Wiedergabe der Lebensumstände einer ägyptischen Familie bis zu Jean-Louis Garnells inszenierter Unordnung.

Im zweiten Raum spannt sich die erzählerische Kraft der Aufnahmen von Jacob Holdts Panorama des amerikanischen Alltags in den 1970er Jahren bis zu William Egglestones künstlerisch in Szene gesetzten Beiläufigkeiten oder Bertien van Manens Schnappschussästhetik in Bildern aus Odessa oder Rybinsk. Im letzten Saal ist Daniela Keisers „Frühstücksgasse“ ein Höhepunkt: 140 Fotos des immer selben Kairoer Viertels im Mittagslicht, bei Sonnenuntergang oder nachts schärfen einmal mehr das Bewusstsein für das Geworfensein im Heideggerschen Sinne.

Alex Hanimann in Genf und Zürich

Zwei Galerieausstellungen zeigen Alex Hanimanns spielerischen und anspielungsreichen Umgang mit Wort und Bild. Während bei Bernard Jordan in Zürich neue grossformatige Textarbeiten zu sehen sind, präsentiert Skopia Art Contemporain in Genf eine Werkgruppe mit aktuellen Rasterbildern.

Sprache ist sowohl semantisches als auch phonetisches Werkzeug. Sie besitzt rhythmische und strukturelle Qualitäten. Sie erlaubt es, komplexe Dinge zu veranschaulichen oder simpelste Sachverhalte in die Welt hinauszurufen, so etwa in Gestalt der ausdrucksstarken „Four-letter words“. Alex Hanimanns Textarbeiten vereinen all diese Aspekte der Sprache. Der Künstler spielt mit Bedeutungen, schält Typisches und Prototypisches heraus, zeigt Ähnlichkeiten und Verschiebungen.

Jede Textarbeit ist das Bild des inhaltlichen Potentials der Sprache, aber auch die Summe visueller Zeichen. Hanimann setzt die grossformatigen Blätter mit markanten Formulierungen wie „I Love Hate You Me“ aus Papieren mit Einzelbuchstaben zusammen. Sowohl die Teile, als auch das Ganze sind das Ergebnis eines präzisen, konzentrierten Gestaltungsprozesses mit klassischen Lettern. Aber was sagen die Kurztexte aus? Gerade durch die kalkulierte Setzung der Wörter lassen sie sich auf verschiedene Weise verstehen – es kommt ganz darauf an, welcher Weg durch das Blatt gewählt wird. Hanimann entwickelt im Entwurfsprozess eine Typographie, welche es erlaubt, die Folgen von Pronomen und Verben in mehr als eine Richtung zu lesen. In der daraus resultierenden Mehrdeutigkeit der Inhalte sind die Textarbeiten verwandt mit seinen Zeichnungszyklen. Zudem sind beide das Konzentrat seines enzyklopädischen Interesses an Sprache oder allgemeiner: an Kommunikation. Diese kann schliesslich auch in bildlicher Form stattfinden, zum Beispiel im publizistischen Kontext: Seit langem sammelt Alex Hanimann in Zeitungen oder Magazinen veröffentlichte Bilder. Er begibt sich auf die Spur formaler oder inhaltlicher Verwandtschaften und knüpft überraschende, aber nichtsdestoweniger schlüssige Bande. Er spielt mit Themen und Motiven und selbst noch mit der künstlerischen Umsetzung, denn die gedruckten Bilder werden digitalisiert und vom Druckraster befreit. Anschliessend werden sie neu gerastert in grossformatige Tuschezeichnungen übertragen. Die manuelle Umsetzung und der Verzicht auf Farbe unterstützen wiederum den Charakter der historischen Aufnahmen, zugleich verleihen sie den Bildern eine neue Energie, da der malerische Prozess mit kleinen Fehlern und Unregelmässigkeiten einher geht. Hanimann pendelt zwischen Wort und Bild, zwischen Typo und Text, zwischen Druck und Malerei. Er ist der Spielmacher, der die Bälle verteilt, auf das am Ende die Strategie aufgeht.

Buchstadt bleibt Buchstadt

An diesem Wochenende treffen sich international bekannte Buch- und Schriftgestalter an der Schule für Gestaltung St.Gallen. Zum zweiten Mal findet dort das Typografie-Symposium Tÿpo statt, diesmal unter dem Motto „Weissraum“.

