Ulrike Kristin Schmidt

Gesammelte Texte

Das Konzeptuelle hervorholen

Bruno Steigers Werk ist dicht, und es ist breit gefächert. Es ist experimentell und prozessorientiert, abbildend und abstrakt. Es birgt Zufälle und Kalkül. Und es ist immer wieder auch konzeptuell. Letzterer ist nicht der bekannteste Aspekt im Werk des 2011 verstorbenen Künstlers, aber es ist jener, den er bei anderen Künstlern besonders schätzte und stets weiterverfolgte.

Diesen konzeptuellen Ansätzen in Bruno Steigers Werk widmet Susanna Kulli die Ausstellung im Architekturforum. Bruno Steiger arbeitete 15 Jahre lang für die Galeristin. Beim Aufbau der Galerieausstellungen sprachen sie viel über die Arbeiten der anderen und über Steigers Werke. Als Susanna Kulli sich 2003 entschied, ihren St.Galler Galeriestandort zugunsten von Zürich aufzugeben, blieben Kullis Verbindungen zu hiesigen Kunstschaffenden intakt, auch zu Bruno Steiger. Und sie versprach dem Künstler, sich nach seinem Tod um seine Arbeiten zu kümmern, sie aufzuarbeiten.

Sie sichtete im Atelier alle Werke aus allen Schaffensphasen und gruppierte, was zeitlich und inhaltlich zusammengehört. Aber wie anschliessend mit dem ganzen Material umgehen?

Bald war die Idee eines Buches und der Ausstellung geboren. Das Buch, herausgegeben von Steigers Partnerin Brigitte Wiederkehr und realisiert von der Kunsthistorikerin Corinne Schatz, bietet einen breit angelegten Überblick. Alle Werkgruppen werden chronologisch vorgestellt. So zeigt sich, wie eng sie mit der Biographie des Künstlers verwoben sind. Zudem versammelt der Band bereits publizierte und noch unveröffentlichte Texte. Den grossen Rahmen bildet eine detaillierte Abhandlung von Corinne Schatz.

Eine solche Überschau kann die Ausstellung im Architekturforum schon aus Platzgründen nicht leisten. Aber es ging ohnehin nicht darum, das Buch zu wiederholen. Stattdessen hat sich Kulli entscheiden, mit der konzeptuellen Auswahl Steigers besondere Stärken herauszuarbeiten. Sie hat als Galeristin auf sein Werk geblickt im gleichzeitigen Wissen darum, was dem Künstler selbst wichtig war.

„Bruno Steiger  1955 – 2011“

bis 15. Februar 2014

Architekturforum, Davidstrasse  40, 9000 St.Gallen

Öffnungszeiten

Mittwoch – Freitag, 17 – 20 Uhr, Samstag und Sonntag 11 – 16 Uhr

Sonntagsapéro mit Führung, 2. und 9. Februar 2014, 12 Uhr

Spuren der Architektur

Im Palais Bleu ist die neunte Folge der Ausstellungsreihe LeLieu in zwei zeitlich voneinander getrennten „Interventionen“ zu sehen. Die St. Galler Kuratorin Céline Gaillard hat Künstlerin Angela Wüst eingeladen.

Die Spurensicherung hat schon vor einigen Jahren stattgefunden. Dann nämlich, als das ehemalige Bezirkskrankenhaus und spätere Pflegeheim in Trogen in eine Wohngenossenschaft von Kreativen verwandelt wurde. Sie haben die Geschichte des Hauses erforscht, die Qualität des Baus genutzt und herausgearbeitet. Sie haben die Zeichen und Objekte der Vergangenheit gesichert oder in etwas Neues verwandelt. Letztgenannter Prozess dauert immer noch an. Karin Bühlers Ausstellungsreihe „Le Lieu“ ist ein Teil davon.

Die Künstlerin lädt in losen Abständen Kuratorinnen oder Kuratoren ein, die dann ihrerseits Kunstschaffenden vorschlagen, im Palais Bleu zu arbeiten. Immer entstehen raum- oder ortsbezogene Werke. Mitunter sind sie vergänglich, manchmal schreiben sie sich ins Haus ein. Doch noch nie waren sie so zeitlich begrenzt wie die Installation von Angela Wüst – zeitlich begrenzt und dennoch von grosser visueller und innovativer Kraft.

Die junge Zürcher Künstlerin (*1986) arbeitet seit längerem daran, der Fotografie ihren Raum zurückzugeben. Der reale Raum wird in der Fotografie stets um eine Dimension beschnitten. Es ist ein abstrahierendes Medium, das Tiefe nur indirekt und unvollkommen vermitteln kann, etwa durch sichtbare Überschneidungen, durch Grössendifferenz oder Farbperspektive. Eine Fassade mit all ihren Vorsprüngen, Simsen, auskragenden oder zurückversetzten Details bleibt in der fotografischen Aufnahme eine flächige Addition von Elementen. Aber genau diese Einschränkung reizt Angela Wüst.

Als die Kuratorin und Kunstgeschichtestudentin Céline Gaillard mit der Künstlerin zu einem ersten Besuch nach Trogen kam, fielen Wüst die Appenzeller Bauernhäuser mit ihren schönen, durchdacht gestalteten Details auf, aber auch die zeitgenössischen Transformationen und Zugaben. Die Künstlerin fotografierte sie mit Diafilmen. Die Diaaufnahmen projizierte sie auf eine Ansammlung von Baumaterialien und fotografierte erneut. Die Leisten und Bretter, ihre Schatten und Überschneidungen wurden so zum Bestandteil der ursprünglich abgelichteten Architektur und entfalten ein gemeinsames Volumen.

