Ulrike Kristin Schmidt

Gesammelte Texte

Kinnhaken und Kunst

Die Rotes Velo Tanzkompanie präsentiert das aktuelle Stück von Exequiel Barreras: „Uppercut“ thematisiert Kampf und Leiden genauso wie Stärke und Schönheit.

Frauen kämpfen gegeneinander, der Preis für die Siegerin ist ein Bräutigam. Was nach einem fragwürdigen Fernsehformat klingt, ist ursprünglich ein Schauspiel des Argentiniers Daniel Veronese. Die St.Galler Rotes Velo Tanzkompagnie hat daraus ein vielschichtiges Tanzstück entwickelt und spielt darin durchaus auch aufs Reality-TV an. Gleichzeitig stecken aber viele, grosse Themen in der Vorlage. Sie werden ebenso intelligent wie kritisch auf der Bühne der Grabenhalle verhandelt.

Der Raum ist in eine Boxarena verwandelt, mit einer weissen quadratischen Kampfzone in der Mitte. Das Publikum sitzt auf allen vier Seiten. So sind die Tanzenden eingekesselt, kein Entrinnen ist möglich. Und es geht um nichts weniger als um Sieg oder Niederlage. Gegensätze dominieren die Szene: Licht und Dunkel, Schwarz und Weiss, Freiheit und Gefangensein. Der Wahl der Mittel sind dabei keine Grenzen gesetzt. Die Tänzerinnen und Tänzer – alle Mitglieder der Tanzkompanie am Theater St. Gallen – gehen aufs Ganze. Yannick Badier, Zaida Ballesteros, Hella Immler, Emma Skyllbäck, Tobias Spori zeigen radikal und schonungslos, wozu der Mensch fähig ist, wohin er sich treiben lässt und was er sich selbst antut. Immer wieder finden sie starke und ungewohnte Bilder. Wenn sich etwa jede der drei Tänzerinnen ihren eigenen Hieben aussetzt, so ist das mehr als nur eine Metapher für das Geschlagenwerden, sondern auch dafür, wie brutal und zerstörerisch der selbstgewählte Medienexhibitionismus für ein Individuum sein kann.

Indem die Requisiten auf ein Minimum reduziert werden, wird das Potential eines jeden einzelnen Elementes stärker herausgearbeitet. Ein Seil wird zur Fessel, zum Lasso, zur Prothese, zum Netz, zum Springseil, es wird in Beziehung gesetzt zu Korsageschnüren und Feinstrumpfhosen. Beeindruckend, mit welcher körperlichen Intensität und Perfektion die Tanzenden arbeiten, wie sie zusätzlich singen, rezitieren, wie selbstverständlich dabei der eingespielte Ton (Musikdesign: Pablo Carosio) und die selbst artikulierten Passagen ineinander übergehen. Diese fünf beeindrucken in allen Sparten und selbst unter extremen Bedingungen. Etwa Hella Immler, gemeinsam mit Barreras Mitbegründerin der Kompanie: Gefesselt, mal am Haken meterhoch über dem Boden hängend, mal auf einem Bein, das andere hochgeschnürt, übersetzt sie Hingabe, Ausgeliefertsein, Abneigung, Stärke in drastische, stets souverän ausgeführte Bewegungen.

Emma Skyllbäck wiederum gibt, von Kopf bis Fuss in Feinstrumpfhosen eingehüllt, überzeugend die Frau im Zentrum unterschiedlichster Ansprüche und Schikanen. Idee und Ausdruck führen den engagierten Diskurs weiter, den Performancekünstlerinnen in emanzipatorischem Sinne angestossen haben.

Die Rotes Velo Tanzkompanie hinterfragt Rollenbilder und Verhaltensmuster, visualisiert Überlebensstrategien und Konkurrenzgebahren. Das alles ist choreographisch und tänzerisch höchst durchgestaltet. Auch die Kostüme (Exequiel Barreras und Emilio Diaz Abregu) und das Lichtdesign (ebenfalls Abregu) sind Teil eines stimmigen Gesamtwerkes.

Schaukasten Herisau, die vorletzte

Der Künstler Christian Ratti hat für den Schaukasten Herisau den Abbruch des Kamins der Zielfabrik Appenzell recherchiert. Es ist eine Geschichte voller Zufälle und Seitenwege.

Warum sollen wir uns für Kamine interessieren? Weil sie Landmarken sind? Zeugnisse der Industriegeschichte? Weil sie sich typologisch klassifizieren lassen? Oder weil sich gute Kunst mit ihnen machen lässt? Letzteres funktioniert, wenn ein selbsternannter Kamindirektor seine Hand im Spiel hat und als solcher auf einen Künstler mit einer Kaminepisode im Lebenslauf trifft. Und es funktioniert selbst dann, wenn der Kamin, um den es geht, gar nicht mehr steht. Das klingt nicht nur verworren, das ist es auch: Die Geschichte hat viele Stränge, die nun im Schaukasten Herisau entwirrt werden.

Der Geschichtenerzähler ist Christian Ratti. Der Zürcher Künstler (*1974) ist in vielen Gefilden unterwegs, und es kommen immer neue hinzu. So hat er sich während seines Atelieraufenthaltes in Nairs zum Kamindirektor berufen, ist Garderobenmarkensammler, hat die Dolologie begründet, kümmert sich um Industriekultur und die Lebensräume des Alpenlangohrs. Und er reist mit dem Zuge – genau wie Roman Signer. So kam es denn im vergangegen Jahr zu einer höchst zufälligen und folgenreichen Begegnung in der Eisenbahn: Der eine Künstler berichtete dem anderen von seiner Leidenschaft für Kamine und der andere daraufhin dem einen über das spektakuläre Ende des Kamins der Zielfabrik in Appenzell. Das besondere daran: Roman Signer war selbst an jenem Ereignis beteiligt. Der Kamin jedoch wurde nicht, wie heute üblich, gesprengt, sondern umgerissen. In der Lokalpresse von 1948 las sich das so: „Gestern Abend wurde dem Kamin eine Schlinge um den Hals und dann eine um den Rumpf gelegt und es mit vereinten Kräften zum Einsturz gebracht.“ Eine Geschichte, wie geschaffen für Christian Ratti.

