Ulrike Kristin Schmidt

Gesammelte Texte

Weihnachtszeit – Faltenzeit

Das 17. «Obacht Kultur»-Heft ist da. Am 17. Dezember ist es erschienen und den Falten in allen Facetten gewidmet.

Es gibt kein Leben ohne Falten. Schon beim Fötus bilden sie sich. Aber Susanne Oswald nennt sie Linien. Die Handleserin mit appenzellischen Wurzeln liest aus ihnen manches über den Menschen heraus, wenn auch keine Schicksalsprognosen, sondern eher Standortbestimmungen.

Wem dies zu wenig handfest ist, der kann sich auf andere Faltengebiete stürzen: das Bügeln beispielsweise, oder die Mathematik. Wobei es hier schnell kompliziert wird, wenn die Mannigfaltigkeiten ins Spiel kommen. Also lieber zum Automechaniker und seinen Liftings beim gestauchten Fahrzeugblech oder hinaus in die Landschaft. Keine Geologie ohne Falte – der Maler Peter Stoffel bannt seit Jahren Gebirgsfalten aufs Bild (Bild oben). Auch kein Buch – in Bögen gedruckt, gefaltet, gebunden, erst dann geschnitten und parat für Eselsohren.

Das aktuelle Obacht-Kulturheft jedenfalls startet schon mit einer geknickten Umschlagecke. Die ganze Nummer ist den Falten gewidmet. Wie immer ist das vom Ausserrhoder Amt für Kultur herausgegebene Heft nur gefaltet, nicht gebunden oder geheftet, so dass einzelne Bögen einfach entnommen und aufbewahrt werden können. Etwa die Ausschnitte aus Vera Markes Faltenbildern. Oder Pascal Häusermanns eigens konzipierte Ornamentstanzung auf S-Bahnnetz in der Heftmitte: «Superposition (Twelve-Fold-Division-Pattern-S-Bahn S.Gallen)».

Auch das 17. «Obacht Kultur» ist also wieder eine eigenständige kleine Kunstpublikation. Jedes Heft ein Sammlerstück – das liegt auch an den Themen. Mal waren es die Mütter, mal die Melancholie, mal die wilden Hunde und schrägen Vögel, mal der Film oder die Brücken. Immer dabei ist originär Ausserrhodisches von Einheimischen und Ausgewanderten. Die Blicke kommen mal von innen und mal von aussen.

Kulturförderung liesse sich also durchaus langweiliger dokumentieren. Allerdings sind auch die harten Zahlen einer der Zwecke des Hefts: Es listet Mal für Mal auf, wer wofür wieviel bekommt. Es geht um Transparenz über die Entscheide und Kriterien der Kulturförderung. Schön, dass jedes Heft gleich selbst Kulturförderung betreibt.

SaitenBlog: http://www.saiten.ch/weihnachtszeit-faltenzeit/

Aus der Eisfabrik

Endloser Schnee ist endloses Weiss. Weiss wie eine unbemalte, grundierte Leinwand. Weiss wie ein unbeschriebenes Blatt. Weiss wie eine unendlich grosse Projektionsfläche für Geschichten, Gedanken, Bilder.

Grönland, die Arktis, Gletscher, Packeis sind reale und zugleich grossartige Räume für die Phantasie. Sie lassen Mythen und Märchen ebenso wachsen wie Entdeckerträume und Forscherehrgeiz. Beide schliessen einander nicht aus, denn im endlosen Weiss ist Platz für die Flagge am Pol wie für die Halluzinationen Erfrierender, für die Technikschlacht im Dienste zeitgenössischer Wissenschaft wie für archaisch dämonische Schneewesen. Da nähert sich auch schon eines. Ein wenig wackelig, mit eingeknicktem Haupt, zottelig. Ein mutierter Eisbär, ein gekränkter Polarfuchs? Oder doch nur ein beraureifter Sensor aus der meteorologischen Station? Mirjam Kradolfer und Stefan Rohner siedeln ihre Ausstellung im Engländerbau genau in jenen Zwischenbereichen an, wo Wissen noch nicht konkret und Legenden noch im Realen verwurzelt sind. Dort, wo die Eiszapfen horizontal wachsen und Kopfreisen auf dem fliegenden Teppich beginnen, wo sich Nordlicht und Schneegestöber abwechseln.