Im Palais Bleu installiert, öffnen sie vielschichtige Fenster in den Aussenraum. Aber auch den Aussenraum selbst hat Wüst im ersten Teil ihrer Intervention bespielt. Eine schmale, haushohe Wand auf der Rückseite des Gebäudes diente ihr als Projektionsfläche für ein Video. Passgenau, randabfallend sind grossstädtische Hinterhöfe zu sehen. Langsam fliegen Schatten darüber – wie vorbeiziehende Erinnerungslücken. Die Arbeit funktioniert als Sinnbild für die identitätsstiftenden Qualitäten von Architektur. Die meisten Menschen wechseln in ihrem Leben ihre Wohnungen, auch die Bewohner des Pflegeheims und des Bezirkskrankenhauses Trogen haben das getan. Und alle erinnern sich an die Plätze, an denen sie lebten, mal deutlich, mal weniger deutlich, mal angenehm, mal von Schatten durchzogen. Angela Wüst hat dafür ein eindrückliches Bild gefunden. Es macht neugierig auf den zweiten Teil der Intervention.

Intervention Teil 2: Palais Bleu, Trogen, Freitag, 14. Februar ab 18:00

Mitmachen im Nextex

Junge Kunst ist ein dehnbarer Begriff. Er stimmt definitiv in der aktuellen Schau im Nextex. Die fünf Ausstellenden studieren Kunst und Vermittlung an der Hochschule Luzern und stehen alle noch vor ihrem Bachelorabschluss. Und doch bringen Adrian Rast, Valentin Beck, Pascale Eiberle, Selina Buess und Sabrina Labis schon einiges an Arbeitserfahrung mit. Seit zweieinhalb Jahren teilen sie sich ein Atelier und üben sich darin, einander Ideen zuzuspielen und Partizipation zu ermöglichen. Nicht nur einander, sondern auch dem Publikum. Im Nextex steht beispielsweise eine schwarz angestrichene Tafel. In einigem Abstand davon liegen auf einem Sockel Gipsscheiben bereit. Zum Werfen. Sie zerbrechen an der Tafel, hinterlassen Spuren. Aus der Zerstörung erwächst etwas Neues. Der Zufall spielt eine grosse Rolle dabei. Auch bei den Objektspielereien am Tisch: Scheiben, Quader, Kugeln dürfen hier bewegt und neu platziert werden. Der Spieltrieb regt sich. Die einfachen Materialien fühlen sich gut an, die möglichen Ordnungskonzepte sind unendlich. Die Kunst löst etwas aus, aber das tut sie auch, wenn sie nur anzusehen ist. Wie etwa die kleinen Zettelchen mit Dattelkernen, Wachspuren, Kritzeleien, mit Spuren des Alltags, die hier allerdings bewusst hinterlassen und inszeniert wurden. Die wahren Geschichten hinter diesen Übrigbleibseln kennen wir nicht, aber unvermittelt erzählen sie neue, je nach unserem individuellen Erfahrungshorizont. Andere Objekte der Ausstellung wirken hingegen seltsam entrückt, wie etwa die weissen Flugzeugminiaturen auf weissen Tellern, das begleitende Silvestergeknalle aber macht aus ihnen Modelle für ganz reale Katastrophen. Wem abgekaute Dattelkerne zu unappetitlich und weisse Miniflieger zu wenig repräsentativ sind, hält sich vielleicht lieber an die gegenüberliegende Raumseite, in der hübsch anzusehende, blau lackierte Gipstafeln geordnet an der Wand hängen. Doch was hier wie eine verkaufsfördernde Präsentation anmutet, wird im Verlauf der Ausstellung demontiert. Die Galeriesituation bleibt nicht unverändert bestehen, aber wie genau sie sich verändern wird, ist nicht konzeptionell festgeschrieben.

Vom Kleinen zum Grossen, vom Unbeachteten, Banalen zu einem ganzen Lebenskosmos, vom Kunstkommerz zum Experiment – in der Ausstellung im Nextex ist alles in Bewegung, an den kommenden beiden Donnerstagen und live mit den Künstlerinnen und Künstlern.

Saitenblog: http://www.saiten.ch/mitmachen-im-nextex/

Kartographie und Kunst im Klosterraum

Die aktuelle Ausstellung im Kulturraum am Klosterplatz präsentiert Karten und Pläne aus dem Staatsarchiv St.Gallen. Auch für Kunstschaffende sind Landkarten ein ergiebiges Thema, aktuelle Beispiele zeigen wie gut Kartographie und Kunst zusammenwirken.

Wanderkarten bilden die Landschaft ab, rechteckig, flach, mit Linien und manchmal in Farbe. Zeichnungen können ebenfalls die Landschaft zeigen, und sie sind auch rechteckig, flächig und bestehen meist aus Linien, manchmal auch aus Farbe. Wanderkarten sind fast immer gefaltet; Zeichnungen fast nie. Warum nicht auch einmal eine Zeichnung falten? Schliesslich schafft die Falte einen dreidimensionalen Raum. Gefaltetes Papier ist nicht mehr nur flächig, sondern gewölbt, gebogen, es bildet Täler und Hügel.

