Ulrike Kristin Schmidt

Gesammelte Texte

Dauer und Augenblick – Werke von Teresa Peverelli, Kultur im Bahnhof

Wer ein Bild von sich haben möchte oder braucht, eines, das den Blick in den Spiegel überdauert, der lässt sich fotografieren. Die Fotografie ist schnell, genau und lässt sich im digitalen Zeitalter sogar noch mühelos überarbeiten. Warum also ein gemaltes Porträt? Das gemalte Bildnis hat eine lange Tradition. Einerseits war es vor der Erfindung der Fotografie das einzige Medium, in dem das Antlitz der Porträtierten in einem einigermassen handlichen Format festgehalten und also dem Vergessen und Verschwinden entrissen werden konnte. Andererseits diente und dient das Bildnis der Repräsentation – so lassen sich Staatsoberhäupter noch immer in Ölmalerei porträtieren. Ein Ölgemälde vermittelt Wertigkeit, Beständigkeit, Legitimität.

Das Wissen um die Tradition und die Bedeutung des gemalten Bildnisses schwingt auch in Teresa Peverellis aktuellen Gemälden mit, und doch ist vieles in ihnen anders.

DIE POSE

Da sitzt ein junges Mädchen auf dem Sofa. In einem luftigen Sommerkleidchen, die Arme im Schoss. Ganz wohl scheint sie sich in der Situation nicht zu fühlen. Sie wirkt etwas befangen, auch der Gesichtsausdruck ist unentschieden, könnte sowohl in ein Lächeln übergehen als auch in einen abweisenden Blick. Teresa Peverelli hat das Porträt eines Kindes in seinem Zuhause gemalt, in einer lebenstypischen Situation und spart auch die Verzagtheit nicht aus. Einige Jahrhunderte zuvor wäre gerade dies undenkbar gewesen: Die Porträts junger Herrscherinnen und Herrscher im gleichen Alter waren ganz auf Repräsentation ausgerichtet oder dazu gedacht mit Boten zu möglichen Heiratskandidatinnen und -kandidaten geschickt zu werden. Da hatten Gefühle und Zwischentöne wenig Platz und konnten nur bei den ganz grossen Meistern subtil ins Bild gelegt werden.

Mit feinem Gespür arbeitet Teresa Peverelli jene Unsicherheit heraus, die den Abschied von der Kindheit und den Aufbruch ins Erwachsenenleben begleitet. Wie anders wirkt da die nur wenige Jahre jüngere Schwester des Mädchens. Sie sitzt neben ihrem Vater auf dem Sofa und blickt offen und vorbehaltlos in die Welt. Der Unterschied zwischen beiden Kindern ist klein und doch riesengross. Noch anders fühlt sich die Welt für die jüngste der drei Schwestern an: Hier ist die Pose gar keine, sondern das Bild eines intimen Momentes zwischen zwei einander sehr nahestehenden Menschen. Impulsiv schmiegt sich das kleine Kind an seine Mutter. Es ist eine innige Zweierbeziehung, die kein Publikum braucht. Selbst das Fernsehprogramm im Hintergrund bleibt unbeachtet.

Edina und Anna hingegen blicken ihr Gegenüber an. Eindeutig haben die beiden jungen Frauen ihre Position mit dem Wissen um das spätere Bild eingenommen. Trotzdem wird auch hier eine starke Verbindung zwischen den beiden Freundinnen spürbar. Es sind die Gesten, die Mimik, die Blicke, die beredt und deutlich sind. Und es ist wiederum das Gespür der Künstlerin, diese im entscheidenden Moment festzuhalten und auszuwählen für das Bild.

Teresa Peverelli ist eine gute Beobachterin. So entging ihr auch nicht die unermessliche Traurigkeit ihrer Künstlerkollegin Ghislaine Ayer. Obgleich die junge Künstlerin bereits mit dem ersten Porträt einverstanden war, malte Teresa Peverelli noch eines, aber auch diesmal schreibt sich die Persönlichkeit der mit dem Leben hadernden jungen Frau im Bild fort. Es ist ihr Blick, aber auch ihre Haltung, die Kummer, Verzweiflung ausdrückt.

DIE FARBIGKEIT

Die Gemälde Teresa Peverellis sind miteinander verwandt in ihrer leicht violett getönten Farbigkeit. Grüntöne sind die Ausnahme und wirken wie bei jener Pflanze hinter dem Kopf des Porträtierten irritierend. Rottöne, Blau, das Inkarnat, weissliche Töne – alles trägt Violett in sich. Die Wurzeln dafür liegen in einer früheren Schaffensphase Peverellis. 2005 entdeckte die Künstlerin während eines Arbeitsaufenthaltes in Ungarn auf einem Flohmarkt Schachteln mit alten Fotografien. Sie stammten aus der Zeit der beginnenden Farbfotografie. Ausser Magenta waren alle Farben verblichen oder gar nicht mehr vorhanden, für die Künstlerin eine „grosse Farbattraktion“. Der Farbton verlieh den Fotografien etwas Fremdartiges, er schuf eine Distanz zwischen Motiv und Realität. Diese merkwürdige Fremdheit faszinierte Teresa Peverelli und sie malte die Fotografien ab, in genau jenen, ihnen gebliebenen Farbtönen, so dass die Distanz zwischen den fotografierten Personen, Szenen und Dingen und ihrem Abbild gewahrt blieb. Diesen Abstand hält die Künstlerin auch heute noch ein. Ihre Gemälde sind nicht fotorealistisch, sondern wahren bewusst einen Abstand.