Die beiden St.Galler Kunstschaffenden spielen mit all den Ambivalenzen, die das endlose Eis umgeben. Sie haben sowohl die Forschungsberichte der Naturwissenschaftler als auch die schöngeistige Literatur zu ewigem Frost und Schnee, zu Einsamkeit und Dunkelheit durchgearbeitet. All diese Erfahrungen und Imaginationen fliessen nun in die vielgestaltigen Werke ein und ergeben eine stimmige Inszenierung: Mirjam Kradolfers und Stefan Rohners Ausstellung nimmt das Weiss des Ausstellungsraumes wörtlich und verwandelt ihn in eine Polarlandschaft. Hier wird die Sehnsucht nach der unberührten Weite gestillt, hier warten Sehabenteuer auf irdische Helden.

Publiziert in Kulturmagazin Liechtenstein und Broschüre zur Ausstellung

Eine Künstlerin, ein Architekt, ein Mathematiker

Vera Marke

An den Falten kommt keiner vorbei, auch in der bildenden Kunst nicht. Vera Marke ist durch die Theorie zur Falte gekommen, durch die Theorie und das Tuch: Die Künst- lerin beschäftigte sich früh mit der geschichte der heiligen Veronika, jener Frau, die der Legende nach Jesus auf dem Kreuzweg ein Schweisstuch reichte. Der im Tuch zurückgebliebene Abdruck wurde als real angenommene Darstellung des Antlitzes Jesu zur kostbarsten Reliquie der Christenheit. Wenig verwunderlich ist es darum, dass mehrere «originale» Tücher, mehrere Varianten der geschichte und viele, viele künstlerische Adaptionen des Themas existieren. Das Urbild jedoch wird als das einzig wahre, da nicht durch Menschenhand geschaffene Bild gedeutet, ein Aspekt, der Vera Marke besonders interessierte: «Was ist ein Bild? Ich denke nicht vom Motiv her, sondern von der Entstehung des Motivs. Was also ist Malerei? So komme ich zur Falte.» Denn kein Tuch ohne Falte. Vera Marke malt Falten und ist doch keine Faltenmalerin. Es geht der Künstlerin um das, was die Falten verbergen, und um das Paradoxon, dass sich im Verdecken etwas zeigen lässt. Was verbirgt sich dahinter? Hier kommt der Raum ins Spiel: «Malerei findet ja auf einer zweidimensionalen Fläche statt. Die dritte Dimension, wie sie gerade auch in der Falte sichtbar wird, ist im gemälde eine Illusion.» Zur räumlichen Illusion kommt die taktile. Denn: «Die Malerei befriedigt unsere Seh-Lust, hat mit dem Schauen zu tun.» Sie schafft sinnliche Reize, die sich im rein Visuellen abspielen. Meister darin waren die Künstler des Barock: «Das ist eine Virtuosengeschichte. Wer zeigen wollte, dass er malen kann, musste Falten hinknallen. Der Pinsel referiert mit der Fläche, der Strich und die Fläche reden sozusagen miteinander.» Die Fresken gianbattista Tiepolos sind Vera Markes Lieblingsbeispiele: «Die Kleider lösen sich vom Körper, sind keine Kleider mehr, gehen unendlich weiter, in die Wolken, in die Stuckatur, in die Unendlichkeit. Was Deleuze schreibt, hat Tiepolo schon längst gemalt – das All-Eine, die Totalität von Allem, das ganze Universum.» Deleuze also: «Die Falte. Leibniz und der Barock», ein gedanklicher Faltenwurf, ein Werk, dass sich an jeder Stelle aufschlagen und sich synchron zu Leibniz’ Denken entfalten und zusammenfalten lässt.