Sandra Kühne hat es ausprobiert: Anlässlich der Ausstellung „St.Gallen à la carte“ hat die Künstlerin ein Blatt Papier vollständig mit Grafit bedeckt, es anschliessend zerknüllt und wieder ausgebreitet. Nun hängt es im Kulturraum am Klosterplatz im Streiflicht und die Augen können in den Knitterfalten trefflich spazieren gehen – wie in einem Landschaftsrelief.

Die eigentliche Spezialität Sandra Kühnes sind aber ihre Papierschnitte: Gerippe von Plänen, Karten oder wissenschaftlichen Darstellungen. Sie waren schon hin und wieder in der Region ausgestellt, so etwa in der Guerilla Galerie oder im Zeughaus Teufen, aber die Künstlerin entwickelt diese Werkgruppe immer weiter. So gibt es auch diesmal etwas Neues zu sehen: Sie zeigt sie ihren Heimweg in Zürich als minimalistische Lineatur, hat die Vogelflugrouten über einer Weltkarte mit dem Skalpell isoliert oder die Entdeckerrouten in der Antarktis. Die veränderlichen schwarzen Linien entsprechen der Flüchtigkeit aller Gegebenheiten und Bewegungen am Südpol. Präsentiert ist die Arbeit in einer der stattlichen Holzvitrinen neben anderem Plan- und Kartenmaterial der Ausstellung. Hier zeigt sich besonders gut, wie die zeitgenössische Kunst und das eigentliche Thema im Kulturraum zusammen wirken.

Präsentiert wird mit „St.Gallen à la carte“ ein ausgewählter Teil der Karten- und Plansammlung des Staatsarchivs St.Gallen (siehe Bericht am 6. Dezember 2013). Anlass ist die wissenschaftliche Aufarbeitung dieser Bestände und deren Digitalisierung. Letztere hat Felix Stickel inspiriert. Er hat alle digitalen Kartendateien übereinander ausdrucken lassen bis sich eine nahezu schwarze rechteckige Fläche ergibt, in der nur noch hie und da feine Linien erkennbar sind. Damit antwortet der St.Galler Künstler antwortet auf die Übertragung der Karten aus dem real extistierenden in einen virtuellen Raum. Er holt sie zurück in die Wirklichkeit. Ganz wirklich und sogar haptisch zu erleben, ist Stickels Tuscheserie. Hier nun ist der Kartenfalz im Kunstwerk angekommen. Mit dynamischer Geste hat Felix Stickel innere Landschaften aufs Papier gebracht und dieses anschliessend sorgsam auf ein handliches Format gefaltet. Wie richtige Karten dürfen sie in die Hand genommen, auseinandergefaltet und gelesen werden.

Lesestoff bieten auch Peter Stoffels Arbeiten. Seit Jahren arbeitet der in Genf lebende Herisauer daran, eine universale Karte herzustellen. Jedes seiner Einzelwerke ist Teil dieses Versuches von der in sich gespiegelten Rorschach-Karte aus NASA-Bildern über die fraktalen Bäume bis hin zum dicht gewobenen Ölbild der mentalen Geologie. Hier ballen sich die Wege und Verzweigungen, hier stauchen sich die Strukturen, hier pulsieren Tiefe und Licht. Es gibt weder Peripherie noch Zentrum, nur allumfassenden Kosmos. Selbst Atlas der Titan ist klein dagegen, umso mehr, wenn er ganz irdischer Natur ist, so wie bei Roberto Ohrt. Der Kunsthistoriker, der jüngst mit Warburgs Bilderatlas in St.Gallen gastierte, steuert zur Ausstellung einen Weltenträger bei. Das kleine, übermalte Zeitungsbild ist ein geistreicher Kommentar zur gobalen Lastenverteilung: Ein kleiner Atlas in einer grossen Welt.

Weisses Rauschen – Aus der Eisfabrik

Vernissagerede zur Ausstellung von Mirjam Kradolfer und Stefan Rohner im Kunstraum Engländerbau, Vaduz

 „Statt der Sonne jedoch gab es Schnee, Schnee in Massen, so kolossal viel Schnee, wie Hans Castorp in seinem Leben noch nicht gesehen. Der vorige Winter hatte in dieser Richtung wahrhaftig nichts fehlen lassen, doch waren seine Leistungen schwächlich gewesen im Vergleich mit denen des diesjährigen. Sie waren monströs und maßlos, erfüllten das Gemüt mit dem Bewusstsein der Abenteuerlichkeit und Exzentrizität dieser Sphäre. Es schneite Tag für Tag und die Nächte hindurch, dünn oder in dichtem Gestöber, aber es schneite. Die wenigen gangbar gehaltenen Wege erschienen hohlwegartig, mit übermannshohen Schneewänden zu beiden Seiten, alabasternen Tafelflächen, die in ihrem körnig kristallischen Geflimmer angenehm zu sehen waren […] Und auf die liegenden Massen schneite es weiter, tagaus, tagein, still niedersinkend.“*

In diesem Raum lässt sich die beschriebene Schneewelt trefflich vorstellen. Ein weisser Ausstellungsraum, der perfekte White Cube, ohne Fenster, mit weisser Tür, weissen Wänden und weisser Decke, sogar der Boden ist weiss. Und selbst die Kunst. Weisse Objekte, weisse Flächen, weisse Wesen, Formen und Gebilde. Stefan Rohner und Mirjam Kradolfer haben ein „weisses Rauschen“ inszeniert.