DIE AUFNAHME

Abstand zu ihren Modellen nimmt die Künstlerin auch durch die Verschränkung der Techniken ein: Teresa Peverelli fotografiert ihre Modelle. Die Fotografie schafft eine erste Distanz. Die Fotografie abstrahiert, sie hält die Menschen in einem Lebensmoment fest, verleiht diesem Moment aber Dauer. So wirken fotografierte Posen weniger erstarrt – im Kontrast zu den nötigen Porträtsitzungen bei einem direkt vor dem Modell gemalten Bildnis.

Die Menschen verlassen das Atelier wieder, die Fotografien bleiben. Oder die Künstlerin verlässt selbst die Wohnungen ihrer Modelle und kehrt ins Atelier zurück. Teresa Peverelli kann nun ihr Arbeitstempo selbst bestimmen und sie kann sich in Abwesenheit der Modelle umso besser auf sie einlassen. Dabei geht all das, was die Künstlerin bei den Treffen mit ihren Modellen erlebt und wahrgenommen hat, bewusst oder unbewusst ins Gemälde ein. Der ganze Raum, das Ambiente, die Stimmungen und Schwingungen nimmt Peverelli ins Bild auf. Eine jede Situation ist für sich besonders und malenswert. Selbst das durchschnittliche Mobiliar erfährt die Aufmerksamkeit der Künstlerin und damit eine Wertschätzung. Auch in der Wahl der Modelle ist Peverelli äusserst achtsam: Die Künstlerin sucht sich ihre Gegenüber. Es sind nicht die Menschen, die auf sie zukommen mit einem Porträtwunsch, sondern es ist die Künstlerin, die entscheidet, wen sie malen möchte. Es können Freunde, Künstlerkollegin, aber auch Zufallsbekanntschaften sein, die sie interessieren, ja, die sie eigens anspricht und bittet, ins Atelier zu kommen und sich aufnehmen zu lassen, oder die sie daheim besucht. Doch die Porträtierten müssen nicht immer reale Personen sein.

Teresa Peverelli fotografiert immer wieder auch vom Bildschirm ab. Sie nimmt Darsteller in Spielfilmen auf oder auch Personen aus Dokumentarserien. Auf der Basis dieser Aufnahmen entstehen die kleinformatigeren Gemälde. Die Malweise ist hier dynamischer, flüchtiger, ganz dem ursprünglichen Medium entsprechend. Dennoch sind auch diese Bilder getragen von der Aufmerksamkeit der Künstlerin. Indem Peverelli diese Menschen auswählt, sie vom Fernsehbildschirm löst und malt, gibt sie ihnen jene Präsenz zurück, die sie auf dem Bildschirm nicht entfalten können. Es ist die Sinnlichkeit des Denkens und Malens, die in allen Bildern wirkt und sich in den Porträts entfaltet.

Ausstellungstext

Ende in Sicht – leider

Die Künstlerin Judith Albert widmet sich den Horizonten. Ihre Ausstellung ist die vorvorletzte im Schaukasten Herisau.

Der Horizont ist kein Faktum, sondern eine virtuelle Schwelle. Als Horizontlinie begrenzt sie unsere Sicht und öffnet sie zu gleich: Spätestens, seit die Erde nicht mehr als Scheibe gilt, sehen wir den Horizont im Bewusstsein, dass es dahinter weitergeht. Auch wenn nicht immer klar ist wie und wohin, aber gerade darin liegt eine Faszination dieser Linie. So auch bei Judith Albert.

Die 1969 in Sarnen geborene Künstlerin stellt ihren Auftritt im Schaukasten Herisau unter das Motto „Hinter dem Horizont“ und zeigt mit der Einladungskarte wie weit gefasst das Motiv sein kann. Zwei Hände spannen ein dickes, blaues Band und halten es so ins Licht, dass es einen Schatten wirft, dieser aber verdeckt wird: Der Horizont als anthropologisches Konstrukt. Mit der Fotografie im Schaukasten geht Albert noch einen Schritt weiter. Vor einer weissen Leinwand steht die Künstlern und umschliesst mit ihren Armen eine weisse Tafel. Die Arme bilden einen Horizont, eine Landschaft. Beide Hände berühren einander mit den Fingerspitzen. Die weisse Fläche zwischen Körper und Armen ist die Projektionsfläche für all das, was wir gedanklich hinter dem Horizont ansiedeln.

Albert eröffnet mit einer kleinen Geste einen grossen Raum, ganz so, wie der Schaukasten an der Post in Herisau. Hier ist seit 2006 viermal im Jahr gute Kunst zu sehen. Einheimische und Ausgeschwärmte, Junge und Etablierte – alle eingeladenen Künstlerinnen und Künstler haben eigens für den Schaukasten eine Arbeit entwickelt und umgesetzt. Skulpturen waren dabei und Zeichnungen, Gebackenes und Geschreinertes, Bücher und Bilder, es wuchs und leuchtete, wucherte und tönte – das ganze Spektrum der Kunst in ein paar Kubikdezimetern. Nun ist bald Schluss damit. Die aktuelle Ausstellung ist die dreissigste, zwei wird es noch geben und dann sprengt Roman Signer den Schaukasten, oder auch nicht, aber er bespielt ihn im Mai für die letzte Ausstellung.