Paul Knill

Auch Paul Knill lassen das Buch und die Beschreibungen der charakteristischen Barockfalte nicht mehr los: «Der Barock (…) krümmt die Falten um und um. Treibt sie ins Unendliche, Falte auf Falte, Falte nach Falte.» Der Architekt kam während seines Studiums an der Akademie Düsseldorf mit Deleuzes Schrift in Kontakt, vermittelt durch seinen Philosophieprofessor Paul Good. Seither denkt Paul Knill, Zentralpräsident des Bundes Schweizer Architekten, über die Falte nach, untersucht ihre gestalterischen, statischen, raumbildenden und materiellen Qualitäten: «Am Anfang der Falte steht Materie, Fläche. Faltungen produzieren Raum, bieten Licht und Schatten Projektionsfläche. Im rechten Winkel vorgenommen, bilden sie Winkel, Nischen, schachtelartige Räume. Faltwerke können nicht nur aus Rechtecken und Quadraten bestehen – mit Parallelogrammen, Trapezen, Dreiecken erhöht sich die Komplexität der Gebilde. Gekurvt, gekrümmt, gebogen entstehen fliessende Räume». Faltungen werden für Tragwerke genutzt; anhand eines mehrfach längs gefalteten Papierblattes lässt sich dies schön veranschaulichen. Aus Faltungen können Texturen entstehen, im grösseren wie im Kleinen. Eines ist ihnen allen gemeinsam: «Falten bestehen aus Flächen, deren Kanten miteinander verbunden sind. So lassen sich Räume um- schreiben. Der Gegensatz zu Faltungen sind Strukturen, additive Systeme aus Stützen, Füllungen, Platten. An deren Anfang steht das Konzept.» Bauen mit Holz basiert auf Struktur. Daher sind Falten in Paul Knills Entwürfen trotz seiner Faszination dafür eher selten konstituierende Elemente. Für die Einfriedung des Landsgemeindeplatzes Trogen hat der Architekt die Mauer aus einer Faltung heraus konzipiert. Sie entwickelt sich um einen kleinen garten herum und produziert an einer Ecke einen kleinen Raum als Unterstand. Die auf der einen Seite raue, auf der anderen glatte Oberfläche wechselt am Knick und zeigt, dass Falten immer eine Innen- und eine Aussenseite haben.

Emil Müller

Ein Möbiusband hat das nicht: Es sieht zwar aus wie ein Band mit zwei Rändern, ist in Wirklichkeit nur ein einziger Rand in Form einer Acht. Und was aussieht wie die Fläche des Bandes, ist keine Fläche, weil sie dazu zwei Ränder haben müsste. Sie hat weder Oben noch Unten. Mathematisch gesehen ist das Möbiusband eine nicht-orientierbare Mannigfaltigkeit. Auch wenn die Falte hier

sogar im Wort vorkommt, wird es schnell kompliziert. Aber der Mathematiker Emil Müller beschreibt dieses gebiet der Mathe- matik so, dass es auch Laien verstehen kön- nen: «Mannigfaltigkeiten sind ein Spezial- gebiet der Topologie, dort gibt es keine Fal- ten und keine Ecken: Alles ist eine Kugel oder ein gegenstand mit Loch. Ein Möbiusband ist allerdings weder noch, weil es nicht orientierbar ist.» Und die Falten? Die gibt es an ganz anderer Stelle: «Die String-Theorie geht davon aus, dass wir in einem elfdimensionalen Raum leben. Sieben Dimensionen sind aber eingefaltet und dadurch nicht zu sehen. Manche sagen, das sei Humbug, weil man damit alles beweisen könne, wodurch gar nichts bewiesen sei.» Aber die Faltungen führen auch zu weit handfesteren Ergebnissen. Emil Müller erklärt das seit der Antike populäre Problem des Würfels, dessen Volumen verdoppelt werden soll: «Mit Zirkel und Lineal lässt sich die Verdopplung nicht konstruieren. Mit neun Falten allerdings lässt sich die Aufgabe lösen. Damit konstruiert man die dritte Wurzel von Zwei – ein kleiner Zaubertrick. Die Mathematik kennt viele solcher Zaubertricks.»

Obacht, Heft 17, 2013/13

Zu den Bildern: Vera Marke

Invn° 1612, 2010 (Ausschnitt), Tempera und Öl auf Leinwand, 96 x 85 cm, Invn° 1803, 2013 (Ausschnitt), Tempera und Öl auf Leinwand, 58 x 67 cm

Täler und Kreten, Krater und Hügel – eine Einladung, nicht für die Füsse, sondern für die Augen, darin zu spazieren, sich zu verlieren, zurückzukehren, neue Wege einzuschlagen. Keine Landschaft und doch eine Landschaft – ein Faltenwurf als sinnlicher Reiz.

Vera Marke malt Faltenwürfe. Aber was sind Faltenwürfe eigentlich? Sie sind kein Stoff, sie sind spontane, vergängliche Form. Sie sind eine Spielwiese für malende und bildhauende Virtuosen. Faltenwürfe lassen sich endlos weiterziehen, sie fallen in Kaskaden von Statuen herab oder schwingen sich in Deckengemälden gen Himmel.