Ratti ist ein Künstler ohne Werk. Er reagiert auf Orte und Räume, forscht nach, weitet den Radius aus und gibt so schnell nicht auf. Das zeigt sich auch in der aktuellen Schaukastenarbeit. So erinnerte sich Roman Signer daran, dass Fotograf Werner Bachmann die Umsturzaktion aufgenommen hatte. Aber die Bilder waren im Nachlass nicht zu finden. Erst als Ratti beim Feuerwehrkorps in Appenzell nachfragte, kamen die Aufnahmen zutage, die nun im Schaukasten Herisau installiert sind. Dort ist der Fall des 23 Meter hohen Kamins vor 65 Jahren nun noch einmal zu sehen. Das Seil der Feuerwehrleute aber ersetzt eine schnurgerade handschriftliche Schilderung der merkwürdigen Zufälle, die das Werk erst entstehen liessen und die ohne Rattis Gespür für das Potential einer Geschichte wohl nicht eingetroffen wären. Dass obendrein und ausgerechnet Roman Signer der nächste und gleichzeitig letzte Künstler im Schaukasten Herisau sein wird, verwundert schon fast nicht mehr.

Alexandra Maurer – ausgeleuchtet

Einführung zur Ausstellung im Architekturforum Ostschweiz im Lagerhaus St. Gallen

Grauen und Grube und Garn über dich, Bewohner der Erde! Wer flieht vor dem Tode des Grauens, der fällt in die Grube, und wer aus der Grube emporsteigt, der fängt sich im Garn; denn die Fenster droben sind aufgetan, und die Grundfesten der Erde erbeben. Es zerbricht, zerbirst die Erde, es zerspringt, zersplittert die Erde, es wankt und schwankt die Erde. Hin und her taumelt die Erde wie ein Trunkener und schaukelt wie ein Hängebette. Schwer lastet auf ihr ihre Missetat, dass sie fällt und nie wieder aufsteht.

Jesaja 24, 17 – 20

Die Erde bebt. Alles geht unter und der Mensch mittendrin. Es trifft alle Geschöpfe, die Schuld auf sich geladen haben. Das Erdbeben als göttliche Strafe. Doch wie passte das Erdbeben in Lissabon in dieses Bild?

Am 1. November 1755 zerstörte ein Erdbeben die portugiesische Hauptstadt fast vollständig. Es erreichte eine geschätzte Stärke von etwa 8,5 bis 9 auf der Richterskala und gilt als eine der verheerendsten Naturkatastrophen in der europäischen Geschichte. Das Erdbeben riss meterbreite Spalten in den Boden. Schwere Brände breiteten sich aus. Das Meer wich erst zurück, so dass auf dem Hafenboden Schiffswracks und verlorene Waren freigelegt wurden. Kurz darauf überrollten meterhohe Flutwellen den Hafen und schossen den Tejo flussaufwärts. Die Tsunamis löschten zwar die Feuer, rissen aber durch ihre Wucht die noch stehenden Gebäude mit sich. Das Erdbeben zerstörte auch fast alle Kirchenbauten in Lissabon; nicht jedoch das Rotlichtviertel, die Alfama.

Die Katastrophe erschütterte den damals vorherrschenden «Aufklärungsoptimismus», denn wie konnte ein allmächtiger und gütiger Gott ein so gewaltiges Unglück zulassen? Und warum passierte es am Festtag Allerheiligen? Warum zerstörte es die christlichen Stätten, das Rotlichtviertel jedoch blieb verschont? Das Erdbeben löste nachhaltige philosophische Debatten aus. Briefe und Schriften zu diesem Unglück gingen durch die Welt, und auch Bilderfolgen verbreiteten sich weit und rasch.

Damals kursierten nach allen grossen dramatischen Ereignissen Flugblätter, etwa nach dem Ausbruch des Vesuv 1631 oder dem grossen Brand von London 1666. So auch von Lissabon. Gemeinsam ist all diesen Katastrophenbildern: Stets wird die Zerstörung dargestellt und wenn überhaupt sind kleine Figuren zu sehen, die das Ereignis beklagen. Das Hauptaugenmerk gilt also den Einzelobjekten. Detailgetreu oder malerisch werden die ruinierten Gebäude gezeigt, die schönen Trümmer.

Erstaunlicherweise gibt es diese Tendenz bis in die heutige Zeit, so beispielsweise in den Fotografien des Japaners Ryuji Miyamoto: Seine Aufnahmen des durch ein schweres Erdbeben zerstörten Kobe waren auf der Documenta 11 in Kassel zu sehen. Die hochästhetischen Schwarzweissaufnahmen wurden beispielsweise in der taz als »wunderbar« bezeichnet, weiter war zu lesen: »Die Atmosphäre auf den Fotografien ist fein, kühl, fast sachlich. Aus Hochhäusern herausgebrochene Platten, zusammengepresste Reklametafeln, regelmäßig zerknitterte Jalousien und herabgefallene Stahlträger lassen eine andere Stadt hinter der Stadt sichtbar werden.« Die Berliner Zeitung schrieb gar von »dekorativer Beschaulichkeit«.