Die Kunst geht Vera Marke, Paul Knill, Matthias Kuhn und Katharina Stoll-Cavelti damit zwar nicht aus, aber das Schaukastenteam will keine Ewigkeitsansprüche behaupten. Als einziger Raum für Wechselausstellungen zeitgenössischer Kunst in Ausserrhoden war der Kasten schon zu einer kleinen Institution geworden. Aber genau das war nicht das Ziel der Initiative, vielmehr wurde ein neues Format erprobt und bewiesen, dass es kulturelles Engagement auch an ganz ungewohnten Orten möglich ist. Und so besteht die Hoffnung, dass der Faden von Anderen wieder aufgenommen wird, denn: Hinter dem Horizont geht’s weiter.

Holzzeug im Zeughaus

Das temporäre Holzvordach des Zeughaus Teufen deutet es an: Hermann Blumer ist „Leidenschaftlich auf dem Holzweg“, so das Motto der aktuellen Ausstellung.

Lebte Hans Ulrich Grubenmann heutzutage, er wäre ein Holzbauingenieur – so wie Hermann Blumer. Ein Holzbauingenieur, der Bauten nicht nur realisiert, sondern entwickelt, plant und konzipiert. Die Parallelen zwischen dem Barockbaumeister und dem Waldstätter Bauingenieur liegen auf der Hand. In einer Ausstellung im Zeughaus Teufen lässt sich ihnen nun in allernächster Nähe zueinander nachspüren.

Grubenmann war im achtzehnten Jahrhundert auf der Jagd nach Rekorden; die grösste Spannbreite war ihm nie weit genug. Heutzutage ist es Hermann Blumer, dem keine Herausforderung beim Bauen mit Holz zu gross ist. Im Gegenteil: Der Erfinder und Unternehmer hatte und hat stets eine Lösung parat, selbst wenn das Problem noch nicht einmal benannt war. „Ich habe eine Idee, und die ist verblüffend und sicher“ – dieser unerschütterliche Glaube an die eigenen Fähigkeiten, aber auch an die Potentiale des Werkstoffes Holz treibt den inzwischen Siebzigjährigen seit Jahrzehnten an. Und so stehen die erstaunlichsten Gebäude auf seiner Werkliste.

Etwa die Überdachung der Bäderlandschaft des Säntisparks; oder das sich drehende Solarhaus Heliotrop, der vielbeachtete Palais de l´Equilibre an der Expo.02 in Neuenburg. Im Zeughaus Teufen werden diese und andere Bauten mit Plänen, Skizzen, Modellen und Fotografien vorgestellt. Die Fotografien verdienen dabei besonderes Augenmerk, sind es doch mehr als blosse Dokumentationsbilder. Von renommierten Fotografen aufgenommen, fangen sie jene besondere Stimmung ein, die nur beim Bauen mit Holz entsteht, die Atmosphäre, die nur von diesem natürlichen und vielseitigen Material ausgeht.

Katalin Déer hat zum Beispiel einen im Lignatur-Patent überdachten Stall fotografiert. In diesen Bildern zeigt sich deutlich, dass dieser Stall eben nicht einfach ein Stall ist. Die neuartige Balkentechnik ermöglicht einen lichten, geradlinigen Raum, der nicht modernistisch ist, sondern traditionelles Bauen aufs Beste in die Gegenwart weiterdenkt.

Hermann Blumer war freilich nicht immer so erfolgreich wie in der Erfindung der Lignatur oder des Blumer-System-Binders , der Spannweite von bis zu 100 Metern überbrücken liess. Sein grosser Enthusiasmus liess ihn auch scheitern. So ist in der Ausstellung etwa der Einsturz der Olympischen Ringe in Barcelona dokumentiert. Gut, dass die Ausstellung das Scheitern nicht ausspart. Denn nur so ist das Bild des grossen Holzbauingenieures vollständig, nur so lässt sich das Wirken eines Menschen vermitteln, der nicht aufgibt, sondern dann erst recht weiterarbeitet und -entwickelt.

Die Ausstellung verbindet das Leben und das Wirken Blumers. Alles verschränkt sich miteinander und bleibt doch auch immer für sich selbst lesbar. Das liegt nicht zuletzt an der logischen Gliederung: Dokumentaraufnahmen, private Fotografien und Pläne folgen aufeinander bezogenen horizontalen Linien. Sie lassen sich gleich einer Zeitleiste lesen. Auch die Projekte sind chronologisch angeordnet und manches ist ganz von der Ästhetik längst vergangener Dekaden durchdrungen. Immer wieder lohnen sich Quer- und Seitenblicke, um die zeittypische Gestalt der Bauten zu vergleichen, und dann auf den Hauptweg, den „Holzweg“ zurückzukommen. Dieses Motto der Ausstellung visualisiert sich in einem mittig präsentierten Strang aus Materialinseln. Hier liegen Holzmuster, historische Objekte, Konstruktions- und Ornamentbeispiele und immer wieder kleine Kunstobjekte aus Holzimitat. Gabriela Brühwiler, Pascal Lampert, Ursula Palla und Stefan Rohner werfen damit kritische Blicke auf den Umgang mit dem Werkstoff Holz. Der junge Herisauer Künstler Fridolin Schoch hingegen führt die Ausstellung und ihre Besucher mit einer kühnen, hölzernen Raumzeichnung in die Grubenmannsammlung ins oberste Stockwerk. Grubenmann und Blumer – im Zeughaus Teufen kommen die zwei auf schlüssige Weise zusammen.

Kunst auf 10 mal 15 Zentimetern

Kunst kostet Geld. Oder 30 Franken. Beim jährlichen Kunsthalt im Bahnwartehaus Strahlholz gibt’s viel Kunst für wenig Bares.