Vera Marke hat die lange geschichte der Falte in der Kunst studiert. Im Zentrum ihrer Malerei steht die Frage nach dem Bild, nicht nach dem Motiv: Die Faltenwürfe in den Werken der Herisauer Künstlerin erscheinen als ein kleiner Ausschnitt eines unbestimmten grösseren ganzen. Sie lassen sich jenseits des Bildrandes weiterdenken, ohne dass ein gegenständlicher Bezug sichtbar wird. Bewusst wird dies auch durch die Farbigkeit gesteuert: Der fleischige Inkarnatton etwa lässt statt an Textiles weit mehr an Hautfalten, an die deftigen Schlachthausbilder Corinths oder Rembrandts denken. Vera Markes Faltenbilder bilden nicht ab, sondern verbergen. Statt über ein gemaltes und damit imaginiertes Objekt legen sich die Faltenwürfe über die gespannte, faltenfreie Lein- wand. Das tatsächliche, textile Material wird mit gemaltem Stoff bedeckt. Oder könnte noch etwas zwischen Leinwand und Stoff liegen? Wohin führen die tiefen, schwarz verschatteten Falten? Immer schwingt in den Bildern das Bewusstsein mit um die Fähigkeit der Textilien, etwas zu umhüllen und darüber hinaus auch selbst Raum zu gestalten. Vera Marke verschränkt zweidimensio- nalen, realen Malgrund und dreidimensionale, illusionistische Malerei – der Faltenwurf als Paradoxon.

Obacht, Nr. 17, Heft 2013/3

Das Violinophon und die Nachtigall

Das Kunstmuseum St.Gallen zeigte derzeit Werke des in Herisau und St.Gallen aufgewachsenen Künstlers Francisco Sierra. Die Publikation zur Ausstellung wurde am Freitag vorgestellt.

Es ist eine Grundsatzentscheidung bei jedem Ausstellungskatalog: Soll er pünktlich zur Eröffnung erscheinen? Dann muss auf die fotografische Dokumentation der eben erst fertig installierten Ausstellung verzichtet werden, denn Gestaltung, Druck und Bindung brauchen Zeit. Oder soll das Buch Bilder aus der Ausstellung enthalten, dann aber verspätet erscheinen? Kann dann noch genügend Aufmerksamkeit für die Publikation gewonnen werden? Wie das funktioniert, zeigt das Kunstmuseum St.Gallen mit dem Katalog zur Ausstellung des Manor-Kunstpreisträgers Francisco Sierra.

Das Buch wurde am vergangenen Freitag vorgestellt, die Eröffnung lag da schon einen Monat zurück. Aber das Warten hat sich gelohnt, erstens ist die St.Galler Schau mit ihrer ausgewogenen und grosszügige Hängung auf teilweise intensiv roten Wänden nun auf mehreren Doppelseiten bestens dokumentiert (Fotografien: Stefan Rohner). Andererseits war das Erscheinen des Buches der Anlass für einen eigens gestalteten Abend in Anwesenheit des Künstlers und musikalisch gestaltet von Noëlle-Anne Darbellay. Angekündigt war eine Performance der preisgekrönten Musikerin, die dann zwar etwas kürzer ausfiel als geplant, aber nichtsdestoweniger eindrücklich war.

Darbellay, die Frau des Künstlers, hat wie Sierra selbst ein Violinstudium in Utrecht absolviert. Doch so wie Francisco Sierras Gemälde nie das sind, was sie auf den ersten Blick zu sein scheinen, ist auch eine Violine ein mehrdeutiges Objekt. Sie lässt sich so verwandeln, dass die Streichmusikerin unversehens auch Blasmusik spielt: Sierra und Darbellay haben ein Violinophon kreiert – eine Violine ohne Korpus, dafür mit Schlauch und etwas verbeultem Trichter. Noëlle-Anne Darbellay intonierte Storms Gedicht „Die Nachtigall“ und hat, so wie die Nachtigall, auch selbst noch gleich gesungen. Zwar nicht die ganze Nacht wie der vom Dichter in Verse gebannte Vogel, aber doch immerhin ebenso mit süssem Schall, mit Stormschen Hall und Widerhall.

Noëlle-Anne Darbellay kann aber auch ganz anders. Ein Filmmitschnitt eines Konzertes in der Martinskirche Basel zeigte sie Styropor zergeigend und Bogen zerbrechend. So wild ging es im Kunstmuseum dann doch nicht zu. Statt dessen nahm Direktor Roland Wäspe noch eine Würdigung der Autorin und Autoren des Buches vor. Unter ihnen der auch anwesende Christoph Vögele vom Kunstmuseum Solothurn. Zeitgleich zu St.Gallen präsentiert das Haus eine Ausstellung mit Zeichnungen von Francisco Sierra. diese sind nun ebenfalls im Buch dokumentiert, und eine Raumaufnahme zeigt besonders, wie sich das Werk des 1977 in Chile geborenen Künstlers verzahnt: Das merkwürdige Meringue-Gespenst mit Hitlerschnauz aus dem Gemälde „Im Park“ ist in Solothurn als Skulptur zu sehen. Die Entscheidung, statt zwei kleiner Bücher ein grosses zu veröffentlichen, kommt also nicht nur dem ohnehin schon stattlichen Manor-Kunstpreis-Bücherstapel des Kunstmuseums zugute. Sie erlaubt auch einen umfassenderen Einblick ins Werk des jungen Künstlers.