Eine Buchseite – weisses Papier und schwarz gedruckter Text. Leere und Buchstaben. Nichts und Etwas. Aber auch das Nichts ist Etwas, und es hat sogar einen Namen: Weissraum nennen die Typographen jenen Raum, der die Buchstaben umschliesst. Er ist viel mehr als unbedruckte Fläche. Er ist der Gegenpart der Buchstaben, formt sie und lässt den Text erst lesbar werden. Ist der Weissraum, also der Zwischenraum der Buchstaben und der Umraum des Textes bewusst und gut gestaltet, hilft dies der Konzentration und dem Lesefluss. Aber der Weissraum kostet Geld, denn Druck und Papier sind teuer. Also wird der Weissraum allzu gern reduziert. Zum Glück nicht in allen Druckzeugnissen. Denn es gibt sie nach wie vor, die gut gesetzten Bücher. Und es gibt die engagieren Gestalter und Gestalterinnen. An diesem Wochenende treffen sie sich in St.Gallen an der Tÿpo.

Es ist die zweite Ausgabe des dreitägigen Typografie-Symposiums. Es findet wie schon vor zwei Jahren an der Schule für Gestaltung statt. Ein guter Ort für so eine hochkarätig besetzte Tagung. Der St.Galler Typograph und Gestalter Roland Stieger, Programmleiter des Symposiums, gerät ins Schwärmen, wenn er über die Schule und ihre Schüler spricht. Und darüber, wie es die Tÿpo bereits geschafft hat Schulen zu vernetzen. So ist St.Gallen in engem Kontakt mit der Schule für Gestaltung der FH Nordwestschweiz in Basel. Die Schüler dort haben eigens Druckerzeugnisse zum Thema Weissraum entworfen. Aber auch die internationale Vernetzung funktioniert: Die angereisten Koryphäen kommen aus Österreich, Tschechien, den Niederlanden, Deutschland, den USA und natürlich der Schweiz. Sie referieren über Ideen und Konzepte, über Historisches und Kunsthistorisches, über den Unterschied lateinischer zu asiatischen Schriften, über den Weissraum im Bild oder laden zum Typospaziergang durch St.Gallen. Aber vor allem gestalten sie Bücher, die in die heutige Zeit passen und trotzdem in bester Form Buch bleiben. Inhalt und Form finden hier zu einer Einheit. Das trifft auch auf Jost Hochulis Bücher zu.

Der St.Galler Grafiker und Buchgestalter präsentiert an der Tÿpo aber nicht nur seine jüngsten Druckwerke. Er hat eigens für die Veranstaltung auch eine Ausstellung eingerichtet: Eine Woche lang sind im Foyer der GBS „Einige von Hand geschriebene Briefe“ zu sehen. Denn auch Schreiben ist Gestalten, ist Formen mit dem Körper. Der Brite Alfred Fairbank entwickelte in den 1920er Jahren eine „lesbare, mühelos zu schreibende und formal erfreuliche Handschrift“ wie es in Jost Hochulis Broschüre zur Ausstellung heisst. Die Briefe sind aus Hochulis Fundus und wie könnte es anders sein: Sie bilden zugleich den Schriftverkehr weltberühmter Gestalter ab. Ein solcher Fokus innerhalb der Tÿpo mag anachronistisch wirken, aber das Symposium ist es ganz und gar nicht. Samuel Bänziger, Rosario Florio, Larissa Kasper aus St.Gallen beispielsweise stehen für ein junges Büro, das sich in Buch- und Onlinewelten gleichermassen souverän bewegt. Ohnehin ist gute Gestaltung mehr als ein Handwerk, es ist Ausdruck einer Lebenshaltung. Profitieren davon kann jeder, denn Schriftgestaltung fängt bei der Zahnpastatube an und hört bei der Weinflasche nicht auf.

Und das E-Book? Es wird an der Veranstaltung nicht eigens thematisiert, aber längst reagieren Verlage auf das Bedürfnis nach gestalteten Texten und dem sinnlichen Erlebnis beim Lesen. Haptik, Optik, ja sogar der Geruch der Druckerfarbe und des Papiers lassen sich eben nicht so leicht digitalisieren. Die Buchstadt St.Gallen muss also nicht so bald in E-Bookstadt umbenannt werden.

Steine, Schweine und vieles mehr

Kennengelernt haben sie sich an der Kunstakademie in Amsterdam. Jetzt waren die Kunstschaffenden der Gruppe Palatti für ein Jahr im Birli zu Gast und zeigen die Ergebnisse ihrer Arbeit an der letzten Station der Ledi-Wanderbühne in Oberegg.