Die Formate sind klein: Gezeigt wird, was Postkartengrösse hat. Aber auf einem DIN A 6 Format findet bekanntlich die ganze Welt Platz. Doch für einmal stehen nicht Sonnenuntergänge oder exotische Strände im Mittelpunkt, sondern all das, was Künstlerinnen und Künstler auf 10 mal 15 Zentimetern unterbringen.

Zum fünfzehnten Mal haben Birgit Widmer, Hans Schweizer und Harlis Hadjidj Schweizer Künstlerinnen und Künstler aus aller Welt eingeladen, Postkarten zu gestalten für den Verkauf an der Bahnstation Strahlholz.

Ausser dem Format gibt es wenig Vorgaben: Alles wird für 30 Franken verkauft, fünf Werke dürfen eingereicht werden. Aber das ist bereits viel bei 40 Teilnehmenden, wenn nur wenige Quadratmeter Wand zur Verfügung stehen. Und so hängen sie dicht gedrängt: Zeichnungen, Collagen, Holzschnitte, Fotografiertes, Gemaltes und Geschriebenes. Und wie in jedem Jahr gibt es Postkarten, die das herkömmliche Format sprengen. Eine Audio-Postkarte beispielsweise oder die kleinen Holzskulpturen von Birgit Widmer. Der Ausserrhoderin und ihrem Atelieraufenthalt in Finnland ist es ausserdem zu verdanken, dass in diesem Jahr drei Finnische Kunstschaffende dabei sind, etwa eine Bronzebildhauerin, die für einmal merkwürdige Mann-Tier-Wesen gemalt hat. Sie gehört mit ihren siebzig Jahren zu den älteren Ausstellenden. Mit dabei sind aber auch die ganz Jungen: Hans Schweizer hat sie im St.Galler Jugendkulturraum Flon an der jährlichen Ausstellung „Junge Kunst“ entdeckt. Während sie ganz am Anfang ihrer kreativen Karriere stehen, sind die Studentinnen und Studentinnen der Hochschulen in Basel, Düsseldorf, Zürich und neu Luzern bereits einen grossen Schritt weiter. Daneben ist auch das Ostschweizer Kunstnetzwerk stark vertreten. Es gibt so manches Wiedersehen, auch in Persona, denn den jährlichen Kunstpostkartenmarkt haben viele bereits in der Agenda stehen. So wird es auch am kommenden Samstag und Sonntag für je fünf Stunden eng im Wartehaus, denn der Raum ist klein und die Kunst so gut.

Bewegte Spiritualität

Vincent Scarths allererste Einzelausstellung zeigt unter dem Titel „Kosmische Marmelade“ wie sich Alt und Neu, Spiritualität und Farbe, Gefühl und Gestaltung mischen.

Geplant war es kaum und doch ist es ein passendes Zusammentreffen: Aby Warburg im Kulturraum im Klosterbezirk und Vincent Scarth in der Macelleria d´Arte. Mit Warburgs Mnemosyne-Projekt wird jener wegweisende Ansatz gewürdigt, die Verwandtschaft der Bilder zu ergründen. Der Kunstwissenschaftler stellte vor einhundert Jahren Werke einander gegenüber, verglich, untersuchte Motive, Bedeutungen und deren Entwicklungen im Laufe der Jahrhunderte.

In der aktuellen Kunst sind solche Rezeptionstechniken selbstverständlich geworden. Auch bei den ganz Jungen. Vincent Scarth, 1992 im Thurgauischen Steinebrunn geboren, zeigt in Francesco Bonannos Galerie, wie Kunstaneignung heute aussehen kann. Dabei sind seine Hauptsujets ganz und gar zeitlos: Scarth malt Madonnen, Akte, hinduistische Gottheiten, biblische Gestalten wie Mose oder Jonas. Er malt sie in leuchtenden Farben, mit schwungvollem Pinselgestus und durchsetzt mit Ornamenten, Tupfen oder Mustern. Auf Wellpappe aufgezogen, auf Magazinen, Buchseiten, Broschüren gemalt, hängen die Bilder dicht an dicht in roh gezimmerten Holzrahmen. Der Bezug auf die lange Tradition der Tafelmalerei ist also schon hier gesetzt und doch erfrischend unprätentiös.

In den Sujets geht es weiter: Immer wieder klingt in Haltung und Kontur der Figuren Bekanntes an. Manche der weiblichen Aktfiguren erinnern an die Madonnen Parmigianinos, andere an die stilisierten Akte Modiglianis, an die Intensität bei Schiele. Die dargestellten Schönheiten neigen ihr ovales Antlitz über ihrem wohlgeformten, langen Hals. Ihre Haltung ist stets erhaben – eben göttinnengleich. Formal eigenständig sind sie trotzdem, denn die Malerei ist von Scarths Gemütszuständen getragen. Sie ist impulsiv und geprägt durch die Aufenthalte des Künstlers in Asien und der Karibik.

Noch deutlicher wird der kunsthistorische Bezug in den Animationsfilmen. Der Künstler erzählt darin kleine Geschichten von grossen Themen, etwa die Adaption Mariens durch die Indios. Die Filme entwickeln sich aus Malerei und Zeichnung heraus, sind Zeichnung im Zeitraffer. Scarths linearer Stil ist hier direkt durch Matisse beeinflusst. Scarth, Student an der ZHdK, bekennt sich offen zu dieser Verwandtschaft. In einem Film über Jack Kerouac arbeitet er sogar einen Scherenschnitt Matisses nach. Ausserdem fliessen Realfilmaufnahmen kleiner Lebewesen ein. Selbst gezeichnete Formen werden ausgeschnitten und über gezeichneten Szenen bewegt, so dass sich eine Tiefenwirkung einstellt. Scarth verliert sich nicht in technischer Perfektion.

