Ulrike Kristin Schmidt

Gesammelte Texte

Die Summe der Farbfelder

Arnaldo Ricciardi stellt seine Gemälde in der Vadianbank aus. Der Künstlers aus St.Gallenkappel beschäftigt sich mit der Wirkung von Farbflächen und ihrer Organisation auf der Leinwand.

Die Oberflächen sind plastisch und bleiben doch Malerei: Die Farbe klumpt und bildet Inseln in der dominanten Fläche. Mit dem Spachtel wird das pastose Material auf- und wieder abgetragen. Das Werkzeug hinterlässt Spuren, es schiebt das Material über die Leinwand. Die verkrustete Farbe lagert sich auf der unebenen Fläche ab, wird überstrichen und sorgt für neue Verwerfungen und Kerben

Malerei ist für Arnaldo Ricciardi ein sinnliches Phänomen, ohne anekdotisches Beiwerk und Beliebigkeit. Der Farbkanon ist sparsam und konzentriert und nicht zuletzt daraus beziehen die Bilder ihre Wirkung. Helle Töne werden über dunkle gelegt und manchmal umgekehrt. Meist ist die oberste Schicht ein Weiss- oder Grauton, selten ein leuchtendes Rot oder Blau. Aus tieferliegenden Ebenen scheint Gelb oder Grün hervor.

Über Emil Schumachers Bilder war einmal zu lesen: «Je mehr man das Geheimnis lüftet, das ein Bild hat, desto mehr verliert es.» Dies gilt auch hier – Ricciardi deckt seine Bilder mit jedem Arbeitsschritt weiter zu. Doch während Schumacher als einer der bedeutendsten Künstler des Informel in seinen kraftvollen Bildern auf ein konstruktives Gerüst verzichtet, bezieht sich Ricciardi auf das Rechteck der Leinwand als kompositorische Ausgangslage. Auch wenn die Farbflächen im Bild keine geschlossenen Konturen aufweisen, orientieren sie sich doch am Bildrand. Dynamik entsteht, wenn sie leicht vom rechten Winkel abweichen, die gedachte Vertikale verlassen wird oder die oberste Fläche über eine Seite des Bildrandes hinausreicht.

Der Künstler aus St. Gallenkappel setzt sich mit der Farbmaterie auseinander, aber auch mit dem Bildraum. Da er Schicht über Schicht, Fläche über Fläche legt, ist die oberste Farbfläche schliesslich die Summe aller darunterliegenden Farbschichten. Auf diese Weise bildet die Farbmasse einen blockhaften Körper. Dies entfaltet seine Wirkung besonders im Kontrast zum Ausstellungsraum. Ricciardis Gemälde sind derzeit im Untergeschoss der Vadianbank in der Webergasse zu sehen. Der Raum hat ein wuchtiges Gewölbe und tiefe Wandnischen. Diese Leerräume unterstützen die Plastizität der Bilder Ricciardis: Das geometrisch geformte Negativvolumen innerhalb des massiven Mauerwerkes ist so ein markanter Gegensatz zum dichten Farbauftrag der Bilder, das dieser visuell als positives Volumen erscheint. Schade nur, dass die Hängung der Bilder so wenig auf die Gegebenheiten des Raumes Rücksicht nimmt. Hier gibt es für künftige Ausstellungen noch einiges Potential.

Gottliebens neuer Name

Der «Hecht an der Grenze» ist ein Kunstprojekt für 10 Tage. Noch bis kommenden Sonntag sind in Gottlieben Werke und Performances von über 20 Künstlerinnen und Künstlern zu sehen.