Zwei Schweine im Schopf? Nicht ganz. Aber Vleckie und Speckie gehören dazu, zur Ledi in Oberegg, aber sie dürfen im Gehege bleiben. Paul Steenberghe hat die beiden Ferkel ins Spiel gebracht, oder genauer gesagt zum Lotteriegewinn erkoren. Auf drei Ledi-Stationen wurden die Tiere schon versteigert und ein viertes und letztes Mal kommen sie in Oberegg unter den Hammer. So wird es bald acht neue Schweinebesitzer geben, die sich darauf verständigen müssen, was mit den Tieren passiert.

Ins Gespräch kommen, Kontakte pflegen und sich einigen – solche Prozesse sind den Künstlerinnen und Künstlern der Gruppe Palatti wichtig. Paul Steenberghe aus den Niederlanden ist einer von ihnen. Ein Jahr lang haben Palatti-Mitglieder im Atelierhaus der Schlesinger-Stiftung im Birli in Wald gelebt, gearbeitet, den Kontakt zu ihren Nachbarn gesucht und daraus erste künstlerische Konzepte entwickelt. So mündeten die alltäglichen Begegnungen für die japanische Künstlerin Mako Ishizuka beispielsweise in immer weitere Erkundungsgänge durch die Umgebung. Der Argentinier Nicolas Novali hingegen begründete eine eigene Zuchtstation für Appenzeller Spitzhauben. Die Niederländerin Betty Ras begab sich auf die Spur der Steine. Und Aurelio Kopainig aus Gais, jetzt in Zürich, legte einen Appenzeller Bauerngarten in Sternform an. Im Schopf unter der Ledi-Wanderbühne ist nun all das zu sehen.

Die gemeinsame Ausstellung ist einerseits selbst Kunstprojekt, andererseits dokumentiert sie die individuellen Auseinandersetzungen mit der Appenzeller Landschaft, den Bräuchen und Eigenheiten: Alle der acht Künstlerinnen und Künstler haben sich offen und neugierig der Gegend und ihren Menschen genähert. In den entstandenen Arbeiten zeigt sich ihr Gespür für die kleinen Dinge ebenso wie für die grossen. Ein Bauerngarten etwa mag auf den ersten Blick nichts Besonderes sein. Wenn er jedoch von einem jungen Künstler auf einem Stück Rasen reaktiviert wird, sensibilisiert er dafür, die eigene Umgebung wieder bewusst und ökologisch zu gestalten. Aber wie nun wandert der Bauerngarten in den Schopf?

Mirya Gerardu aus Bremen hat die Schopfausstellung gemeinsam mit Aurelio Kopainig konzipiert und ein Archiv entworfen. Auf langen Gestellen sind Objekte, Fotografien, Artefakte und Fundstücke zu sehen. Der Stall der Spitzhaubenhühner ist da ebenso zu sehen wie die Herbarien Ishizukas, die vielen Diaaufnahmen ephemerer Situationen Kopainings oder die zerbrochenen und wieder zusammengefügten Steine Ras´. Einen Film zeigt der Taiwanese Musquiqui Chihying. Er hat einen Schläfer samt Bett auf Reisen geschickt, der den perfekten, sichersten Ort für seine Nachtruhe sucht. Gefunden hat er ihn in einem Zivilschutzkeller. Die Argentinierin Julia Mensch hingegen hat sich schon länger mit hiesigen Traditionen beschäftigt und Appenzellerinnen zu Kaffee und Kuchen auf die Wanderbühne eingeladen. Gemeinsam wurde und wird über das Appenzeller Frauenstimmrecht gesprochen. Nicole Schmid schliesslich ist zu Gast im Palatti-Schopf. Sie gehört nicht zur Künstlergruppe, zeigt aber als gebürtige Obereggerin ihren besonderen Blick auf die Viehschauen – passend zur Saison.

Die sensiblen Annäherungen des Künstlerinnen und Künstlern an Land und Leute, an Fest- und Alltag sind ein stimmiger Abschluss der Ledi-Rundreise: Als Aussenstehenden gelingt es dem Palatti-Team Übersehenes und Allbekanntes neu ins Blickfeld zu rücken.

Meier: Musiker, Magier, Poet

Das Aargauer Kunsthaus präsentiert mit „Dieter Meier. In Conversation“ das Werk des Schweizer Multitalentes. International bekannt wurde Meier mit dem Popduo Yello, aber auch seine Kunst hat es in sich.