Alles muss raus

Ob Kunst von Können kommt oder von Käse, darüber lässt sich streiten. Dass aber Kunst und Kommerz liiert sind, ist kaum von der Hand zu weisen. Wenn jedoch der Kunstkonsum so erfrischend unprätentiös daherkommt wie jetzt im Nextex am Blumenbergplatz, macht kaufen Spass.

Zumal der finanzielle Einsatz ohne Einschränkungen den Künstlerinnen und Künstlern zugute kommt: Das Nextex-Team behält keinen Rappen, dabei hat es so einiges geleistet für den dreitägigen Pick-up-Store: Alle Kunstschaffenden von visarte ost und dem Ostschweizer Künstlerarchiv wurden eingeladen, ein 40 x 40 cm grosses Kunstwerk für den Verkauf anzuliefern. 110 Arbeiten wurden eingereicht und mussten gehängt werden.

Gehängt und zuvor gesichtet: Ganz offensichtlich ist bei der Petersburger Hängung wenig dem Zufall überlassen. Die Kleinformate sind dicht an dicht präsentiert und finden sich in erstaunlichen Nachbarschaften. Da prangt etwa ein chagallartiger Frauenakt in der Nähe einer verlassenen Zapfsäule. Wortkunst findet sich neben dem Porträt einer Hauskatze. Manches kommt uns bekannt vor, vieles aber auch nicht.

Auch das macht den Reiz der Verkaufsausstellung aus: Es wurde nicht zensuriert, alle durften mitmachen. Die bekannten Namen der Ostschweizer Kunstszene haben sich ebenso beteiligt wie so manche oder mancher, die noch nie den Weg ins Nextex gefunden haben, geschweige ihre Werke in eine Ausstellung. Der Pick-Up-Store ist genau der richtige Rahmen, um unbeschwert schauen zu können. Oder sogar zu erwerben. Die Preisspanne ist gross, einige der wenigen Werke im zweistelligen Bereich waren bereits eine Stunde nach Eröffnung verkauft.

Andere werden es da schwerer haben, wieder andere punkten durch ihren thematischen Bezug: Eine Madonna, auch oder gerade wenn sie aus Seife ist, passt natürlich bestens zum Fest. Und das kleine Kamel ebenso. Noch läuft es ziellos im Kreis herum, aber sicherlich wird es bis Heiligabend irgendeinen Stall gefunden haben. Sicherlich hat auch jemand auf den schwarz gekleideten Apfel im Schlafrock Appetit.

Wenn das Geld grad nicht so locker sitzt: auch kein Problem. Gucken kostet nichts. Nicht einmal im eigens eingerichteten Kino. Hier kommt so richtig Winterstimmung auf bei sowjetischen und DDR-Märchenfilmen. Ende gut, alles gut? Im Märchen schon – wie der Kunstverkauf ausgegangen ist, wird hier nachzulesen sein.

Saitenbog: http://www.saiten.ch/alles-muss-raus/

Kunst statt Käse

Bei der ehemaligen Käsehalle ist ein Umbau in Sicht, doch zuvor bespielt die Guerilla Galerie den Raum. Der Zürcher Künstler Markus Kummer arbeitet die marode Schönheit des Raumes heraus.

Eine Ausstellung, die nur vier Tage dauert. Ein Lebensmittelgeschäft, das nur samstags geöffnet hat. Die Guerilla Galerie und die ehemalige Käsehalle in der Magnihalde haben durchaus etwas gemein. Nur, dass die Käsehalle vor zwei Jahren für immer schloss und in der Guerilla Galerie zwar ein Jahr lang nichts mehr zu sehen war, aber nun endlich wieder ein Ort und ein Künstler aufs Beste zusammen geführt werden.