Die Bilder haben Zeit, sich zu entwickeln. Sie sind mit einfachsten Mitteln animiert und wirken klar, lebendig. Mitunter werden einzelne Sequenzen wiederholt, in einen neuen Kontext gesetzt. So fliessen die Geschichten unaufdringlich und beschwingt dahin. Und alles ist vom Künstler selbst vertont, denn Scarth ist Musiker in einer Funk Band. Die Ausstellung in der Macelleria d´Arte ist seine allererste überhaupt. Zwar sind seiner Filme alle nur hintereinander auf einem einzelnen Monitor zu sehen, aber sie schaffen es mühelos, sich im dichten Interieur der Galerie zu behaupten.

Humberto Díaz – Mensch und Natur in Winterthur

Die Stiftung Sulzberg, 1999 von der Winterthurer Musikpädagogin Doris Sträuli-Keller gegründet, stellt in der Villa Sträuli in Winterthur drei Studios für internationale Kunst- und Kulturschaffende jeglicher Sparte und Herkunft zur Verfügung. Die Aufenthalte sollen in einer anregenden Umgebung den interkulturellen Austausch fördern. Erstmals ist ein Künstler während der Internationalen Kurzfilmtage Winterthur zu Gast: Der kubanische Künstler Humberto Díaz. Geboren in Santa Clara, 1975, vertritt er ausserdem sein Land dieses Jahr an der Biennale Venedig.

Die Fensterflügel sind weit geöffnet. Zweige, Blätter sind zum Greifen nah. Das Grün scheint in die hellen Räume hineinzuwachsen, gleicht vor jedem Fensterausschnitt einem Landschaftsbild. Und das mitten in der Stadt. Eine Idylle. Humberto Díaz geniesst sie. Seit Mitte September ist der kubanische Künstler als Artist in Residence zu Gast in der Winterthurer Villa Sträuli. Dieser Platz, mitten im baumbestandenen, grünen Museumsquartier, ist ideal für ihn, sind doch die Natur und deren vom Menschen verursachte Veränderungen wichtige Aspekte seiner Arbeit. Das reicht von der real in Szene gesetzten Überschwemmungskatastrophe an der Biennale in Havanna 2006 bis zu Dachziegeltsunamis wie etwa an der Biennale St.Petersburg 2009. Mit solchen aufwendigen, spektakulären Produktionen ist Díaz bekannt geworden. Aber nicht immer wird es so ausufernd. Auf Humberto Díaz Arbeitstisch im Gastatelier liegt neben dem Klapprechner eine Mappe voller Tuschezeichnungen. Einige davon sind bereits im vergangenen Jahr entstanden, einige hier in Winterthur. Zum Beispiel „Double Dead“. Klare, sicher gezogene Linien zeigen einen vom Baumstamm zerschlagenen Tisch. Der Baum ist gefällt, der Tisch kaputt, doch der tote Baum birgt neues Material. Auf anderen Zeichnungen schlagen Äste aus, aber hervor wachsen keine neuen Zweiglein und Blätter, sondern Äxte, Hämmer oder Hot Dogs.

Die Ambivalenz zwischen Objekt, Werkstoff und Natur beschäftigt Humberto Díaz genauso wie die Wahrnehmung von Natur. Und die ist in der Schweiz ganz anders als in Kuba. Hier sind die Bäume in der Stadt unversehrt, die Grünflächen werden gehegt und gepflegt. In Kubas Städten wird den Bäumen schnell einmal mit der Motorsäge zu Leibe gerückt, und zwar ohne baumpflegerischen Anspruch. Sie werden gestutzt ohne Rücksicht auf ihre natürliche Form. Díaz´ äussert offen sein Bedauern angesichts dieser Verstümmelungen. Anders empfindet er die Verhältnisse in der Natur jenseits des städtischen Raumes. Kubas Wälder wachsen wild, während Díaz hier die Struktur der Landschaft auffällt, ihre Ordnung und Unterordnung. Wird dies ein Thema seiner Arbeit hier sein? Gut möglich. Humberto Diaz ist nicht mit einer konkreten Projektidee nach Winterthur gekommen. Statt dessen will er hier vor Ort eine neue Arbeit entwickeln, so wie er auch in der Vergangenheit oft und gern situationsbezogen gearbeitet hat.

Ein Thema waren der ortsbezogenen Arbeiten waren immer wieder Überwachungskameras. In Havanna beispielsweise ging er von Kamera zu Kamera und blickte sie jeweils eine Minute lang an. So wurden den Menschen dieses neue Phänomen des Überwachtwerdens überhaupt erst zu Bewusstsein gebracht.

Noch ist nicht definiert, in welche Richtung die Arbeit in Winterthur gehen wird, aber Humberto Díaz´ Sinne sind geschärft; und das Wichtigste: Er ist unterwegs. Er streift durch die Stadt und knüpft Kontakte. Er kommt mit den Winterthurern leicht und gern ins Gespräch. Diese Offenheit schätzt Díaz sehr, nicht immer hat er das bei seinen zahlreichen Auslandsaufenthalten so erlebt. Etwa in Warschau dieses Jahr: Humberto Díaz war in der Fundacji Spazio 13 zu Gast und fühlte sich recht isoliert. Interaktionen waren fast ausschliesslich über die Institution möglich. Auf diese Situation reagierte Díaz mit der Performance „Paranoid Dreams“: In jede Steckdose der Warschauer Künstlerwohnung hatte er einen Stecker mit Kabel gesteckt, es bis ins Schlafzimmer geführt und um sein Haupt gewickelt. Der Kopf des Liegenden war vollständig von weissen Kabeln umhüllt, abgeschottet.