Der Begriff lässt sich zunächst ganz wörtlich nehmen: Das weisse Rauschen als das Gewirbel der Schneeflocken, das jede Sicht verschleiert, kein klares Bild ermöglicht, etwa so wie das grauweisse Flimmern auf dem Fernsehbildschirm zur Sendepause – ja, so etwas gab es früher. Das weisse Rauschen also als Abbild des Schneetreibens. Als Inbegriff des konturlosen Weiss, dass sich ergibt, wenn über der ohnehin verschneiten Welt ein Flockenwirbel niedergeht:

„… Draußen war das trübe Nichts, die Welt in grauweißer Watte, die gegen die Scheiben drängte, in Schneequalm und Nebeldunst dicht verpackt. Unsichtbar das Gebirge; vom nächsten Nadelholz allenfalls mit der Zeit ein wenig zu sehen: beladen stand es, verlor sich rasch im Gebräu, und dann und wann entlud eine Fichte sich ihrer Überlast, schüttelte stäubendes Weiß ins Grau. Um zehn Uhr kam die Sonne als schwach erleuchteter Rauch über ihren Berg, ein matt gespenstisches Leben, einen fahlen Schein von Sinnlichkeit in die nichtig unkenntliche Landschaft zu bringen. Doch alles blieb in geisterhafter Zartheit und Blässe, bar jeder Linie, die das Auge mit Sicherheit hätte nachvollziehen können. Gipfelkonturen verschwammen, vernebelten, verrauchten. Bleich beschienene Schneeflächen, die hinter- und übereinander aufstiegen, leiteten den Blick ins Wesenlose…“

Die Urmonotonie des Naturbildes, die Welt ohne Farben, ja ohne Zeichnung sogar: Weiss wie eine unbemalte, grundierte Leinwand. Weiss wie ein unbeschriebenes Blatt. Weiss wie eine unendlich grosse Projektionsfläche für Geschichten, Gedanken, Bilder für Hans Castorps Schneetraum. Hierin lässt Thomas Mann den jungen Mann in verlockenden Sequenzen inmitten eines Schneesturmes zur Schlussfolgerung kommen, dass das Leben und der Tod eine Einheit sind.

Welche Szenerie wäre für solche Reflektionen besser geeignet als die lebensfeindliche Umklammerung des Winters, der Fiebertraum kurz vor dem drohenden Erfrierungstod, dem Castorp aber schliesslich entkommt? Die Nähe von Leben und Tod, von Frost und Schönheit gab und gibt es im von Thomas Mann beschrieben Winter in den Alpen. Die gab und gibt es  ebenso in den weit entfernten Welten jenseits des Polarkreises. Grönland, die Arktis, Gletscher, Packeis haben seit jeher die Phantasie ebenso herausgefordert, wie den Ehrgeiz gerade dort, wo sich die Welt besonders abweisend, gleichgültig, bedrohlich zeigt, sie zu erobern oder zumindest sich selbst in ihr zu beweisen. Denn die endlose Schneelandschaft ist nicht nur bar zivilisatorischer Annehmlichkeiten, sondern auch ein Ort der endlosen, energieraubenden Kälte.

Und hier im Kunstraum Engländerbau? Kältekammern und Gefriertruhen waren durchaus schon als künstlerische Mittel im Einsatz, aber Stefan Rohner und Mirjam Kradolfer verzichten bewusst auf solch naturalistische Anleihen, stattdessen konstruieren sie eine Welt der Vorstellung, eine Welt, die Erfahrungen in Erinnerung ruft und daher weitaus grösser ist, als es die reale Inszenierung von Kälte sein kann. Vergleichbar ist dies mit Caspar David Friedrichs Gemälde „Das Eismeer“: Die dicke Eisdecke des Meeres ist aufgebrochen, Eisschollen türmen sich, schieben sich ineinander, ein düsterer, grauer Himmel wölbt sich darüber und plötzlich gerät das Segelschiff in den Blick. Nur das Heck des hölzernen Rumpfes ist zu sehen, Teile der zersplitterten Masten ragen an anderen Stellen aus dem Eis. Hier braucht das Frösteln keine Kältemaschine.