Ob Kupferstiche oder fotografische Aufnahmen – die Bilder thematisieren die Ästhetik, die der Naturkatastrophe folgt. Doch wie lässt sich die eigentliche zerstörerische Kraft fassen? Wie kann ihre Wirkung auf den Menschen selbst angemessen künstlerisch umgesetzt werden?

Alexandra Maurer stellt die Menschen ins Zentrum ihrer Arbeit. In St.Gallen waren ihre Arbeiten unter anderem in der Galerie Paul Hafner zu sehen und anlässlich der Verleihung des MANOR-Kunstpreises im Kunstmuseum St.Gallen: Die Künstlerin visualisiert mit kraftvollen Bildern intensive Körpererlebnisse. Immer wieder konzentriert sie sich auf physische Extremsituationen. Sie zeigt Menschen in Bedrängnis, unter Gewalteinwirkung oder während Höchstanstrengungen. Und sie zeigt sie nicht nur. Sie arbeitet mit einer Bildsprache, die diesen Erfahrungen, ihrer Drastik, ihrer Unmittelbarkeit und ihrer Unerbittlichkeit entspricht. Gleiches gilt für den Sound, für den die Künstlerin mit dem kolumbianischen Komponisten Daniel Zea zusammenarbeitet.

Maurer wechselt Rhythmen und Geschwindigkeiten und setzt Brüche in den Bilderfluss. Sie fügt Bildmaterial unterschiedlicher Provenienz zusammen: Da gibt es dokumentarisches Material, von der Künstlerin selbst aufgenommene Sequenzen und dann die übermalten Stills. Sie sind ein besonders markantes Stilmittel Alexandra Maurers: Sie projiziert ausgewählte Standbilder auf Papier und hebt mit Malerei jene Elemente hervor, die sie besonders interessieren. Diese gemalten Bilder werden mal mit oder mal ohne Projektion im Hintergrund erneut abfotografiert, wieder zu einer Sequenz zusammengeführt und mit den andren filmischen Sequenzen verbunden. Die heterogenen Elemente vermischen sich in einer durchchoreografierten Komposition.

Für die grosse Videoinstallation in der Ausstellung »ausgeleuchtet« heisst das: Alexandra Maurer fügt selbst gefilmte Innenauaufnahmen, Amateurvideos, Sequenzen aus Mark Robsons Spielfilm »Earthquake« (1974) und malerisch überarbeitete Bilder und Videos der eigenen Aufnahmen zusammen. Gemeinsam ist ihnen das Thema »Erdbeben«.

Schon in ihren früheren filmischen Aufnahmen arbeitete Alexandra Maurer mit professionellen Tänzerinnen und Tänzern zusammen. Und so ist es auch jetzt: Nach Anweisung der Künstlerin führen zwei Tänzerinnen und ein Tänzer die körperlich anspruchsvollen Aktionen und Bewegungen aus. Sie bat die drei in den Erdbebensimulator des erdwissenschaftlichen Forschungs- und Informationszentrums Focus Terra der ETH Zürich. Dort ist es möglich, die Erschütterungen konkreter Erdbeben zu simulieren. Alexandra Maurer wählte das Beben von Chichi in Taiwan 1999. Es war ein ausgesprochen heftiges Erdbeben mit sehr plötzlichem, raschem Beginn. Die Tänzerinnen und der Tänzer sind mit den starken, von aussen kommenden Bewegungen konfrontiert. Sie müssen auf die Einwirkungen reagieren, sie versuchen sich mitzubewegen, doch je länger das Beben im Simulator dauert, desto weniger gelingt es ihnen. Sie verlieren sich, verlieren die Kontrolle über ihren Körper. Teilweise sind die Aufnahmen der Überwachungskamera zu sehen, teilweise sind mit einer am Körper befestigten Kamera entstanden. So sind die Dynamik der Tänzer und deren Ausgeliefertsein gegenüber den körperexternen Bewegungen noch intensiver nacherlebbar. Gesteigert wird die Intensität ausserdem durch die Übermalungen. Die leuchtenden Töne, die fliessende Farbe nimmt den Bildern einmal mehr ihren Halt. Alles rutscht, gleitet, löst sich auf.

Unterbrochen werden die intensiven Bilder von Filmen, die Betroffene in Katastrophengebieten mit ihren Amateurkameras aufgenommen haben. Die Aufnahmen der Gebäude, der fallenden Teile, der stürzenden Menschen sind verschwommen, verwackelt und entsprechen in ihrer Ästhetik der Gesamtsituation, da sie nicht nur Abbild dieser sind, sondern Teil derselben.

Florian Dombois, Künstler, Geophysiker und seit 2012 Leiter des Forschungsschwerpunktes Transdisziplinarität an der ZHdK, fragte in seiner Dissertation nach dem Verhältnis zwischen der Form der Darstellung und dem Inhalt »Erdbeben« und schlägt die Transponierung der Erdbewegung in das Akustische vor, statt sich auf das Visuelle zu fixieren. Erdbeben lassen sich ihm zufolge mit dem menschlichen Gehör sehr viel schneller und genauer erfassen. Hier setzt auch Alexandra Maurer an. Sie fixiert sich ebenfalls nicht auf das Visuelle, sondern schafft vielmehr vier Ebenen: Die visuelle, die akustische, die körperliche und die räumliche. Akustisch arbeitet sie mit so tiefen Bässen, dass sie körperlich spürbar sind.

Sie hatte dies bereits in der Performance Tremblements (Vorstufe II) vorbereit: Bei der vorletzten Ausstellung der Kunsthallen Toggenburg auf der Alp Sellamatt wurde in einem Stall ein Erdbeben durch tiefe Bässe simuliert. Tänzer nahmen die akustischen, physisch erlebten Impulse auf und interpretieren das künstlich ausgelöste Erdbeben.