Der Verkaufstresen, die Tablare – das wenige Mobiliar der Käsehalle wurde längst entfernt. Als Markus Kummer das Gebäude in der Magnihalde zum ersten Mal sah, war der Raum leer. Beinahe. Denn auch nach dem Auszug des Käseladens ist noch ist vieles im Raum erhalten und manches sogar neu hinzugekommen. Zum Beispiel die Eingriffe zur Gebäudesondierung: Um die Bausubstanz zu klären, wurden quadratische Stücke des Putzes entfernt. Dahinter ist das Mauerwerk zu sehen, darunter sammeln sich Staub und Steinchen. Genau diese Details interessieren Markus Kummer. Gross sind die Eingriffe des Zürcher Künstlers (*1972) nicht, aber wirksam. So gipst er etwa in eines der Sondierungsquadrate ein grosses Stück Stoff ein und verputzt die Wand an dieser Stelle neu. Der Stoff, gehalten durch Gips und Putz, hängt nun mit fast symmetrischem Faltenwurf genau  mittig an der Rückwand. Zufall und auch wieder nicht. Kummer ist aufmerksam. Er geht den Proportionen des Baus ebenso auf den Grund wie dem Material und all jenen Gegebenheiten, die das Gesamtbild der Halle formten. Und er entwickelt sie weiter.

Indem er die Mitte der Rückwand markiert, betont er die Symmetrie der Eingangsseite mit den hohen Fenstern links und rechts neben der Tür. Von dort wandert der Blick zur Decke und den an Ketten aufgehängten Neonröhren. Zumindest zu einer der beiden, denn die andere ist verschwunden. Dafür reichen die Ketten und das Kabel bis auf den Boden, ja durch ihn hindurch. Wer den Fortgang ergründen will, muss ins Untergeschoss. Dort beleuchtet nun die zweite Neonröhre den Naturkeller mit den morschen Planken, rostigen Eisenträgern und herumliegendem Güsel. Es sieht chaotisch aus, doch Kummer setzt ausbalancierte Masse dagegen und gibt dem Raum sein Gleichgewicht zurück.

Seine Interventionen sind so passgenau, dass sie mitunter gar nicht als solche erscheinen. Für „Open Source“ etwa zieht er ein Kabel durch ein gebogenes und unter Putz gelegtes Rohr. Wozu es einst diente, ist unklar, doch jetzt gehört es selbstverständlich dazu, ganz genauso wie die Glühbirne. Vorgefundenes mischt sich mit gezielt Platziertem.

Immer wieder wecken Materialien und Form Erinnerungen an die Kunst der 1960er Jahre. Kummer kennt die Quellen spätestens seit seinem Studium an der HKB Bern und verwendet sie gekonnt in neuem Kontext. Er setzt sich mit der Kunst ebenso auseinander wie mit den Konventionen der Architektur. In der Konsequenz bleibt er, statt eine Materialschlacht zu inszenieren, in der Wahl der Arbeiten bewusst ökonomisch. So wie die Guerilla Galerie mit der Zahl ihrer Auftritte. Es wäre trotzdem schön, wenn‘s bis zum nächsten nicht wieder ein Jahr dauert.

Gegen die Konventionen der Architektur

«Was da ist, ist da.» Markus Kummer nimmt den Raum so, wie er ist. Und wenn er so ist, wie die ehemalige Käsehalle in Magnihalden, umso besser: Mit grauen Streifen an der gelben Wand, dort, wo früher die Tablare hingen, mit Fehlstellen im Novilon, wo früher die Käsetheke stand, mit roten Dübeln in der Wand, wo früher die Appenzeller Käsewerbung hing.

Hätten wir das alles auch gesehen ohne Markus Kummers Arbeiten?

Vermutlich nicht. Der Zürcher Künstler setzt seine Werke so, dass nun alles miteinander zusammenhängt: die Kunst und der Raum, das Licht und die Leitung, das Ober- und das Untergeschoss. Beispielsweise hat Kummer zwei kleine Löcher durch den Boden gebohrt für einen folgenreichen Eingriff: Eine der beiden Neonröhren, die den Raum beleuchteten, ist soweit abgesenkt, dass sie nun den Naturkeller erhellt. Dessen anstehende Sanierung bewog die Käsehändler vor zwei Jahren, den Standort aufzugeben. Das eine hat mit dem anderen zu tun. Genauso verschränken sich die beiden Stockwerke in der Arbeit Kummers. Er schafft reale und gedankliche Verbindungen.

Wenn der Künstler spricht, kommt er von Gilles Deleuzes Schrift «Die Falte. Leibniz und der Barock» über die Tanzschritte beim klassischen Ballett, den Körper eines Schwimmers und seine Bewegungen im Wasser bis zu den Konventionen der zeitgenössischen Architektur. Immer geht es darum, wie Raum erlebt und so gestaltet werden kann, dass sich die inneren und äusseren Verhältnisse entsprechen: der Mensch und das Gebaute als Dualität.