Ganz so dramatisch geht es in Stefan Rohners und Mirjam Kradolfers Eisfabrik nicht zu und doch ist das arktische Klima präsent. Das Licht ist kalt und gleissend, der Raum weit, das Weiss dominant. Und überhaupt: Wozu ausser als Waffe gegen die Kälte sollte der siebenfache Mumienschlafsack dienen? Wozu Pelzkappe und Fellstiefel? Wo sollten die merkwürdigen Schneebrillen ausgegraben worden sein, wenn nicht aus dem ewigen Eis? Und dann diese Töne. Klirren, Scharren, Wummern, schepperndes Metall, Gletscher kalben, Eiswind pfeift uns um die Ohren. Hier ist die andere Erscheinung des „weissen Rauschens“: Vertraut ist der Begriff aus der Akustik und dürfte vor allem Eltern bekannt sein, denn das „weisse Rauschen“ gilt als jenes monotone Geräusch, das Babies einschlafen lässt und dass, wenn kein Staubsauger zur Hand ist, auf CD gekauft oder als MP3 aus dem Netz heruntergeladen werden kann. Diesem Ton wird nachgesagt, eine leicht betäubende Wirkung auf das Gehör zu haben, so dass es sich als Methode zur Lärmbekämpfung etabliert hat. Lassen wir uns also betäuben? Eher erinnert die Klangkulisse von Sven Bösiger und Patrick Kessler an das „weisse Rauschen“ der Ingenieurs- und mathematischen Wissenschaften. Hier steht es für ein mathematisches Modell zur Beschreibung von Störungen in einem sonst idealen Umfeld. In der Ausstellung bietet es statt der wattierten Lautlosigkeit des Tiefschnees vielfältige assoziationsreiche Klänge. Die Töne wandeln sich. Statt Monotonie sind mal technisch, mal archaisch wirkende Klänge zu hören. Mal evozieren sie anthropologische  Geräusche, mal scheint das Wetter in den Ausstellungsraum zu dringen. Denken wir an brechende Eisschollen? An animistische Kulte? An Schneestürme, die nicht nur Thomas Mann so eindringlich beschrieben hat? Beginnen wir uns zu grausen, wenn wir uns vorstellen, wie sein Protagonist Hans Castorp sich als ungeübter Skiläufer und natürlich ohne Funktionskleidung und Lawinensonde in die Natur begibt? Gerade dieser Schauder macht auch die Faszination der kalten Sphären aus:

„Nein, die Welt in ihrem bodenlosen Schweigen hatte nichts Wirtliches, sie empfing den Besucher auf dessen eigene Rechnung und Gefahr, sie nahm ihn nicht eigentlich an und auf, sie duldete sein Eindringen, seine Gegenwart auf eine nicht geheuere, für nichts gutstehende Weise, und Gefühle des still bedrohlich Elementaren, des nicht einmal Feindseligen, vielmehr des Gleichgültig-Tödlichen waren es, die von ihr ausgingen. Das Kind der Zivilisation, fern und fremd der wilden Natur von Hause aus, ist ihrer Größe viel zuträglicher als ihr rauer Sohn, der, von Kindesbeinen auf sie angewiesen, in nüchterner Vertraulichkeit mit ihr lebt. Dieser kennt kaum die religiöse Furcht, mit der jener, die Augenbrauen hochgezogen, vor sie tritt und die sein ganzes Empfindungsverhältnis zu ihr in der Tiefe bestimmt, eine beständige fromme Erschütterung und scheue Erregung in seiner Seele unterhält.“

Es ist der Reiz des Fremden, der schwerer wiegt als jener des Exotischen. Es ist genau jener Reiz der weissen Finsternis, der rohen Naturgewalten, ja, des Lebensfeindlichen, der Entdecker, Wagemutige und Phantasten aus der zivilisatorischen Geborgenheit heraus lockt und den Polen zutreibt, real oder in Gedankenreisen. Mirjam Kradolfer und Stefan Rohner haben umfassend recherchiert. Sie haben die Expeditionsliteratur studiert, belletristische Bücher und Texte gelesen, haben Fotobücher und Filme zusammengetragen und sind den künstlerischen Auseinandersetzungen mit Schnee und Eis nachgegangen. Das Spektrum ist breit und reicht von „The Amundsen Photographs“ über Anna Kims „Anatomie einer Nacht“ die  Schneegedichte von Ron Winkler, Allan Kaprows Happening „Fluids“ bis zu Pierre Bayards „Wie man über Orte spricht, an denen man nicht gewesen ist“. Denn auch das gehört dazu: Die Pole nähren die Sehnsucht, aber nicht jeder Traum will verwirklicht werden. Mitunter sind die Reisen im Kopf ergiebiger als grosse Pionierleistungen. Auch „Das weisse Rauschen – Aus der Eisfabrik“ ist das Resultat einer Kopfreise. Mirjam Kradolfer und Stefan Rohner haben es geschafft, sich von all den grossen Taten, Worten und Bildern nicht überwältigen zu lassen, sondern Eigenes entwickelt und alles zu einem neuen Bild verflochten. Zu einem Bild, in dem nicht alles nur erhaben, majestätisch oder gar bedrohlich daherkommt, sondern auch Brüche, Irritationen und sogar Unbefangenheit und Witz möglich sind. Wenn einer denn genau beobachtet:

„Um Mittag zeigte die Sonne, halb durchbrechend, das Bestreben, den Nebel in Bläue zu lösen. Ihr Versuch blieb fern vom Gelingen; doch eine Ahnung von Himmelsblau war augenblicksweise zu erfassen, und das wenige Licht reichte hin, die durch das Schneeabenteuer wunderlich entstellte Gegend weithin diamanten aufglitzern zu lassen. Gewöhnlich hörte es auf zu schneien um diese Stunde, gleichsam um einen Überblick über das Erreichte zu gewähren, ja, diesem Zweck schienen auch die einigen eingestreuten Sonnentage zu diesen, an denen das Gestöber ruhte und der unvermittelte Himmelsbrand die köstlich reine Oberfläche der Massen von Neuschnee anzuschmelzen suchte. Das Bild der Welt war märchenhaft, kindlich und komisch. Die dicken, lockeren, wie aufgeschüttelten Kissen auf den Zweigen der Bäume, die Buckel des Bodens, unter denen sich kriechendes Holz oder Felsvorsprünge verbargen, das Hockende, Versunkene, possierlich Vermummte der Landschaft, das ergab eine Gnomenwelt, lächerlich anzusehn und wie aus dem Märchenbuch.“

Und hier nun also kippen Eulen vom Ast, tanzen Schamanen auf Gletschern, fahren kleine Gnome umher oder sind es eingeschneite meteorologische Messstationen? Wer auf den fliegenden Teppich steigt, kann es vielleicht herausbekommen, kann auf Erkundungsreise gehen. Ganz ohne Kerosin. Das tut auch dem Winter, den Gletschern und dem Polareis gut.