Hier nun ist der Rahmen ein anderer und auch hier arbeitet Maurer souverän mit der Gesamtsituation. Statt einer offenen, einladenden Eingangssitutation neigt sich eine Wand den Eintretenden entgegen. Die Projektion erfolgt auf eine weitere schräg gestellte Wand. Gerahmte Bilder hängen nicht, sondern stehen angelehnt an Wand und Pfeiler. Die Linien kippen, es gibt auch hier keinen Halt.

»Erdbeben« wird ergänzt durch weitere Arbeiten wie die grosse, gleichnamige Malereinstallation. Entstanden ist sie während des letztjährigen Atelieraufenthaltes der Künstlerin im Rahmen des Landis und Gyr-Kulturstipendiums in Berlin. Maurer bringt hier erneut die körperliche und die räumliche Ebene zusammen, wobei der Raum selbst wiederum in viele Ebenen gegliedert ist. Menschen sind zu sehen, doch niemals ganz. Sie sind fragmentiert, sind gefangen in architektonisch anmutenden Strukturen. Sie leuchten auf zwischen schwarzen Balken oder Rohren. Die Menschen hängen dazwischen, stemmen sich dagegen und wirken dennoch ausgeliefert. Die Strukturen überschneiden sämtliche Blätter. Sie ziehen sich über die gesamte Breite und Höhe des zusammengesetzten Bildes. Maurer arbeitet hier mit einem erweiterbaren Modulsystem, das jedoch nicht beliebig daherkommt, sondern auf einen Höhepunkt hin choreographiert ist und danach von einer abfallenden Linie geprägt wird. Durch die Dimension der Wandarbeit ist der Mensch Teil des ganzen, selbst, wenn er vor der Wand steht.

Statt Erdbeben oder vielmehr ihre Ergebnisse zu illustrieren, gelingt es Alexandra Maurer, ihren Verlauf, ihre direkten Auswirkungen nicht nur auf die Gebäude, sondern auf den Menschen selbst zu erfassen.

Köder in der Kunsthalle

Joëlle Allet untersucht das Schwarmverhalten von Tieren und Menschen. In der aktuellen Ausstellung in der Kunsthalle Will zeigt sie präzis gesetzte Werke zu einem vielbeachteten Phänomen.

Alles selbstverständlich – der Raum ist bestuhlt, die Kunst hängt an Drähten von der Decke, die Plastik thront auf dem Sockel. Und doch ist alles anders. Die Stühle zum Beispiel. In sechs Reihen stehen sie da, einer so schwarz wie der andere, alle basieren auf dem Modell „classic“ der ältesten Stuhl- und Tischmanufaktur der Schweiz. Aber sie sind in Schieflage, kippen nach rechts oder links, stehen da wie auf Stelzen, so dass nicht nur Kinderbeine baumeln. Sie sind weniger Sitz- als Bewegungsmöbel und entsprechen der menschlichen Unrast, im wörtlichen wie im übertragenen Sinne. Denn Joëlle Allet (*1980) nennt ihre Installation „Audience Flow“ und stellt damit den Bezug zum unsteten Zuschauerverhalten her, beschreibt der Begriff doch die Umschaltlust der Fernsehenden. Mitten in der Sendung und erst recht nach ihrem Schluss reizt es sie, den Sender zu wechseln. Das ist den Programmverantwortlichen nicht entgangen. Wie also das Publikum fesseln? Die Manipulationsversuche sind zahlreich. Aber wie die Stühle bei Allet sind auch die Zuschauenden bei allen Ähnlichkeiten keine einheitliche Menge. Die einen denken selbst, die anderen lassen sich ködern. Wenigstens sind die Konsequenzen für Menschen weniger schmerzhaft als für Tiere, wenn sie eigens platzierten Verlockungen erliegen.

Joëlle Allet hat die Angeln im Obergeschoss ausgeworfen: Drahtseile mit wunderschönen Ködern daran – gläsern, silbrig, die spiegelglatte Oberfläche sanft gewölbt, schwerelos wie Andy Warhols Silver Clouds, aber mit Kiemen und Flossen. Es sind abstrahierte Fischkörper wie sie ähnlich auch beim Spinnfischen eingesetzt werden. Die Künstlerin hat sie aus dem üblichen Kunststoffmaterial in Glas übertragen und ins Riesenhafte vergrössert. Verführerisch und zerstörerisch, denn der Metallhaken gehört auch dazu. Er ragt durchs Maul der Attrappen hinein und mit Spitze und Widerhaken aus ihrem Bauch wieder heraus. Er ist der unverzichtbare Bestandteil der Köder, ohne ihn wäre das Lockmittel nutzlos, er ist der Stachel im gläsernen Fisch.

Die junge Künstlerin aus Sirnach (geboren in Leukerbad) verwandelt Gebrauchsobjekte, verändert ihre Gestalt, Grösse oder Materialität, kombiniert sie miteinander oder multipliziert sie. Daraus entwickelt sie hintergründige Realitätsverschiebungen und Irritationen. So zeigt ein zartes Gespinst auf weissem Sockel erst auf den zweiten Blick seine Widerhaken. Allet hat es aus Angelhaken zusammengelötet. Sie umkreisen und behaken einander, bilden eine homogene Menge und bestehen doch jeder für sich; genauso wie die Einzelwesen eines Fisch- oder Vogelschwarms.

In kleinformatigen Kaltnadel-Radierungen bannt Allet die Dynamik der Schwärme. Es sind kleinformatige, energiegeladene Bilder in souveränem Zusammenklang von Material und Inhalt. Kleinste Striche fügen sich zur grossen Masse. Mal vereinigen sie sich zu einem Strudel, mal strömen sie auseinander und ballen sich wieder. Das Individuum bleibt stets Teil des Ganzen.