Die Ausgangssituation ist einfach: ein kleiner Verkaufstresen, ein überschaubares Warenangebot, ein Verkäufer – dennoch ist alles anders als sonst und komplizierter. Das Geld ist die Ware, der Verkäufer ist Kunde, die Währung sind Wörter oder besser Antworten: Als sich Dieter Meier im Februar des Jahres 1971 hinter eben jenen Tresen stellt, kauft er den Vorübergehenden ein „Ja“ oder ein „Nein“ ab. Das, obwohl es keine Frage gibt. Und wer sich zur Antwort entscheidet, hat in jedem Falle bereits „Ja“ gesagt. Hat sich entschieden mitzumachen und mit einem Dollar entlohnt zu werden. Spielt die Aktion auf den Kauf von Wählerstimmen an? Oder darauf, dass viele nicht genau wissen, wofür sie ihre Stimme abgeben? Ironisiert sie die Bürokratie, da jeder Kauf zertifiziert wird? Ist es provokant, mehrere Hundert Dollar einfach so für Jas und Neins auszugeben?

Dieter Meiers Aktionen und Performances der frühen 1970er Jahre sind ebenso überschaubar wie hintersinnig, ebenso unerwartet wie wirksam. Der 1945 in Zürich geborene Künstler, Filmemacher, Musiker, Poet hat sich mit rudimentären Versuchsanordnungen immer wieder in den öffentlichen Raum begeben und sich unkalkulierbaren Reaktionen ausgesetzt. Mal kam die Polizei, mal wurde er Schulthema, Reporter berichteten mal sachlich, mal sichtlich irritiert.

Ob Meier an einer Vernissage mit Pistole auftritt und per Schild versichert, dass er nicht schiessen werde, ob er fünf Tage lang vor dem Zürcher Kunsthaus Schrauben in Plastiksäckchen abzählt oder auf dem Bellevueplatz für eine Stunde lang immer dieselben 20 Meter beschreitet – auch über 40 Jahre später noch wirken seine künstlerischen Gesten. Doch wie lassen sie sich ausstellen? Da Meier sich nicht um die kommerzielle Vermarktung seiner Kunstaktionen gekümmert hat, gibt es keine Editionen davon, keine kunstmarkttauglich zerstückelten Überbleibsel.

Madeleine Schuppli hat für die erste grosse Überblicksschau Meiers in der Schweiz die Archive des Künstlers und der Medien durchforstet und Einiges zusammentragen können. Ausgestellt sind im Aargauer Kunsthaus aber nicht nur originales Pressematerial, Fernsehreportagen oder übrig gebliebene Blankozertifikate. Die Konzeptbeschreibungen, zumeist handkorrigierte Schreibmaschinentexte, und Schwarzweissfotografien wurden mit all den aufbewahrungsbedingten Knittern auf Posterformat vergrössert und auf die Wände tapeziert. Damit erhalten sie eine neue Unmittelbarkeit: Präsenz statt trockenem Rückblick.

Die Ausstellung ist chronologisch konzipiert und beginnt schon im Foyer des Kunsthauses mit dem Fries „Begehbare Zeit“. Dieter Meier hatte dafür eine Wanduhr in einen Passbildautomaten gehängt und zwölf Stunden lang alle 30 Sekunden automatisch fotografieren lassen. Diese Aufmerksamkeit fürs Minimale zieht kontinuierlich durch sein Werk. So sind in Aarau beispielsweise die Serien „29 Bilder in 5 Minuten“ oder „20 Bilder“ zu sehen. In der einen richtet er die Fotokamera auf eine Sitzbank und die darauf Pausierenden; in der anderen auf unspektakuläre Stadtlandschaften, und zwar 20 Jahre bevor Fischli und Weiss „Siedlungen, Agglomeration“ fotografierten. Aber Meier setzt sich auch selbst immer wieder in Szene, etwa als durchschaubaren, aber nicht minder einnehmenden Magier oder mit spielerischen Luftsprüngen.

Noch rasanter wird es in den Videoclips des Elektropopduos Yello. Weltbekannt wurde Dieter Meier mit dieser Formation. Für viele der Kurzfilme stellte er die bunten, mitunter bizarren Kulissen selber her. Im Kontext seiner übrigen Arbeiten zeigt sich nun wie kunstnah sie eigentlich sind mit all ihren malerischen, installativen und skulpturalen Einsprengseln. Nun laufen sie endlich einmal nicht auf dem Fernseher, sondern auf der Kinoleinwand.

Auch wenn das ausgestellte aktuelle Werk des Künstlers nicht mehr an die Originalität des frühen anzuknüpfen vermag, insgesamt lohnt sich die Schau. Oder wie es eine Tageszeitung 1970 zur Performance „Gehen“ schrieb: „Wundere Dich nicht, wandere“ – oder nimm den Zug nach Aarau.