Gottlieben wird tschechisch. Schwarz auf weiss steht es an der Schiffanlegestelle des kleinen Grenzortes: Bohumilov. Die Geschichte dieses Namenswechsels reicht weit zurück: In der ehemaligen Wasserburg am Rhein wurde im 15. Jahrhundert der böhmische Reformator Jan Hus gefangen gehalten, bevor er auf dem Konstanzer Konzil zum Tod verurteilt und verbrannt wurde. Seine reformatorischen Ideen werden bis heute gewürdigt. Für zehn Tage nun wechselt Gottlieben, oder zumindest die Schiffsanlegestelle, den Namen und erinnert damit an Hus´ Wirken. Zugleich ist es ein Zeichen für die tschechische Abstammung von Martin Chramostra. Der junge Basler Künstler hat seinen Grossvater um die Namensübersetzung gebeten. Sie ist sein Beitrag zum «Hecht an der Grenze», einem zehntägigen Kunstprojekt von Cécile Hummel. Die Künstlerin gehört in vierter Generation zur Hotelierfamilie im Ort. Gemeinsam mit der Performancekünstlerin Andrea Saemann und der Kulturgeographin Dagmar Reichert hat sie mehr als zwanzig, zum Teil international bekannte Kunstschaffende eingeladen, für Hotel und Aussenraum eine Arbeit zu entwickeln. Herausgekommen ist eine vielseitige Ausstellung und ein dichtes Programm. Beides hat deutlich mehr Potential als nur für zehn Tage, doch jenen, die den «Hecht» jetzt besuchen, wird er zweifellos lang im Gedächtnis bleiben. Und vielleicht wirkt das Projekt auch im Hotel nach, denn das Haus hat etwas frischen Wind dringend nötig. Die Zimmer wurden Anfang der 1960er Jahre mit Antiquitäten eingerichtet und seither kaum verändert. Die Interventionen der Künstlerinnen und Künstler thematisieren aber nicht vordergründig diesen verblichenen Charme, sondern setzen sich mit grösseren Fragen auseinander. Immer wieder ist die Grenze ein Thema – mal zwischen den Zeiten, mal zwischen Ländern, mal in der Kommunikation oder im Zusammenleben. Jedes Zimmer des Hotels ist für ein Kunstwerk reserviert. Das Spektrum reicht von Liveperformances über Filme und Fotografien bis hin zu Installationen mit Tieren, Ton oder Tönen. Bis hinein ins Restaurant breitet sich die Kunst aus. Andrea Zaumseil aus Berlin hat neue Tischsets gestaltet und Markus Müller Tafelaufsätze im Geiste des Barock, aber in neuer Form. Als Konversationsstücke beeinflussen sie die Tischgespräche merklich. Aber lange sitzen bleiben wird derzeit ohnehin niemand, denn selbst, wenn alle Zimmer besichtigt sind, ist noch viel zu sehen. So lohnt sich ein Abstecher ins benachbarte Bodman-Haus zur eigens eingerichteten, assoziationsreichen Ausstellung über das Ehepaar Bodman, eine Wanderung mit Wildtierarchitekt Christian Ratti, ein Spaziergang mit Angela Hausheer und Leo Bachmann ins Gottlieber Ried oder der Besuch der Gottlieber Revue mit Muda Mathis, Chris Regn und Freundinnen. Und damit niemand den Überblick verliert, gibt es sogar ein eigenes «Tagblatt»: Das soeben für das schönste Buch der Welt ausgezeichnete Büro Bonbon aus Zürich hat eine mobile Redaktion im Hotelfoyer eingerichtet – eine Zeitung nur für die Kunst.

Viel los im Hecht

Das Hotel Hecht in Gottlieben ist für 10 Tage ein Kunstort. Über 20 Künstlerinnen und Künstler haben sich mit dem Ort an der Grenze, der Geschichte und Atmosphäre des Hotels auseinandergesetzt und daraus neue Arbeiten eigens für die Ausstellung entwickelt.