Schwarmintelligenz wird längst nicht mehr nur im Tierreich lokalisiert. Allet zeigt eindrücklich, wohin sie führen kann.

Grossstadtflair in Trogen

Endlich. 2013 gab es keine, nun ist es wieder soweit: Karin Bühler lädt zu einer neuen Ausgabe ihrer Ausstellungsreihe Le Lieu. Heute Abend gibt es den zweiten Teil, und nur heute Abend.

Wieder eines dieser kleinen, feinen Kunstereignisse in Ausserrhoden: Im Palais Bleu ist fast unbemerkt die neunte Ausgabe der Ausstellungsreihe Le Lieu gestartet.

Fast unbemerkt, weil auf ein Minimum reduziert, zumindest, was die Zeitspanne anbetrifft. Am 18. Januar fand der erste Teil statt. Heute, Freitag, gibt’s den zweiten. Beide nur jeweils einen Abend lang und doch unbedingt sehenswert.

Die junge Zürcher Künstlerin Angela Wüst hat für das Palais Bleu passgenaue Arbeiten entwickelt. So ist es immer in der Reihe Le Lieu: Die Trogener Künstlerin Karin Bühler lädt in losen Abständen Kuratorinnen oder Kuratoren ein, die dann ihrerseits Kunstschaffende ins Palais Bleu bitten.

Sie arbeiten mit dem Haus, seiner Geschichte, seiner Lage und so manchen ausserrhodischen Besonderheiten. Angela Wüst haben es die Appenzeller Häuser rings um das ehemalige Bezirksspital angetan. Doch sie blickt nicht mit dem verzückten Blick einer Auswärtigen, einer Grossstädterin auf diese Bauten, sondern mit dem Interesse einer raumbezogen arbeitenden Künstlerin.

Wüst arbeitet seit längerem am räumlichen Aspekt der Fotografie als einem abstrahierenden Medium. Schliesslich bildet eine Fotografie jeden Raum nur zweidimensional ab. Was vorher räumlich war, ist in der Aufnahme flächig. Zwischenräume verschwinden. Volumen und Tiefe werden bestenfalls durch Überschneidungen, Grössendifferenz oder Perspektivbrüche wiedergegeben. Das beschneidet die Landschaft – und die Architektur. Wie ihr den Raum, den Körper zurückgeben?

Angela Wüst fotografiert die Gebäude mit Diafilmen. Anschliessend projiziert sie die Aufnahmen auf gestapelte Baumaterialien und fotografiert erneut. Die Leisten und Bretter werfen Schatten. Ihre Volumina schreiben sich nun in die fotografische Zweidimensionalität der abgelichteten Fassaden ein. Klingt kompliziert, klingt nach Illusionismus, ist aber konzeptuell und auch einfach schön anzusehen.

Genauso wie die grosse Arbeit im Aussenraum. Dort verwandelte Wüst den Hinterhof des Palais Bleu in eine Grossstadtfassade. Reihenweise Stockwerke, hoch aufragend, austauschbar und doch von Individuen bewohnt. Sanft zogen graue Schatten darüber hinweg – waren es Wolken oder Mouches Volantes, jene Glaskörpertrübungen, die vor unserem Gesichtsfeld einher fliegen? Oder Lücken in der Erinnerung der Weggezogenen? Wüst schafft starke Bilder und lässt doch genügend Raum.

Intervention Teil II, heute ab 18 Uhr mit Toast und Barbetrieb im Palais Bleu.

Saitenblog: http://www.saiten.ch/grossstadtflair-in-trogen/

Weltenbummler aus Fensterkitt

Die Verträumten haben es manchmal nicht leicht, in einer Welt, in der alle und immer unterwegs sind. Aber wenn sie sich nicht beirren lassen, finden sie ihr Glück, so wie der kleine Piet in einem Stück des Berliner TheaterGeist.

Wer sucht, der findet. Doch bei weitem nicht immer das Gesuchte, sondern mitunter etwas ganz anderes. Etwas, dass gar nicht vermisst wurde. Das vielleicht schon ganz lange versteckt, verborgen ist und nun umso grössere Wiedersehensfreude bereitet. Es erzählt Dinge aus einer anderen Zeit, ruft alte Bilder und Geschichten hervor. So geht es Mariken. Eigentlich waren die weissen Tanzschuhe verschwunden, statt dieser taucht eine alte Kiste auf – voller Kinderschätze. Eine Lampe vom alten Leuchtturm gehört dazu, ein Fernrohr und ein Modell vom Fischkutter „Rosemarie“. Kein Wunder, dass der geplante Tanzabend in weite Ferne rückt. Erst einmal geht’s nun zurück in die Kindheit und von dort auf Reisen übers weite, weite Meer.

Das TheaterGeist hat die Ostsee ins Figurentheater St.Gallen gebracht, inklusive Möwengeschrei, Wellen, Sturm und Strandläufer. Von diesen gibt es viele, aber es gibt nur einen Piet. Der kleine Strandläufer verzettelt sich, ist verträumt, oder eben vertüddelt, denn ein bisschen hanseatisch gehört zu einer Ostseegeschichte. So kommt Piet denn auch zu spät zum Abflugtermin des Vogelschwarms. Was nun? Piet ist keiner, der aufgibt. Er glaubt an sich, er kann auch ohne die anderen, er ist klein und hat einen grossen Mut. Und schliesslich reist er den anderen hinterher.

Annegret Geist erweckt ein Klumpen Fensterkitt zum Leben. Schon fliegt er übers blaue Meer, der weit entfernten Tundra entgegen, fliegt und fliegt und lässt sich nicht von Fischernetzen oder Hunger, ja nicht einmal von seiner kleinen Angst unterkriegen.