Welche Einschränkung die damalige Isolation für den Künstler bedeutet haben muss, zeigt der Kontrast zu seinem Leben in Winterthur. Selbst Díaz aktuelle Lektüre ist ein aussagekräftiges Bild dafür: Auf einem kleinen Tischlein liegen Augustinus´ Confessiones. Die Autobiographie des christliche Philosophen ist nicht nur Selbstreflexion, sondern Schilderung des eigenen Lebenszusammenhanges und Blick nach aussen. So spürt auch Díaz von sich ausgehend der Befindlichkeit des Menschen und der Prägung durch das Umfeld nach. Die Sprache ist da nur ein Mittel. Ebenso wichtig ist es für ihn, Gesten und Bewegungen zu beobachten. Da passt es gut, dass er die Winterthurerinnen und Winterthurer in diesem warmen Spätsommer kennenlernt. Noch spielt sich das Leben draussen ab. Díaz ist begeistert davon, wie die Menschen diese Zeit und ihre Stadt geniessen, wie sie im Park sitzen, sich ausruhen, unterhalten, und vor allem: dass sie das, was sie tun, bewusst und ganzheitlich tun. Den Kontrast dazu sieht der Künstler auf Kuba: Während die Menschen dort das eine tun, denken sie bereits an das andere, das nächste. Die Menschen sind getrieben und stecken in ihren Alltagszwängen fest.

Auch Díaz ist nicht ganz frei und ungetrieben: Anfang Oktober eröffnet seine Ausstellung in der Galerie knoerle & baettig contemporary im Sulzer-Areal. Und Díaz´ hat grosse Pläne für die Schau, die eine Woche vor der Vernissage noch ihrer Realisierung harren. Mit dieser Ausstellung erfüllt sich eine Anforderung an die Gastkünstlerinnen und -künstler der Villa Sträuli, sollen sie doch während ihres Aufenthalt aktiv am Leben in Winterthur teilnehmen und in kulturelle Aktivitäten der Stadt involviert sein. So ist schliesslich auch ein Künstlergespräch in der Villa geplant und der Auftritt an den Winterthurer Kurzfilmtagen.

Aby Warburgs Mnemosyne in St.Gallen auferstanden

Gefundene Bilder einander gegenüberstellen, Verwandtschaften ergründen, inhaltliche und formale Grenzen sprengen, Bedeutung untersuchen, frei assoziieren – in der Kunst heute selbstverständlich, begründet vor einem knappen Jahrhundert durch Aby Warburgs Mnemosyne Projekt. Die ursprünglichen Tafeln der Bildersammlung sind nicht erhalten. Eindruck geben einzig fotografische Reproduktionen, zwei Rekonstruktionsversuche in den frühern 1990ern und Publikationen.

Jetzt wird in St.Gallen eine Reinszenierung gewagt, angeregt durch Peter Kamm. Der St.Galler Künstler nimmt regelmässig in Hamburg an Gesprächen zur Mnemosyne teil. Derartige Kommunikation ist ein wesentlicher Aspekt des Atlas und erhält mit der Ausstellung neuen Schwung, ausgelöst durch die direkte Betrachtung und Lektüre. Schon Warburg hatte neben den Abbildungen aufgeschlagene Bücher platziert, und nun konnten die Bestände von Stifts- und Kantonsbibliothek dafür aktiviert werden.

Die Bildtafeln selbst sind entlang einer Schlangenlinie präsentiert und verweisen damit auf einen weiteren regionalen Bezug: Als Patient im Sanatorium Bellevue in Kreuzlingen hielt Warburg einen Vortrag über das Schlangenritual der Pueblo-Indianer – ein wichtiger Schritt für die eigene psychischen Heilung. Noch einmal also wertvolle Kommunikation. Das gilt auch für das Begleitprogramm zur Mnemosyne-Schau.

Dieter Meier in Aarau

Wie etwas ausstellen, das nicht mehr existiert? Wie Dokumentation und Werk unterscheiden und zu einem stimmigen Ganzen fügen?

Das Aargauer Kunsthaus präsentiert das künstlerische Werk des Schweizer Multitalentes Dieter Meier. Fotografie, Skulptur, Performance, Film, Objekt, Text, Zeichnung – Meier arbeitet in allen Medien. Aber insbesondere von seinen frühen Aktionen aus den späten 1960er und frühen 1970er Jahren existiert nur wenig und oft nur sekundäres Material. Doch gerade diese Aktionen sind sowohl für Meiers eigene künstlerische Definition entscheidend als auch für die in jener Zeit betriebene Auseinandersetzung mit Fragen der künstlerischen Produktion und ihrer Eignung zur Gesellschaftskritik.

Meier stiftete einerseits Verwirrung, indem er Gewohntes, Alltägliches eigens thematisierte oder andererseits in bekannten Situationen ungewöhnliche Vorgänge inszenierte: Mal tritt er an einer Vernissage mit Pistole auf und versichert per Schild, dass er nicht schiessen werde, mal zählt er fünf Tage lang vor dem Zürcher Kunsthaus Schrauben in Plastiksäcke. Mal beschreitet er auf dem Bellevueplatz für eine Stunde lang immer dieselben 20 Meter, ein andermal teilt er Passanten „Gangbestätigungen“ aus oder kauft ihnen ein „Ja“ oder ein „Nein“ ab.