Kummer braucht dazu wenig. Er verzichtet auf hochglanzpolierte Ästhetik und setzt stattdessen Material mit Gebrauchspuren ein. Jene beiden Stofffragmente beispielsweise, das eine in die Wand gegipst, das andere mit einem Betonblock verbunden. Sie sind alt, graubraun und fallen kaum auf inmitten des staubigen Interieurs. Aber sie zeigen deutlich, worum es Kummer geht: Ein Textil ist eine flexible Fläche, es ist Ding und Konstrukt, es ist selbst sichtbar und kann etwas anderes verhüllen, es ist Form und Nichtform, es ist offen für Impulse. Es ist da und führt von A zu B zu Ypsilon.

«Was da ist, ist da» – endlich ist es auch die Guerilla Galerie wieder einmal.

Saitenblog: http://www.saiten.ch/kunst-kommt-von-kaese/

Barbara Kruger im Kunsthaus Bregenz

Werke von Barbara Kruger waren bereits zweimal im Kunsthaus Bregenz zu sehen, aber nie in einer Einzelausstellung. Nun ist es soweit und die Solo-Schau ist gleichzeitig ihre erste in Österreich. Sie vereint Bekanntes und weniger Bekanntes wie etwa eine Videoinstallation in einem stimmigen Gesamtbild.

Was für ein Auftritt! Barbara Krugers Arbeiten und Peter Zumthors Architektur finden im Kunsthaus Bregenz zu einer perfekten Symbiose. Kruger hat in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder raumgreifende ortsspezifische Wort- und Schriftinstallationen realisiert, aber mit der aktuellen Einzelausstellung steigern sich Raum und Schrift gegenseitig in ihrer Wirkung wie nie zuvor.

Kruger verwendet in ihren Wortarbeiten ausschließlich die 1927 von Paul Renner entwickelte Futura – eine Schrift, die ob ihrer Prägnanz eine der populärsten Schriftarten des 20. Jahrhunderts wurde. Im Kunsthaus Bregenz setzt sie die amerikanische Künstlerin in ihren grossflächigen, prägnanten Typographien auf Wand, Boden und Fassade ein. Mit jedem eigens für das Kunsthaus entwickelten Werk betont sie ein anderes architektonisches Element des Zumthor-Baus. Im ersten Stock bringt ein den Boden vollständig bedeckendes Schriftbild die kahlen Betonwände einerseits und die Atmosphäre des Raumes andererseits zur Geltung, sein Licht, seine hermetische Grosszügigkeit. Das gelingt auch durch den Kontrast zur Videoinstallation im abgedunkelten Stockwerk darüber. In der obersten Etage bilden das Oberlicht und der hellgraue, geschliffene Terrazzoboden die Spange für ein präzise über alle Wandflächen gesetztes Statement. An der Fassade prangt eine 400qm grosse, bedruckte Plache: Die Transparenz ist verhüllt und weist zugleich auf das Innere des Hauses hin.

Kruger hatte anlässlich einer Ausstellung in der Frankfurter Schirn die Architektur als ihre erste Liebe bezeichnet. In Bregenz zeigt sich, dass diese Leidenschaft ungebrochen ist und von einem profunden Verständnis für den Raum und seine Besonderheiten getragen wird. Entstanden ist eine formal höchst ästhetische Ausstellung.

Und inhaltlich? Barbara Krugers gestalterisches Vokabular ist schon seit den frühen achtziger Jahren ihr Markenzeichen, aber auch ihre Themen sind konstant dieselben und es ist abzusehen, dass sie sobald nicht obsolet werden: Mit ihrer Kunst führt Kruger feministische, politische oder klassentheoretische Debatten weiter, setzt sich kritisch mit Konsumkultur auseinander und für Menschenrechte ein. Mittlerweile sind ihre Werke so dimensioniert, dass kein Entkommen möglich ist. Zudem tragen die Aussagen, Vorschläge und Gedanken allein schon ob ihrer Grösse stets ein Ausrufezeichen: “Gewalt lässt uns vergessen, wer wir sind” – und alle sind gemeint.