Tundra, Hühnergötter, Windstärke 12 und die kleine Angst – die Berlinerin verwendet für all dies anschauliche Bilder. Nicht solche, die alles erklären, sondern solche, die der Vorstellungskraft Schub geben und selbst die abstraktesten Dinge noch begreiflich machen, weil sie sich an das anlehnen, was selbst Kinder kennen. Auch wenn sie nie am Meer gewesen sind und schon gar nicht in der Tundra. Annegret Geist übersetzt beispielsweise die ganze Beaufortskala teils in Worte, teils in Bewegungen und Mimik. Ihre lebendige Sprache enthält immer wieder plattdeutsche Einsprengsel und richtet sich an jedes einzelne Individuum im Publikum. Jede und jeder darf sich angesprochen fühlen vom manchmal etwas forschen, manchmal selbst etwas vertüddelten Mariken.

Die Möwen hingegen kreischen immer nur den armen Piet an. Wird er es schaffen? Die runde Bühnenscheibe schwankt, blau ist sie auf der einen und mit einer Landkarte bedruckt auf der anderen Seite. Sie ist die weite See und das ferne Ziel. Und am Ende wird Piet angekommen sein, auch wenn es nicht die Tundra ist. Und Mariken wird zum Tanz gehen, zu ihrem Matten, der einmal der „Lütt Matten“ war. Beide Figuren sind nicht ganz zufällig dem Kinderbuchklassiker von Benno Pludra entnommen: Auf diesem beruht die nächste Produktion des Theaters Geist. Auch „Kleiner Piet – was nun“ ist einem Kinderbuch entlehnt, geht aber weit über die Vorlage hinaus und lässt noch lange schöne Bilder im Kopf zurück.

Gras und Chromosomen

Sonja Bänziger stellt in ihrer St.Galler Galerie Werke von Martina Lauinger und Claire Guanella aus. Die Künsterlinnen arbeiten sehr unterschiedlich und haben doch gemeinsame Themen.

Wenn in der Kunst von Loops die Rede ist, sind meist bewegte Bilder oder eine Tonspur gemeint. In der aktuellen Ausstellung in der Galerie Sonja Bänziger bestehen die „Loops“ hingegen aus ganz handfesten Materialien. Martina Lauinger hat sie aus Stahlrohren konstruiert – komplexe Kurven, Schlaufen, Knoten. Nur schwer kann das Auge diesen Strängen aus rostigem Metall folgen. Verschlungen sind sie wie die Untiere, die dem griechischen Priester Laokoon und seinen Söhnen den Tod brachten. Dynamisch schwingen sie in den Raum hinein, um gleich darauf wieder zum Inneren des Loops zurückzukehren, eine endlose, dreidimensionale Linie. Ganz anders die „Knoten“ und „Chromosomen“. Jeweils zwei Stahlrohrstücke sind hier miteinander verknotet oder ineinander verdreht.

Mal bleiben die Rohre an ihren Enden offen, so dass sie als solche erkennbar sind, mal verschliesst die Künstlerin aus Münsingen die Enden, so dass die langgestreckten Zylinder wie massive Stahlkörper anmuten. Immer aber bestehen sie aus Stahlsegmenten, die von der Künstlerin selbst durch Schweissarbeiten in Form gebracht und anschliessend der Verwitterung ausgesetzt werden. Die Werke muten an wie Fragmente eines Rohrsystems in engen Radien und Torsionen.

Auf den ersten Blick scheinen Martina Lauingers Plastiken wenig gemein zu haben mit den Bildern von Claire Guanella. Die Genfer Künstlerin malt die wenig beachtete Pflanzenwelt urbaner Brachen. Sie inszeniert das sogenannte Unkraut grossformatig und voller Leuchtkraft vor grauem Untergrund. Dieser ist jedoch nie monoton, sondern ebenfalls durchgestaltet. Claire Guanella, die in Boston Papiertechniken lehrte und bereits in der Galerie Werkart zu sehen war, fertigt Papiere selbst, arbeitet mit bedruckten Seidenpapieren, die sie rupft, verklebt und übermalt. Das Ergebnis sind dekorative Werke. Schlichte Blumenbilder also? Bei Guanella erscheint das harmlose Motiv in anderem Licht durch ihre Auseinandersetzung mit dem menschlichen Körper, der urbanen Lebenswelt und durch ihre Ausbildung: Mitte der 1970er Jahre studierte Guanella Molekularbiologie an der Universität Zürich. Der Blick durchs Mikroskop prägt ihre Werke bis heute und ist auch das Verbindungsstück zu Lauingers „Chromosomen“. Die Metallplastikerin wählt die kleinen Körperbestandteile als formalen Ausgangspunkt für ihre Werke und Guanella lässt kleinste biologische Bausteine vor dunklem Hintergrund schweben. Ihre „Jardins cosmiques“ etwa zeigen Wolken aus kleinsten Zellen. Sie ballen sich wie kosmische Nebel, fliegen auseinander und leuchten vor tiefem Blau.

Sonja Bänziger bespielt mit den Arbeiten beider Künstlerinnen auch den Kellerraum der Galerie. Hier hat die Galeristin eine Serie der Malerin in eine Installation verwandelt: Drei dunkle Bildziegel hängen an der Wand, fünfmal so viele aber fallen oder sind bereits auf dem Boden gelandet. Das Vegetabile, Federgras, Rispen und Dolden, ist hier nur noch Andeutung. Wichtiger sind der Bildkörper und die Malerei selbst.

Unraum, die zweite und siebzehnte

Eine Farbdusche gefällig oder eine Kuschelstunde im lachsfarbenen Zelt? Der „Unraum“ machts möglich. 24 junge Künstlerinnen und Künstler besetzen ein Abbruchhaus.