Diese Arbeiten erschliessen sich im Aargauer Kunsthaus in aufwendig zusammengetragenem originalen Pressematerial, Fernsehreportagen oder Teilnehmerzertifikaten. Die Schreibmaschinenseiten mit Konzeptbeschreibungen, und Schwarzweissfotografien hingegen wurden auf Posterformat vergrössert und auf die Wände tapeziert. Damit erhalten sie eine neue Unmittelbarkeit: Präsenz statt trockenem Rückblick.

Die Ausstellung ist chronologisch konzipiert und so zeigt sich, wie Meier immer weiter in den Kunstbetrieb hineinwächst, sich mehr und mehr in etablierten Gattungen, insbesondere der Fotografie, bewegt, aber dennoch immer einen unverstellten, autonomen Blick behält. Schliesslich dann das grosse Kapitel der Videoclips des Elektropopduos Yello ab 1981. Ihnen ist in Aarau ein Kinoauftritt gewidmet. Für viele der Musikvideos stellte Meier die bunten, mitunter bizarren Kulissen selber her. Im Kontext seiner übrigen Arbeiten zeigt sich nun, wie kunstnah sie sind mit ihren malerischen, installativen und skulpturalen Einsprengseln. Das danach ausgestellte Spätwerk des Künstlers vermag nicht mehr an die Originalität des frühen anzuknüpfen, trotzdem ergibt sich eine runde, schlüssig inszenierte Schau.

Von Kronen, Königinnen und Kolonnen

Nach dem Geisterbahnschwarz kommt im Nextex das Zahnweiss: Die aktuelle Ausstellung am Blumenbergplatz lockt mit elfenbeinfarbenen Sitzkissen im weissen Raum, dazwischen sorgen exotische und pseudowissenschaftliche Einsprengsel für bunte Töne.

Die magische Dreizehn und das Gold: Im Märchen ist ein güldener Teller zu wenig und die dreizehnte Fee nicht zum königlichen Fest eingeladen. In der Kunst ist der dreizehnte Zahn ein goldener und erhält sogar einen Sockel. Dort erhebt er sich nun einer Krone gleich über seine weissen und Plaque-gelben Gefährten.

Aber ein Zahn aus echtem Gold ist immer auch ein falscher. Typisch diese Ambivalenz: Zähne sind unentbehrlich, aber sie tun weh, wenn sie kommen, sie tun weh, wenn sie gehen und auch sonst oft genug. Les reines Prochaines-Mitglied Fränzi Madörin kann ein Lied davon singen und das tut sie auch, mehr als eines. Die Musikerin musste schon einige ihrer Zähne gehen lassen und setzt ihnen in der aktuellen Ausstellung im Nextex ein akustisches, kuscheliges Denkmal. Weich liegen sie da: ein ganzes Dutzend kolossaler unversehrter Zähne. Sie erinnern ein wenig an Claes Oldenburgs Soft Sculptures. Doch sie sind mehr als Skulptur, sie sind Gebrauchsobjekte, sind Kissen oder Sitz; auf dass sich darauf Madörins poetisch-musikalische Zahnreflexionen noch besser geniessen lassen. Ausserdem schweift der Blick von hier aus zu den anderen drei künstlerischen Positionen.

Allerdings lohnt es sich, dafür dann doch aufzustehen. Beispielsweise für Martina Gmürs Installation. Die Basler Künstlerin und Manorpreisträgerin des Kanton Wallis war 2003 zu Gast in einer Exex-Ausstellung und hat jetzt für das Nextex eine dreiwöchige Chinareise verarbeitet. Weisse Gipsballons hängen an geschwungenen Trägern und offenbaren sich erst in der Rumdumsicht als kleine Globen. Statt der Kontinente tragen sie Reiseskizzen, Erinnerungsbilder und ornamentalen Schmuck. Sowohl in den Bildern als auch in den weissen Schmuck- und Architekturelementen mischt Gmür Andeutungen und Erfahrungen, individuelle und kollektive Bilder, Asiatisches und Europäisches. Am Ende ist kaum mehr voneinander zu unterscheiden, was vertraut und was fremd ist, was Realität und Projektion.

Projektionen interessieren auch Olga Titus. Die Winterthurerin mit schweizerischen, südindischen und malaiischen Wurzeln untersucht das Selbst- und Fremdbild der Frau und Künstlerin. Den Auftakt macht ein Videoobjekt: Die Künstlerin selbst zeigt im bewegten Bild innerhalb eines goldenen Prunkrahmens mit sanftem Lidschlag ihre Rehaugen. Soviel süssliche, naive, ja unterwürfige Pose ist kaum zu ertragen. Sie relativiert sich jedoch im Kontext der anderen Werke. Hier schlüpft Titus in immer wieder andere Rollen, mimt die Fitnesskönigin der 1980er Jahre, die Hobbykünstlerin, die adrette Hausfrau. Je nach Bedarf montiert sie im Hintergrund einen Schuss Exotik oder Zeichen der Hippiekultur. Das variantenreiche Spiel wirft kritische Blicke auf die Rollenzuschreibungen von aussen her, aber auch auf die Art und Weise, wie sich Frauen diesen Zuschreibungen gefügt haben und immer noch fügen.