* kursiv = Zitate aus Thomas Mann: „Der Zauberberg“, 1924

Kunstschnee einmal anders

«Weisses Rauschen – Aus der Eisfabrik»: Mirjam Kradolfer und Stefan Rohner beschwören den Winter im Kunstraum Engländerbau.

Als Ausflugsziel bietet sich Vaduz nicht gerade an, es sei denn als Anschauungsbeispiel für misslungene Fussgängerzonen-Möblierung. Gäbe es nicht das Kunstmuseum Liechtenstein, lockte einen wenig ins Städtle. Aktuell ist aber sogar das Kunstmuseum geschlossen. Bis Mitte Mai erhält es einen Anbau für die Hilti Art Foundation. Ob die private Kunstsammlung als Ergänzung oder gar als Bereicherung des hochkarätigen Programms des Kunstmuseums funktioniert, bleibt abzuwarten.

Nun gibt es aber einen anderen Grund, in Vaduz einen Stop einzulegen: Eine St.Gallerin und ein St.Galler beschwören hier den bislang nicht recht aktiven Winter. Mirjam Kradolfer und Stefan Rohner haben eigens für den Kunstraum Engländerbau, nur 100 Meter vom Kunstmuseum entfernt, ein ambitioniertes Projekt entwickelt. Ihre Ausstellung unter dem Titel «Weisses Rauschen – Aus der Eisfabrik» folgt der Faszination für den weissen Kontinent und für sein Pendant im Norden. Die beiden Kunstschaffenden haben sich durch die Expeditionsliteratur gegraben, belletristische Bücher und Texte über ewiges Eis und weisse Finsternis gelesen, haben Fotobücher und Filme zusammengetragen und sind den künstlerischen Auseinandersetzungen mit Schnee und Frost nachgegangen.

Und sie haben es geschafft, aus diesem Studium heraus etwas Eigenes zu entwickeln. Im vollständig weissen Ausstellungsraum inszenieren sie künstlich geschaffene Natur und Objekte an der Grenze zwischen surreal und archaisch. Während Christoph Büchel im St.Galler Wasserturm eine reale Kühlzellenklaustrophobie heranzoomt, begeben sich Rohner und Kradolfer auf Gedankenreisen, die aber kaum weniger intensiv wirken und trotz Frost und Frieren noch Platz für dezente Komik lassen. Unterstützt wurden sie dabei von den beiden Ausserrhodischen Musikern Sven Bösiger und Patrick Kessler und dem Holztüftler Damian Dünner. Sie sorgen für den richtigen Klang des Winters, der aus weit mehr besteht als aus frostigem Knistern und Knirschen.

Wer also im Rheintal in Richtung Süden unterwegs ist – vielleicht in die Skiferien – kann sich hier sehr gut in Stimmung bringen, wenn schon sonst alles so frühlingshaft anmutet.

Kunstschnee einmal anders

Alles Nichts Oder?!

Fünf junge Kunstschaffende aus Luzern haben vom Nextex eine Carte Blanche erhalten. (…) + ! = () betiteln sie ihre Schau und zeigen aktuelle und eigens entstandene Arbeiten.

Fülle und Verzicht, Kreation und Dekonstruktion, Reichtum und Zurückhaltung – die aktuelle Ausstellung im Nextex St.Gallen ist eine Präsentation der Gegensätze. Noch selten kamen Kontraste so selbstverständlich daher, so im Einklang miteinander und dennoch so spannungsvoll. Zum Beispiel das Ausbreiten und Verschwinden lassen: Ein Teppich aus 190 Zeichnungen ist auf dem Boden angeordnet. Manche der Blätter sind mit farbigen Schraffuren bedeckt, andere mit Bleistiftkrakeln, andere mit Skizzen. Viele Blätter sind mit wässriger Farbe bemalt, die meisten davon liegen jedoch mit der Schauseite nach unten, so dass nur das durch die Feuchtigkeit gewellte Weiss zu sehen ist. Und einige der weissen Rechtecke schliesslich sind ganz und gar unberührt. Sie liegen stärker links angeordnet, die gefüllten Blätter eher rechts. Die unscheinbare und doch gezielt vorgenommene Verteilung bringt das ganze Feld zum Wogen. Es balanciert zwischen schwer und leicht, zwischen Geste und Konstrukt. Zugleich integriert diese Installation den leicht ocker getönten, ungleichmässigen Boden des Nextex als Rahmen und Hintergrund.