Grrrrrr. Der Kamin bleckt die Zähne und streckt die rote Zunge weit ins Zimmer hinaus, knickt sie sogar rechtwinklig ab: „Komm mir nicht zu nahe! Und wenn Du es doch tust, garantiere ich für nichts.“ Ausser für eine gehörige Portion Kunst. Unter dem Dach, im Bad, in der Waschküche, im Garten, im Keller, auf dem Herd und in der Sitzwanne, in den Zimmern, im Gang – Kunst überall. Ein altes Wohnhaus in der Linienstrasse 17 ist zum Kunst-, soll heissen zum zweiten „Unraum“ mutiert (den ersten gab es im vergangenen Jahr in Rotmonten): „Lange wurde das Haus strapaziert und daran gezehrt, um Menschen einen Unterschlupf zu bieten. In den letzten zwei Wochen durfte das Haus sich endlich entfalten.“ Dann kommt der Abriss. Aber der scheint noch unendlich fern, so vital wie sich das Haus mit den Arbeiten 24 junger Künstlerinnen und Künstler präsentiert. So mancher der Namen war schon in anderen Zusammenhängen zu hören, im Nextex etwa oder bei „Junge Kunst“ im Flon. Doch was für ein Unterschied! Während sich die jungen Künstlerinnen und Künstler in letzterem mit wenigen Laufmetern pro Person, kunstuntauglichen Stellwänden und somit einer nicht sehr geeigneten Gesamtsituation auseinandersetzen müssen, ist das Haus in der Lilienstrasse geradezu eine Aufforderung, sich künstlerisch auszutoben. Und das tun sie denn auch, die jungen Wilden. Da wird gebaut, gehängt, gesprayt, gemalt, konstruiert und dekonstruiert, da erobert sich die Kunst noch den hintersten Quadratzentimeter. Ob alles Kunst ist, was da herumsteht und -liegt? Darauf kommt es nicht an, entscheidend ist, dass die Kunstschaffenden zusammengefunden haben und es schaffen, das ganze Spektrum der Kunst zu integrieren und stimmig zu präsentieren, selbst konventionell anmutende Malerei. Jeder Raum schlägt ein anderes Kapitel auf und doch fügen sich alle zu einer grossen Installation. Chaotisch ist es, aber auch energiegeladen, spannungsvoll und überraschend. So bekommt etwa der Begriff der Overall-Structure völlig neue Bedeutung, wenn die Farbe ausgehängte Schranktüren, den Schüttstein, Boden, Wände, eben einfach alles bedeckt. So wild geht es nicht überall zu, es gibt beispielsweise auch ein Zeichnungskabinett durchsetzt mit Digitaldrucken und Versatzstücken echter Natur. Im Keller fliegt ein Leuchtstäbchenschwarm und zwischen Eierkartons kommt Partystimmung auf. Wem das alles nicht reicht, kann sich im Garten noch eine Portion Weihnachtsstimmung abholen. Oder die Künstlerliste mitnehmen. Denn das ist gewiss: Unter den dort genannten gibt es einige, denen wir künftig in den Kunsträumen der Region wieder begegnen werden, und es auch wollen.

Ort: Lilienstrasse 17, St.Gallen – Lachen

Beteiligte: Claudia Bühler / Elias Buess / Elvira Bärtschi / Fridolin Schoch / Gundula / Julia Kubik / Juri Römmel / Joel Roth / Kim Schläpfer / Luca van Grinsven / Matea W. Elten / Mats Hartmann / Pauer Mirko / Ramona Gschwend / Roman Karrer / Pascal Schwendener / Paula Förster / Rouven Stucki / Sandi Gazic / Selina Buess / Stefan Schöbi / Una Lupo / Valentin Beck & Adrian Rast

Öffnungszeiten: Mi 12.2.: 17–20, Do 13.2.: 17–20, Fr 14.2.: Finissage ab 18 Uhr mit Musik und Überraschungen

Saitenblog: http://www.saiten.ch/unraum-die-zweite-und-siebzehnte/

Meckern oder doch lieber Miauen?

„Irgendetwas musst du doch sein“ – Pitschi und seine Suche nach dem Ich hat schon viele Kinder begeistert. Nun gastiert das Theater Roos und Humbel mit seiner gelungenen Inszenierung der Geschichte im Figurentheater.

Ritter oder Piratin, Löwe oder Pferd – Kinder können jeden Tag jemand anderes sein. Aber was, wenn das Rollenspiel nicht mehr reicht, wenn die Sehnsucht nach einer anderen Haut zu gross wird? So wie beim Katzenkind Pitschi. Unzufrieden mit sich selbst ist es, möchte gern ein anderes Tier sein. Dass das so einfach nicht geht und sogar lebensgefährlich sein kann, zeigt Hans Fischers „traurige Geschichte, die aber gut aufhört“. Das Kinderbuch ist inzwischen 65 Jahre alt und so beliebt wie eh und je. Kein Wunder, denn Identitätssuche ist immer ein grosses Thema und wurde von Fischer ansprechend umgesetzt. Die Illustrationen sind schwungvoll, die Sprache ist anschaulich und beides funktioniert perfekt zusammen. Lässt sich dem überhaupt etwas hinzufügen? Lässt es sich neu in Szene setzen? Ja, wenn die Ausstattung die reduzierte Bildsprache nicht zu überwältigen versucht, wenn die Sprache phantasievoll weitergesponnen wird, wenn jedes Detail bewusst gewählt und gestaltet ist – dann funktioniert es. So wie beim Theater Roos und Humbel unter der Regie von Siegmar Körner.

Die Zweierkompanie hat „Pitschi“, den Kinderbuchklassiker, ins Figurenspiel umgesetzt. Wortwörtlich nehmen sie den roten Faden in die Hand und verwandeln ihn in ein sanft buntes Gestrick.