Ein Hotel ist ein seltsamer Ort. Wir sollen uns wie zu Hause fühlen, aber ohne Alltagsfaktor. Es ist eine Bleibe, aber nur für begrenzte Zeit. Viele Gäste wohnen darin, aber idealerweise hinterlassen diese keine Spuren. Sie sind fremd und bleiben es auch. Dennoch ahnt man in so manchen Hotels die Zahl der Gäste. Die Teppiche sind verblichen, die Möbelkanten abgewetzt, das Emaille im Lavabo erblindet. Doch gerade an diesen Stellen beginnen die Geschichten. Man muss nur genau hinschauen. So wie die Künstlerinnen und Künstler im »Hecht an der Grenze«. Auf Einladung der Künstlerin Cécile Hummel haben sie das alte Haus in Gottlieben erkundet, ergründet und spinnen die gefundenen Fäden weiter. Zum Beispiel unter dem Dach in einer kleinen Kammer. Die Stofftapeten mit ihren Chinoiserien sind gealtert und hängen bauchig von den schrägen Wänden, so als stecke jemand oder etwas dahinter. Ein Tier vielleicht? So wie jedes, in der Ecke oder auf dem Schrank? Laetitia Reymond platziert Felle im Raum, die erst auf den zweiten Blick ins Auge fallen, dann aber umso nachhaltiger. Sie muten wie Traumwesen an, übrig geblieben nach dem Auszug des letzten Gastes vor vielen Jahren. Oder ist er gar nicht ausgezogen? Ruht er noch, dort in jenem anderen grossen Dachzimmer? Früher ohne Zweifel der Stolz des Hauses mit dem wunderschönen Ausblick auf den Rhein, jetzt ebenfalls schon etwas aus der Zeit gefallen mit dem grossen Himmelbett. Aber zu haben wäre es ohnehin gerade nicht, denn auf dem Himmelbett liegt ein tönernes Skelett. Sabian Baumann und Kristin T. Schnider haben es hier aufgebahrt. Ein jeder Knochen verweist auf eine Geschichte, ein Fundstück aus dem »Hecht«. Gleichzeitig erinnert der Knochenmensch daran, dass das Hotel schon bessere Zeiten gesehen haben mag. Aber vielleicht wird es der Kunst gelingen, eine Wende herbeizuführen? Sie wäre ein schöner Nebeneffekt, Grund des Projektes war sie aber nicht. Es waren vielmehr die persönlichen Verbindungen von Cécile Hummel. Die Basler Künstlerin ist in vierter Generation in der ortsansässigen Hotelierfamilie aufgewachsen. Gemeinsam mit der Künstlerin Andrea Saemann und der Kulturgeographin und Kuratorin Dagmar Reichert hat sie über zwanzig Kunstschaffende aus der Schweiz und von ennet dem Rhein dazu eingeladen, Arbeiten spezifisch für Gottlieben zu entwickeln. Und durch diese persönlichen Verbindungen ist es denn auch gelungen, Künstlerinnen nach Gottlieben zu holen, die sonst den grossem internationalen Auftritt erhalten wie etwa Muriel Gerstner oder Ulrike Ottinger. Die Bühnenbildnerin hat eigens ein 54stündiges Video geschaffen, in dem sie Fragen des individuellen Erbes thematisiert, und die Filmemacherin zeigt Stills aus ihrem Film „Madame X: Eine absolute Herrscherin“ und den Film selbst, über diesen wird sie mit der Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann sprechen. Überhaupt hat es das Begleitprogramm zur zehntägigen Ausstellung in sich. Es gibt Performances und eine musikalische Intervention auf der Basis von Erik Satie’s «Vexations», aufgeführt durch das forum andere musik in Zusammenarbeit mit mehreren Pianisten und Pianistinnen. Muda Mathis, Chris Regn und Freundinnen führen die Gottlieber Revue auf. Bootsfahrten auf dem Rhein gehören zum Programm. Christian Ratti, der aktuell auch den Schaukasten Herisau bespielt, betätigt sich als Wildtierarchitekt und führt zu froschgefährlichen Dolendeckeln, Leo Bachmann und Angela Hausheer aus Zürich unternehmen mit den Gästen Spaziergänge ins Riet. Viel los also, insbesondere an diesem und dem kommenden Wochenende. Und für alle, die nicht immer dabei sein können, aber auch für jene, die es miterleben, gibt es jeden Tag eine eigene Zeitung, gestaltet vom Duo Bonbon, soeben ausgezeichnet für das schönste Buch der Welt. Sie werden vor Ort inmitten schweren Mobiliars ihr Büro einrichten. Also nichts wie hin und sich ein tagesaktuelles Exemplar ihrer Arbeit sichern.