Dani Gal in der Kunst Halle Sankt Gallen

Konstruiert die Sprache die Welt? Die Wirklichkeit? Die Wahrheit? Die Vergangenheit? Wie funktioniert unsere Sprache im Umgang mit der Welt? Wie verknüpfen wir Sprache mit Bedeutung? Gibt es, was sich nicht sagen lässt? Die Sprache ist allumfassend, sie ist Werkzeug und Methode. Sie ist Gegenstand der Wissenschaft, der Philosophie, der Kunst. Sie lässt sich manipulieren, formen, beherrschen und ist doch unerschöpflich und komplex. Sprache wird bewusst oder unbewusst eingesetzt, um Gedanken, Geschichte und Gefühl zu formen. Ein Wörterbuch scheint da noch das objektivste Medium. Doch bereits dort fängt die Zweideutigkeit an. Selbst im Wörterbuch finden sich Sätze, die weder harmlos noch neutral sind, sobald sie auf die Welterfahrung der Lesenden treffen und das tun sie unweigerlich. Dani Gal hat das Oxford Dictionary durchgearbeitet und in einer achtjährigen Arbeitsphase sämtliche Beispielsätze herausgelöst und hintereinander in einem Buch abgedruckt. Das Layout gleicht dem eines Romans und suggeriert damit einen ähnliche inhaltlichen Zusammenhang der Sätze. Tatsächlich aber fügen sie sich nur durch das Gelesenwerden zu einem Text. In der jüngsten Variante der Arbeit funktioniert nicht einmal das mehr: In der monographischen Ausstellung in der Kunst Halle Sankt Gallen projiziert der Künstler die Wörterbuchsätze zu zweit nebeneinander nach dem Zufallsprinzip. Dinge, Beobachtungen, Bekanntmachungen, Gedanken, Wünsche, Hoffnungen fliessen gleich dem Joyceschen Bewusstseinsstrom vorüber, aber jeder Satz, jede Wortgruppe steht für sich. Durch die Zufallssteuerung haben sie vielleicht nie wieder denselben Vorgänger oder Nachfolger oder Nachbarn. Dennoch beeinflussen sie einander. Ein Satz öffnet ein Assoziationsfenster. Automatisch versuchen wir den nachfolgenden Satz dort zu integrieren. Es gelingt fast immer, denn Dani Gals Projektion eröffnet unendliche Denkräume. Ist es beispielsweise möglich, den Satz  „She wrote something on a small piece of paper.“ zu lesen, ohne sich jene Sie und ihr Geschriebenes oder den Grund ihres Schreibens vorzustellen?

Die Geschichten beginnen sich zu schreiben, die Lücken werden unwillkürlich gefüllt – Mechanismen des Denkens laufen ab. Auch bei jenem Radiogespräch zwischen John Cage und Morton Feldman. Es wurde im Januar 1967 geführt, aber im Archiv hat sich nur eine beschädigte Aufnahme erhalten. So steht der für die ganze Ausstellung titelgebende Satz „Do you suppose he didn´t know what he was doing or knew what he was doing and didn´t want anyone to know?“ ohne direkten Vorgänger da und erhält in der Endlosschleife einen neuen Nachfolger. Der Satz führt ins Leere und doch auch wieder nicht. Zudem zeigt er, wie kleinste Änderungen in Wortstellung oder Buchstabenanordnung die Bedeutung vollständig verändern, ja, in ihr Gegenteil verkehren können. Kleinste Verschiebungen ziehen grösste Konsequenzen nach sich. Das gilt für das oben aufgeführte Beispiel ebenso wie für die Kommunikation im Alltag und im gesamten gesellschaftlichen Kontext. Wenn Dani Gal den nationalsozialistischen Architekten Albert Speer über Reichshauptstadtprojekt Germania sprechen lässt und dieser erst von Hitlers „grössenwahnsinnigem Vorhaben“ redet und es dann in „unser grössenwahnsinniges Vorhaben“ korrigiert, zeigt sich die bedeutungskonstituierende Kraft eines einzigen Pronomens. Die geschilderte Szene ist Teil des Filmes „Wie aus der Ferne (As from Afar)“. Der knapp halbstündige Film wurde von der Kunst Halle Sankt Gallen koproduziert und thematisiert im Stil eines Reenactment die Freundschaft zwischen dem Holocaustüberlebenden Simon Wiesenthal und Albert Speer. Den Rahmen bildet ein Text Ludwig Wittgensteins über Gedächtnisbilder. Der Film ist voller Querverweise sowie komplexer Zeit- und Raumverschränkungen. Das dichte Bezugsgeflecht auf der Basis umfassender Recherchen trifft auf assoziationsreich gesetzte Bilder und Dialoge. Der 1975 in Jerusalem geborene und in Berlin lebende Dani Gal präsentiert in der Kunst Halle Sankt Gallen inhaltlich und ästhetisch höchst aufgeladene Werke.