Silvia und Stefan Roos beginnen langsam, erzählen, lassen die alte Lisette von ihren Tieren berichten. Schon in der Gestaltung des Dialoges zeigt sich ihr Gespür, aus Wenigem viel zu machen. Da spricht die Erzählerin mit dem Publikum, dann lässt sie Lisette zu Wort kommen. Die alte Frau richtet sich an die Kinder, dann an den Erzähler. Durch diese Perspektivwechsel weitet sich die Bühne des Figurentheaters, wird zum kleinen Haus der tierlieben Alten. Den räumlichen Mittelpunkt aber bildet ein hölzernes Rund. Es ist Bühne für die Tiere, zugleich aber spult sich hier der Erzählstrang als wollener Faden ab. Er bringt die hölzerne Scheibe in Bewegung und weist in seiner Farbigkeit dezent auf die Szenenfolge hin. Rot ist die Wolle, als der prachtvolle Filzhahn auf dem Dache Pitschi imponiert. Dann geht´s mit Grün zur Geiss auf die Weide. Überhaupt diese Geiss: Ein Kopf, ein Euter und eine geballte Ladung Sanftmut. Aber mit dem Melken und Metzgen mag sich Pitschi dann doch nicht anfreunden. Dann lieber weiter zur Ente, aber hier droht der Tod durch Ertrinken. Da wirkt das Leben der Chüngelkinder im Gras viel unbeschwerter.

Immer wieder spielen Silvia und Stefan Roos unaufdringlich mit der Sprache. So schnattert die Ente in ihrem natürlichen Idiom, die Kaninchen aber verständigen sich mit Phantasielauten, der Kaninchenvater wiederum spricht wie ein richtiger Vater Sätze, die allen Kindern und Eltern bekannt vorkommen – die Rituale zur Schlafenszeit gleichen sich allerorts. Hier wie im ganzen Stück verzichten Silvia und Stefan Roos getrost darauf, eigene Scherze für die Grossen einzubauen. Mühelos nimmt ihr kurzweiliges Spiel mit Hand-, Schatte- und Tischfiguren die Grossen wie die Kleinen mit auf Pitschis Reise zu sich selbst.

Von einem, der auszog, um Kunst zu studieren

Junge Kunst im Zeughaus Teufen: In der Ausstellung über den Holzbauingenieur Hermann Blumer sind Werke des Herisauers Fridolin Schoch zu sehen, Student an der Kunstakademie Düsseldorf.

Was macht den Raum aus? Wie bewegen wir uns darin? Wie sehen wir ihn? Fragen, die sich Architekten ebenso stellen wie Ingenieurinnen, Ausstellungsmacher ebenso wie Künstlerinnen und Künstler. Besonders spannend wird es, wenn die letztgenannten ihre Werke eigens für eine vorgefundene Situation entwickeln und diese weiterdenken. So wie Fridolin Schoch.

Der junge Herisauer Künstler (*1989) hat eigens für die aktuelle Ausstellung im Zeughaus Teufen seine Version des Holzweges entworfen: „sortir du bois“. Er reduziert den Raum auf sein Grundgerüst, auf seine drei Dimensionen. Doch anstatt Höhe, Breite und Tiefe in eine statische Form zu bringen, schreibt Schoch eine expressive Linie in den Raum – eine Linie, die selbst Höhe, Breit und Tiefe besitzt, denn Schoch zeichnet mit Holzbalken. Er sägt, setzt wieder an, sägt erneut, setzt das nächste Stück an. Mit jedem Schnitt wechselt die Richtung. Mit jedem Richtungswechsel wächst die Raumzeichnung weiter und verbindet schliesslich Mittel- und Obergeschoss des Zeughauses. Zugleich ist sie eine sichtbare Klammer zwischen der Grubenmann Sammlung unter dem Dach des Zeughauses und der Sonderausstellung zu Holzbauingenieur Hermann Blumer.

Auch im Material schafft Fridolin Schoch eine Verbindung zwischen Neu und Alt. Er arbeitet eigens mit Lärchenholz. Es wurde auch beim Bau des Zeughauses verwendet. So reagiert die Kunst auf Bestehendes und schärft den Blick für den Raum, der wiederum die passende Hülle abgibt. Ein funktionierendes Wechselspiel, das Ueli Vogt immer wieder aufs Neue inszeniert:  Der Kurator des Zeughauses Teufen setzt Handwerk und Kunst zueinander, Architektur und Skulptur, Alt und Neu. In jeder Präsentation verführt er mit Kunst dazu, genauer hinzusehen und vermeintlich Bekanntes neu zu entdecken oder zu interpretieren. So wie es in „Leidenschaftlich auf dem Holzweg“ mit Fridolin Schochs expressiver Raumzeichnung gelingt. Zugleich kann der junge Künstler hier in einem grösseren Masstab seine Arbeit vorantreiben und seinem Gespür für das Holz als Werk- und Baustoff nachfolgen. Doch dies ist bei weitem nicht das einzige, was ihn künstlerisch interessiert. Derzeit bereitet Schoch mit seinen Mitstudierenden an der Kunstakademie in Düsseldorf den vielbeachteten alljährlichen Rundgang vor und setzt sich mit dem Begriff der Urheberschaft auseinander: Wenn 15 Menschen zusammenarbeiten, wessen Werk ist das dann? Wie wird mit Werten und Wertungen umgegangen? Und Fridolin Schoch wird auch da nicht stehen bleiben, er ist einer, der weiterfragt, weiterdenkt und weiterarbeitet.

Ausstellung im Zeughaus Teufen bis 9. März

Akademierundgang in Düsseldorf: 10. Bis 16. Februar