Saitenblog: http://www.saiten.ch/viel-los-im-hecht/

Kunst im alten Klassenzimmer

HR Fricker plakatiert, stempelt, beschildert, fotografiert und organisiert. Wohl jede und jeder ist schon mal an einem schön platzierten „da“ vorbeigelaufen oder hat einen „Ort der Wut“ entdeckt, einen „Ort der Nähe“, einen „Ort der Vision“ oder einen „Ort der List“.

Wer so prägnante Worte auf einem Emailleschild liest, sieht und empfindet den Ort augenblicklich anders. HR Fricker setzt das Denken in Bewegung. Und nicht nur das. Eine seiner besonderen Stärken ist es, Menschen zusammenzubringen, beispielsweise innerhalb der Mail-Art-Bewegung. Die Mail-Künstler hatten schon in den 1960er Jahren wenig Interesse an kommerziell verwertbaren Werken, sondern bauten Netzwerke auf. H.R.Fricker korrespondierte von seinem Trogener „Büro für künstlerische Umtriebe auf dem Land“ aus mit Künstlern auf der ganzen Welt, gestaltete Briefumschläge und Marken und initiierte den „Weltweiten dezentralisierten Mail-Art Kongress“ überall dort, wo zwei oder mehr Beteiligte sich trafen.

Aber auch die Künstlerinnen und Künstler der Ostschweiz versuchte Fricker zu vernetzen. So befragte er sie 1985 zu ihrem Interesse an offenen Türen. Es müsse doch möglich sein, so Frickers damalige Idee, die Kunstschaffenden dort zu treffen, wo sie leben und arbeiten – dezentral, unkompliziert, miteinander. „Szene-Intim“ sollte dieses Ereignis heissen, statt fand es nie. Vielleicht war die Zeit noch nicht reif? Jetzt ist sie es, und HR Fricker gehört zwar nicht zu den Organisatoren von Fünfstern, aber er ist gern dabei, das dritte Mal nun schon. Er sieht nur einen Nachteil in der Sache: Er kann selbst nicht unterwegs sein und unverbindlich in die Ateliers der Künstlerkollegen schauen.

Aber das wird aufgewogen durch die guten Begegnungen am eigenen Arbeitsort. Schon bei den letzten beiden Fünfsternwochenenden 2007 und 2011 kamen sowohl Bekannte zu Fricker, als auch neugierige Andere. Der Künstler führt sie gern durchs ganze Haus. Dieses ist selbst schon einen Besuch wert, denn HR Fricker bewohnt das alte Trogener Schulhaus. Dort, wo bis 1963 Kinder lernten, entsteht nun also Kunst. Dort, wo die Kindergärtnerin lebte, ist die Küche. Dort, wo die Handarbeitslehrerin kochte, stapeln sich Bilder. Die Wanderung durchs Haus in der Trogener Hüttschwende ist eine Reise durch die Zeit und durch die Kunst. Überall hängen und stehen neben den Arbeiten Frickers auch sorgfältig platzierte Werke von Künstlerkollegen, von Beyus über Tagwerker bis zu Signer. Ein Besuch bei HR Fricker gleicht einem Ausstellungsrundgang, nur das hier mit der Kunst gelebt wird und ständig Neues entsteht.

Möbel mal anders

„Bauernkunst?“ – die Ausstellung im Zeughaus Teufen liefert keine endgültigen Antworten, aber eine sehenswerte Inszenierung von Kästen und Kunst.