Überhaupt zeigt sich mit „(…) + ! = ()“ einmal mehr, wie gut der Raum am Blumenbergplatz für Ausstellungen geeignet ist, wenn die Künstlerinnen und Künstler das richtige Gespür mitbringen. So wie Adrian Rast, Valentin Beck, Pascale Eiberle, Selina Buess, Sabrina Labis. Die fünf Studierenden der Kunst und Vermittlung an der Hochschule Luzern arbeiten seit über zwei Jahren im gleichen Atelier. Sie sind kein festes Kollektiv, doch immer wieder fusionieren sie für ihre Werke. Und selbst, wenn jeder eigenen Projekten nachgeht, spielen sich gegenseitig Ideen zu. Es ist also konsequent, dass sie im Nextex davon absehen, die Werke den Namen zuzuordnen. Ohnehin verstehen sie ihre Arbeiten nicht als endgültige Werke, sondern suchen und reflektieren damit ihre Erfahrungen und beziehen auch das Publikum ein. Es darf mitspielen, mitwerfen, darf Kreide mitnehmen, um Gedichte auf die Strasse zu schreiben, darf statt eines Cat Walks einen Fat Walk in ausgedienten Friteusekörben unternehmen oder Datteln essen, bis die Kerne als „Never Ending Candy“ im Mund bleiben. Aber auch wer bei zeitgenössischer Kunst lieber schaut, als kaut, hat einiges zu tun. Selbst in der kleinsten Versuchsanordnung noch oder im beiläufigsten Objekt verbirgt sich ein kleiner Kosmos, eine grosse Anspielung oder einfach nur ein guter Witz.

Daneben lohnen die Videos innezuhalten, wenn sich etwa vor einem Frauenschoss ein weisser Plastiksack aufbläht und wieder in sich zusammensinkt. Schon beginnen die Reflexionen über Konsum oder tradierte Frauenbilder. Aber auch Kunstgeschichte und Kunstkommerz sind Themen der Ausstellung. In einer Raumecke sind lackierte Gipstafeln klassisch gehängt wie in einer Galeriesituation. Das junge Künstlerkollektiv probt hier aber das Gegenteil von Marktstrategien: Wie die gesamte Ausstellung wird sich auch diese Installation an den folgenden zwei Donnerstagen verändern. Das Etablierte weicht dem Neuen, der Unbefangenheit, der schlichten Lust auf Kunst.

Von Hausierern und Hundejahren

Die Museen in Inner- und Ausserrhoden bieten auch im aktuellen Jahr ein vielfältiges Programm. Das Spektrum reicht von der Schule bis zu Schätzen, von Kunst bis Kinderfest. 

Kultur und Kunst überall: Im vergangenen Jahr begeisterten vielfältige Ausstellungen und Veranstaltungen das feiernde appenzellische Publikum und seine Gäste. Ist da nun ein Jahr Verschnaufpause nötig? Mitnichten. Auch im aktuellen Jahr müssen Kulturfreundinnen und -freunde nicht darben.

In den Museen gibt es ein reiches Programm von Kunst bis Handel, von Schule bis zu Schränken, von Festen bis Frömmigkeit. Letztere wird beispielsweise in Appenzell thematisiert: Mit „Wunderschönprächtig Volksfrömmigkeit – Gegenstände und Zeichen“ ist im Museum Appenzell die besondere Ästhetik der kunsthandwerklichen Produktion zu entdecken, angereichert wird sie mit Kunst: Die zeitgenössischen Kunstschaffenden lassen sich durch die erlesenen Schätze der Museumssammlung zu manch wundersamem Werk inspirieren.

Wie befruchtend dieser Dialog von aktueller Kunst und Anderem sein kann, ist seit anderthalb Jahren im Zeughaus Teufen zu erleben. Ab März werden dort bemalte Appenzeller Möbel gezeigt, zugleich sind Künstlerinnen und Künstler eingeladen. So ist es nur schlüssig, dass der Ausstellungstitel „Bauernkunst?“ mit einem Fragezeichen daher kommt. Denn einerseits erforscht Gastkurator Marcel Zünd die Sozialgeschichte der Möbel, die oft den Bürgern auf dem Lande gehörten. Andererseits werden die Grenzen längst in alle Richtungen überschritten. Die Ausstellung in Teufen findet parallel zu einer Bauernkunstpräsentation im Kunstmuseum St.Gallen statt und es wird interessant, beide zu vergleichen.

Vergleiche sind auch in Urnäsch möglich: Hier zeigt das Brauchtumsmuseum eine Ausstellung zum Urnäscher Kinderfest und seinen Geschwistern in St.Gallen und Herisau. Ein Schwerpunkt wird das Fest des vergangenen Jahres sein, zudem wird die Festgeschichte seit 1851 erforscht. Historisches ist auch Thema der „Schulzeitzeugnisse“ im Museum Heiden. Hier arbeitet ein Team die Geschichte der Schule Heiden seit dem Bau des Zentralschulhauses 1900 auf. Die umfangreiche Publikation ist mehr als ein Nebenprodukt und lohnenswert auch für Nicht-Heidener. Schliesslich haben jede und jeder so ihre Erfahrungen mit der Schule. Erlebte Begegnungen werden viele auch ins Appenzeller Volkskunde-Museum Stein locken. Dort geht Gastkuratorin Iris Blum den Trücklichrömern und Verkaufsberatern nach. Sie arbeitet deren Unterschiede und Gemeinsamkeiten heraus. Anschauliche Objekte zeigen Waren, Verkaufstechniken, aber auch die Lebensgeschichten der Hausierer und Handelsreisenden.