Ein Wald voller Kinder

„Ich spiele lieber drinnen, denn da gibt es Steckdosen.“ Du auch? Oder bist du gern draussen? Kletterst auf Bäume, spielst in Wald und Wiese? Die Waldkinder spielen nicht nur im Freien, sie lernen dort auch.

Eine Stunde dauert 45 Minuten. Oder 90 Minuten, wenn es eine Doppelstunde ist. Dann ertönt der Pausengong oder die Schulklingel. Nun stell dir vor, du lernst ohne Pausenzeichen, aber nicht ohne Pause. Einfach so lange, wie du fürs Lernen brauchst und begleitet von Vogelgezwitscher. Stell dir vor, du hast keinen immer gleichen, festen Platz im Klassenzimmer, sondern kannst dich an deinen Lieblingsort zurückziehen. Oder du triffst dich mit Freundinnen und Freunden am Spechtplatz, am Moosmenschenplatz oder im Hasenwäldli. Was mehr nach Freizeit klingt als nach Lernen, ist trotzdem Schule, Waldschule eben. Im Notkersegg St.Gallen lernen die Kinder der Waldbasisstufe, und sie spielen. Meist funktioniert beides gleichzeitig. Denn im Wald gibt es immer viel von beidem zu tun, da wird gegraben und gebaut, da wird gemessen und gerechnet, gemalt und geschrieben. Zum Beispiel wenn für den selbst konstruierten Baumausguck eine Strickleiter gebraucht wird: Zwei Seile sind da, sechs Äste sind gefunden und zu Sprossen gesägt. Aber in welchen Abständen werden die Hölzer am besten ins Seil geknüpft, damit sie gleichmässig verteilt sind? Da wird gerechnet.

Im Wald ergeben sich die Aufgaben oft von selbst. Wieviel Zeit für ihre Lösung benötigt wird, bestimmt nicht das Pausenzeichen, das bestimmen die Kinder. Es geht schliesslich nicht nur um die Lösung, sondern darum, Spass an der Sache zu haben. Wenn ausgemessen wurde, ob die Gunten tief genug sind zum Reinspringen, wird auch ausgiebig getestet, ob das Ergebnis stimmt.

Oder zum Beispiel im Winter: Eine Schlittelbahn ist ein guter Grund zum Rechnen. Wie sonst lässt sich die Geschwindigkeit bestimmen? Also wird die Bahn präpariert und ausgemessen. Die Zeiten werden gestoppt und anschliessend wird gerechnet – und wieder geschlittelt.

Nicht nur Rechnen, auch Schreiben und Lesen lässt sich aus dem Tun heraus üben: Wenn ein Schnee- und Glacestand aufgebaut wird, dann werden Tafeln für alle Sorten geschrieben, und natürlich die Preisschilder. Es werden Brieffreundschaften geschlossen und Erlebnisberichte geschrieben.

Schreiben? Im Winter? In Regen und Matsch? Wenn die Finger zu klamm sind, dann haben die Waldkinder den geheizten Bauwagen. Aber draussen sind sie viel lieber. Auch bei Regen und Gewitter. Da lassen sich dann die nächsten Dinge lernen. Schliesslich hilft es nicht nur weiter, wenn jemand Rechnen und Schreiben kann. Wichtig ist es auch zu wissen, was du am besten tust, wenn es blitzt und donnert. Auf einen Baum klettern und abwarten? Mit dem Velo heimsausen? Besser nicht.

Die Waldkinder lernen in der Waldbasisstufe all das und noch viel mehr. Vieles davon ist weit von der Schulhauswelt entfernt, aber nicht vom Leben. Nur im Wald wird das Essen auf dem Feuer gekocht. Nur hier kann direkt daneben eine Matschsuppe angerührt und der eigene Suppenlöffel geschnitzt werden. Hier lässt sich der Duft des Fuchses vor seinem Bau erschnuppern. Im Winterwald folgen die Kinder der Spur des Eichhörnlis. Im Frühling gibt es den Vogelmorgen, dann lauscht, wer will, dem frühen Vogelkonzert. Im Sommer wird der Bach gestaut. Im Herbst gibt es Laubhaufen, in denen alle bis zum Hals versinken. Auch wer später nicht unbedingt Architekt, Tierforscher oder Schreiner werden will, im Wald ist‘s allemal spannend.

Ostschweiz am Sonntag, Kinderseite