Hatte Hans Ulrich Grubenmann einen? Wenn ja, wo stand er? War er bemalt? Was war darinnen? Es anzunehmen, dass im Haus des grossen Teufener Baumeisters ein prachtvoller Schrank vorhanden war. Aber die Möbel jener Zeit geben heute zahlreiche Rätsel auf. Selten ist klar, an welcher Stelle im Haus sie ihren Platz hatten oder was in ihnen aufbewahrt wurde. Sicher ist nur: Bauernschränke waren keine Bauernmöbel, sondern gehörten der ländlichen Oberschicht. Mit den repräsentativen Stücken grenzte sie sich ab, orientierte sich nach oben. So verwundert es nur wenig, dass auf manchen der im Zeughaus Teufen ausgestellten Schränke die höfische Gesellschaft abgebildet ist – da wird gejagt, gelustwandelt, kokettiert, oder wie es Marcel Zünd formuliert: „Die Volkskunst hat den Rokoko aufgesogen.“

Der Kustos der Stiftung für Appenzellische Volkskunde hat für die Ausstellung 50 Kästen ausgewählt – so viele, wie noch nie gemeinsam zu sehen waren. Diese Fülle erlaubt nicht nur einen Überblick über die gestalterische Bandbreite, es lassen sich auch Typologien aufstellen und Besonderheiten herausfiltern. Etwa inner- und ausserrhodische Unterschiede: Während die einen Monogramme oder Heiligendarstellungen bevorzugten, waren den anderen Bibelgeschichten lieber. Wobei diese mitunter recht freizügig daherkommen. Später dominieren dann pietistisch motivierte Darstellungen. Wer also auf dem eigens ausgelegten schwarzen Teppich an den chronologisch angeordneten Schränken entlangschreitet, kann sich nicht nur wie in einer überdimensionalen guten Stube fühlen, sondern auch Stil- und Motivwandel beobachten.

Aber die Präsentation bietet mehr als eine beispielhafte volkskundliche Aufarbeitung. Dank Zeughauskurator Ueli Vogt werden auch Nebenwege begangen. So wurden zwei Restauratoren eingeladen, ihre Arbeit darzustellen. Zudem wird gezeigt, wo und wie die Schränke heute oft zu sehen sind. Und sie können, zumindest teilweise, so betrachtet werden wie sonst nie, nämlich von hinten. Hier erstaunt, aus welchen architektonischen Versatzstücken sie zusammengebaut, ja zusammengeschustert sind. Zugleich löst diese Präsentation den Bildcharakter der Möbelstücke auf und lässt sie als das hervortreten, was sie eigentlich sind: dreidimensionale Gebilde, die einen Raum konstruieren und einnehmen. So wie Fridolin Schochs „sortir du bois“, der anlässlich der vorhergehenden Ausstellung entstand, nun noch bleiben darf und auch hier bestens passt.

Einmal mehr gelingt es Vogt, zeitgenössische Kunst nicht nur zu zeigen, sondern damit das eigentliche Thema zu erweitern. Wieder sind einige Werke eigens für das Zeughaus entstanden. Stefan Inauen hat beispielsweise schwedische Billigmöbel mit Malerei veredelt, und Com & Com haben den jungen Bauernmaler „Marc Trachsel“ beauftragt, Stationen ihres «Bloch23781» zu malen. Von Regina Baierl ist ein vielseitig nutzbarer Kasten zu sehen. Die Münchner Architektin fügt ausgediente Möbelstücke zusammen und sprengt damit die Gattungsgrenzen. Das gilt auch für die Designstudien der Jakob Schläpfer AG. Ornamente und Bilder der historischen Schränke gehen hier mit neuen Materialien eine Symbiose ein. Die alten Möbel haben grosses Potential.

Pulp lebt

M.S. Bastian und Isabelle L. aus Biel stellen in der Macelleria d´Arte paradiesische Weltentwürfe aus. In ihren Werken mischen sie Zitate verschiedenster Herkunft.

Längst sind die Grenzen niedergerissen zwischen Trivial- und Hochkultur, zwischen Alltag und Kunst, zwischen Kunst und Leben. Die Dadaisten haben damit angefangen, Neodadaisten und Pop Art Künstler haben es nachgemacht, inzwischen ist es selbstverständlich, zwischen Gattungen und Kunstformen zu wechseln und auch all jenes zu integrieren, was zuvor nicht kunstwürdig schien. Und doch gibt es Bereiche, die hartnäckig voneinander getrennt werden. Kunst und Comic zum Beispiel. Oder Kunst und Illustration – frei das eine und angewandt das andere. Nur wenige bewegen sich in beiden Welten und bringen sie obendrein zusammen.