Wem dies zu ausformuliert ist, wird Mia Dieners Arbeiten schätzen.  Sie leben vom Widerspruch zwischen Ordnungssystem und Inhalt. Auf kleinen Blättern suggerieren Diagramme, Tabellen, Schemata und Wortkolonnen übersichtlich visualisierte Sachverhalte. Doch wer sich an der Entschlüsselung versucht, wird scheitern. Zwar sind die per Monotypie gedruckten Grafiken mit allerlei Ziffern versehen und farbig gestaltet, aber die Codes lassen sich nicht dechriffrieren, ihre Logik referiert ausschliesslich auf sich selbst. Damit sind die Werke der jungen Winterthurer Künstlerin einerseits Sinnbilder für die Hermetik hochspezialisierten Wissens und andererseits für die Poesie wissenschaftlicher Darstellungen. Da kommt sogar ein Gebiss auf Schmetterlingsflügeln daher und versöhnt mit all den schon erlittenen oder noch drohenden Zahnverlusten.

Eine Kunsthalle für einen Sommer

Die Wanderbühne ist Vergangenheit. Was bleibt, sind Kunsterlebnisse, Kontakte und die Erinnerung an ein gemeinsam gefeiertes Jubiläum. Eine Rückschau.

Mit jedem Standort wurde die Ledi ein bisschen kleiner und jedes Mal etwas grösser. Kleiner wurde die Wanderbühne, da ihre Stützen an das jeweilige Gelände angepasst und gekürzt werden mussten. Grösser wurde sie als immaterieller Raum. In ihr und mit ihr wuchsen die Erfahrungen, Kontakte wurden geknüpft, lange Gespräche geführt. An jedem Ort wurden Kultur und Kunst anders und neu erlebt. Der Schopf im Untergeschoss war als Kunst- und Wunderkammer konzipiert und wurde an jeder Station völlig unterschiedlich interpretiert. Das galt nicht nur für die ausgestellten Objekte, sondern für die ganze Konstruktion. Mal war der Schopf nach allen Seiten hin offen, mal war er labyrinthisch verzweigt, mal hermetisch geschlossen.

In Herisau kam er ganz ohne Wände aus. Mittelpunkt war ein umgekippter Lediwagen und so allerhand Herausgefallenes. In Appenzell schickte Stefan Inauen die Ledigäste auf eine Reise in die Vergangenheit. Pascal Häusermann entwarf für Urnäsch eine Wohnzimmersituation. Katrin Keller und Simon Kindle bauten einen Setzkasten für Gais. In Teufen war die Ledi so platziert, dass das Zeughaus zum Hinterzimmer der von Emmanuel Geiser konzipierten Kunstausstellung wurde. Den Abschluss machte die Gruppe Palatti in Oberegg mit ihrem offenen Archiv.

Beinahe nebenbei wurden durch die Kunstschaffenden Gattungen und Genres überschritten. So bei Pascal Häusermann. Das Neben- und Miteinander von Handwerk und Kunst wurde in Urnäsch weder explizit thematisiert, noch ideologisiert, sondern einfach und gut dargestellt. Auch das Publikum mischte sich: Mirya Gerardu von Palatti ortete bei Führungen und bei der Abschlussgant sowohl Bauern und als auch Kuratoren.

Alle Kunstschaffenden stiessen ganz eigene Forschungsprojekte an und liessen das Publikum daran teilhaben. Besonders gut funktionierte dies für Agathe Nisple dort, wo sich die Ledi architektonisch sehr offen präsentierte und sich der Besuch des Schopfes beinahe beiläufig ergab: „In dem offenen System gehörte die Kunst ganz selbstverständlich dazu.“ Da kam es auch gar nicht so sehr darauf an, ob die Kunst als solche erkennbar war. Im Gegenteil. Der offene Kunstbegriff ermöglichte ganz ungeahnte Entdeckungen. Etwa beim Palattiteam: Es präsentiert die Ergebnisse individueller Forschungen über Steinformationen und Hühnerzucht, Mörschlen und Viehschauen: Das Schopfpublikum studierte sie lange und aufmerksam.

Kunst kann eben viel mehr sein als greifbares Objekt. So luden Rolf Graf und Costa Vece ein, auf der Ledi selbst entworfene Menschenpyramiden zu zeigen. Zwar nahmen nicht allzu viele teil, aber die Skulpturen existierten ohnehin nur für einen Moment und solange funktionierten sie ausgezeichnet. Sieger wurde übrigens das menschgewordene Drehrestaurant auf dem Hohen Kasten.

Von Karin Bühlers Projekt für die Ledi wird zwar durch eine eigens gestaltete Edition etwas Dauerhaftes bleiben, doch auch der Trogener Künstlerin waren ganz andere Dinge wichtig. Sie hatte sechs ausgewählte Personen Mutmassungen über einen gefundenen Stein anstellen lassen. Damit legte sie einerseits Recherchemethoden offen und machte andererseits den Arbeitsprozess als solches bewusst. Der Stein selbst wird am kommenden Sonntagnachmittag feierlich zur Hohen Buche zurückgeführt –musikalisch begleitet durch Trompeter Michael Neff.

Auch bei anderen geht es nach der Ledi noch weiter: Die Herisauer Gruppe um Stefan Rohner wird ihre Idee für die nächste Ausstellung des Zeughauses Teufen abwandeln. Und was noch alles kommt? Wer weiss. Was bleibt, ist die Erinnerung an die Ledi als die erste und einzige Kunsthalle beider Appenzell für einen Sommer lang.