Gewohnt hochkarätig geht es im Museum Liner Appenzell zu. Dort wird ab Ende Januar Günter Grass´ Bilderzyklus „Hundejahre“ gezeigt. Das ist der Auftakt für ein Jahr im Zeichen des Spannungsfelds zwischen Kunst, Gesellschaft und Individuum in den 1950er und 1960er Jahren. Dazu gehört auch die grosse Ausstellung „Wols – Das grosse Mysterium“ab Juni. Vieles mehr liesse sich zum Programm des Museum Liner und der Kunsthalle Ziegelhütte schreiben, aber auch zu Projekten im Museum Herisau oder dem Museum für Lebensgeschichten in Speicher. Aber nichts kann das Selbersehen ersetzen: Auf in die reiche Ausser- und Innerrhodische Museumslandschaft.

Leise knistert der Frost

Eine Reise zum Pol ist eine Reise ins Ungewisse, das Individuum ist im Zentrum von Frost und Entbehrungen ganz auf sich geworfen. Mirjam Kradolfer und Stefan Rohner gehen mit diesem vielbehandelten Thema erstaunlich unbefangen um und entdecken gar kuriose Aspekte.

Arktis, Gletscher, Packeis, Polarmeer – wenn von entlegenen Gegenden die Rede ist, sind diese Gebiete selten gemeint. Exotische Sehnsüchte lassen sich anderswo leichter bedienen, zu unwirtlich ist es jenseits des Polarkreises. Und doch: Der ewige Frost und Schnee, das Eis und die langanhaltende Dunkelheit lassen Mythen und Märchen ebenso wachsen wie Entdeckerträume und Forscherehrgeiz. Die Pole bieten der ins Weiss gerammten Nationalflagge ebenso Raum wie den Halluzinationen Erfrierender. Hier schliesst die Technikschlacht im Dienste zeitgenössischer Wissenschaft weder hartnäckige Legenden über archaisch dämonische Schneewesen aus noch die Begeisterung für die Magie des Ortes. Ein ergiebiges Feld also – auch für die Kunst. Seit Caspar David Friedrich in „Das Eismeer“ Schönheit und Schrecken zusammengebracht hat, ist einiges passiert, sowohl auf künstlerischem, wie auf literarischem Gebiet. Mirjam Kradolfer und Stefan Rohner haben viel Material zusammengetragen, bevor auch sie für sie die Eiszeit anbrach. Die beiden St.Galler haben Belletristik und Entdeckerliteratur erkundet, Fotokunst und Filme gesichtet. Und sie haben es geschafft, sich von diesem ganzen Ballast nicht erdrücken zu lassen, sondern daraus ihre eigene unbefangene Version der nördlichen Schneewelt zu entwickeln.

Der Kunstraum Engländerbau in Vaduz bietet dafür die ideale Folie, ist doch bei diesem White Cube sogar der Boden weiss. Hier nun setzen Kradolfer und Rohner eine Polarlandschaft in Szene und spielen dabei mit all den Ambivalenzen, die das endlose Eis ins sich birgt. So lassen sie etwa seltsame Zottelwesen umherstreunen. Sind es mutierte Eisbären oder doch nur beraureifte Sensoren aus der meteorologischen Station? Und jene Objekte auf Holzpaletten: Sind es ethnologisch interessante Fundstücke oder die Hinterlassenschaften einer Forschergruppe? Die Künstlerin und der Künstler siedeln ihre Ausstellung im Engländerbau genau in jenen Zwischenbereichen an, wo Wissen noch nicht konkret und Legenden noch im Realen verwurzelt sind. Dort, wo die Eiszapfen horizontal wachsen und Kopfreisen auf dem fliegenden Teppich beginnen, hinaus aus dem geheizten und umgrenzten Ausstellungsraum, hinaus aus dem begrenzten Weiss in den endlosen Schnee, in die endlose Leere. Dorthin, wo das Weiss wirkt wie eine unbemalte, grundierte Leinwand, wie ein unbeschriebenes Blatt, wie eine unendlich grosse Projektionsfläche für Geschichten, Gedanken, Bilder.

Dani Gal in der Kunst Halle Sankt Gallen

Konstruiert die Sprache die Wirklichkeit? Die Wahrheit? Die Vergangenheit? Dani Gal arbeitet mit Sprache, mal offensichtlich, mal begleitend zu seinen historischen Forschungen. In einer achtjährigen Arbeitsphase hat der in Jerusalem geborene Berliner Künstler (*1975) alle Beispielsätze aus dem Oxford Dictionary herausgelöst. In der Kunst Halle Sankt Gallen werden jeweils zwei dieser Sätze per Zufallsprinzip parallel projiziert: Sie haben vielleicht nie wieder denselben Vorgänger oder Nachbarn und doch verknüpfen sie sich in ihrer Abfolge automatisch zu einer assoziativen Erzählung.

Dani Gal arbeitet das Potential vermeintlich neutraler Sätze, bewusster oder zufälliger Auslassungen und kleinster inhaltlicher oder grammatikalischer Verschiebungen heraus.

Das Herzstück der Ausstellung ist sein Film „As from Afar“. Er wurde von der Kunst Halle Sankt Gallen koproduziert und thematisiert im Stil eines Reenactment die Freundschaft zwischen dem Holocaustüberlebenden Simon Wiesenthal und Albert Speer. Die Freundschaft ist real, doch die Gespräche sind fiktiv und sie werden vom Künstler vor den Hintergrund des sprachphilosophischen Werkes Wittgensteins gesetzt. Das Wittgenstein auch als Architekt arbeitete, ist für Gal noch ein Anlass mehr für seine komplexen Zeit- und Raumverschränkungen.