M.S. Bastian und Isabelle L. zeigen, dass beides gemeinsam funktionieren kann. Seit 10 Jahren arbeiten die beiden an der Synthese von Kunst, Illustration, Comic und Grafik. In der Macelleria d´Arte sind nun ihre Pulp-Welten zu sehen. Pulp ist dabei weder das Fruchtfleisch, noch die Schundliteratur, auf die sich etwa Quentin Tarantinos Spielfilm bezieht, sondern eine ureigene, harmlos-freundliche Figur mit grossen Augen. Weiss ist sie wie ein Gespenst, wie ein unbeschriebenes Blatt und somit gibt sie eine hervorragende Projektionsfläche für die überbordende Phantasie des Kunstduos ab. Sie schicken das kleine Wesen in den Dschungel, auf hohe See oder in die tiefe Nacht. Es übersteht jedes Abenteuer unbeschadet, nur manchmal geht es in der Dichte eines Wimmelbildes fast verloren. Dort treffen sich dann doch noch die eigentlichen Bedeutungen des Wortes „Pulp“, denn in den Gemälden vermengen die beiden Kunstschaffenden aus Biel so vieles so dicht miteinander: unbändige und zahme Tiere, Wesen, die an bekannte Superhelden erinnern, und solche, die sich nie und nimmer einordnen lassen wollen, grafisch reduzierte Landschaften, ornamentalen Wildwuchs und exotische Szenerien. Letztere stehen für gewöhnlich unter Kitschverdacht, aber M.S. Bastian und Isabelle L. umschiffen die Klippen souverän. Sie verwenden Wellpappe statt Hochglanzpapier, zeigen echte Malerei statt perfekte Oberflächen und unterwandern Palmenträume und Sonnenuntergänge mit ihren seltsamen, stark konturierten Wesen.

Überhaupt die Sonnenuntergänge: Die Welt der beiden Kunstschaffenden ist durchdrungen von Zitaten. Figuren aus der Trivialkultur gehören ebenso dazu wie Übernahmen aus der Kunstgeschichte. Die orangeroten Sonnen über den Dschungelausschnitten erinnern also nicht zufällig an die Sonnen in Henri Rousseaus Gemälden exotischer Gegenden. Hingegen sind die linear reduzierten, fast völlig in schwarz-weiss gehaltenen Bilder von den Werken des Japaners Hokusai inspiriert. Das dieser wiederum auch den Begriff des „Manga“ populär machte, ist ein weiteres Puzzleteil im künstlerischen Kosmos von M.S. Bastian und Isabelle L. Alles hat mit allem zu tun, Grenzen sind aufgehoben, alles mischt sich. Und so passen die Arbeiten bestens in die Macelleria d´Arte, schliesslich ist die Galerie alles andere als ein White Cube. Mit „Pulp Welten“ wird die Fülle noch um einige, bunte Facetten reicher.

Offene Türen im Doppelpack

Es war ein Zufallstreffer: Kunstgiesserin Antonia Möhr hatte beruflich in dem Gewerbebau an der Fürstenlandstrasse 19 zu tun, sah dass gezügelt wurde und sprach den Vermieter an. Er bot nicht nur einen Raum an, sondern war so erfreut, dass darin ein Atelier entstehen sollte, dass er sogar noch die Infrastruktur verbesserte. Kunst macht´s möglich.

Nun teilen sich Antonia Möhr und Felix Oliver seit 5 Jahren das Doppelatelier und nennen sich ebenso lang schon Atelier Olif Atom. Dennoch arbeiten beide an ihren eigenen Werken weiter. Antonia Möhr collagiert und decollagiert. Ihre Bilder leben von der Textur der geklebten, geknitterten und gerissenen Papiere ebenso wie von den verwendeten Motiven, die einander verdecken und ergänzen. Immer gerät bereits das nächste in den Blick. Wie beim Zapping wandern Blicke und Gedanken. Während Möhr sich ganz auf Weiss-, Grau- und Schwarztöne konzentriert, ist Felix Oliver an der Farbe interessiert. Früher war sie sein ausschliessliches Gestaltungsmittel. Erst in den vergangenen zwei Jahren ist er über die Typographie auch zur Form gekommen.

Atelier Olif Atom sehen sich weniger als Ausstellungskünstler. Institutionen sind ihnen nicht so wichtig wie offene Türen. So veranstalten sie jedes Jahr einen „Tag der offenen Tür“, aber auch 5stern ist ihnen eine willkommene Gelegenheit, das eigene Netzwerk zu erweitern.

Malerei in traditionsreichem Haus

Sie gab es und gibt es noch immer: Künstlerinnen und Künstler, die ihre früheren Arbeiten als ungültig, überholt ansehen. Walter Steffen hingegen malt seit über fünfzig Jahren und ist seinem anthroposophisch inspirierten Werk stets treu geblieben. Dazu gehört, dass er seine Bilder immer wieder kritisch anschaut und mitunter Jahre später daran weiterarbeitet. Die Motive haben sich über die Zeit wenig verändert: In Steffens Atelier in der Rorschacherstrasse hängen Landschaftsstücke und Stillleben in frischen, manchmal warmen Farben. Viele der impressionistisch anmutenden Studien sind unter freiem Himmel entstanden, die kraftvollen Ölbilder hingegen im Atelier. Auch für 5stern hat der Maler die Staffelei nicht verräumt; Farben und Pinsel liegen parat.

Steffens Kunst ist Ausdruck seiner ganzheitlichen Lebensauffassung. Sie spiegelt sich in Farbe, Thema und Form und sogar noch im Material: Steffen malt unter anderem mit Pflanzenfarben nach Rezepten Rudolf Steiners. Auch die Atelieradresse könnte kaum passender sein: Die beiden kleinen Räume gehören zur Liegenschaft der Anthroposophischen Gesellschaft St.Gallen. Früher dienten sie dem bekannten St.Galler Fotograf Otto Rietmann als Studio, er nahm einige Porträts Rudolf Steiners vermutlich hier auf. Steffen arbeitet im Geiste des grossen Anthroposophen weiter – ein unermüdlicher Maler auf geradlinigem Weg.

Kulturort Reithalle

Neun auf einen Streich – beim diesjährigen 5ünfstern ist in der Reithalle wieder viel Kunst an einem Ort und in ganz unterschiedlichen Räumen zu sehen: heimelig und mit Wandtäfer auf der Südseite, mit grossen Fenstern, stark befahrener Rosenbergstrasse und Autobahnzubringer auf der Nordseite.

Drei Jahre dauert die reguläre Mietdauer für eines der städtischen Ateliers. Zweimal kann „bei Vorliegen eines entsprechenden Leistungsausweises“ verlängert werden. Diese Regelung sorgt für ein rechtes Mass an Fluktuation; gut zu beobachten in der Reithalle anlässlich der dritten 5ünfstern-Ausgabe. Da 5ünfstern nur alle drei Jahre stattfindet und es bei den Ateliermieterinnen und -mietern in den vergangenen anderthalb Jahren hier mehrere Wechsel gab, sind in diesem Jahr viele in der Reithalle zum ersten Mal dabei. Zum Beispiel Mirjam Kradolfer. Ihr Atelier ist gleich das erste für alle, die dem Hinweis „Bar dekoriert“ gefolgt und in den ersten Stück der Reithalle gestiegen sind. Für die Bar ginge es noch weiter hinauf, doch vor dem Trinken kommt die Kunst. Im Falle Mirjam Kradolfers ist es ein Teil einer Arbeit, die sie im vergangenen Jahr im Kornhaus Rorschach zeigte: die Fotoarbeit „Ohne Titel (Gewächskammer)“. Das eindrucksvoll, dicht wuchernde Grün macht gleich wieder Lust, wieder etwas mehr Disziplin an den Tag zu legen und doch regelmässig nach Rorschach zu fahren, um sich dort das engagierte Programm des Vereins Kulturfrühling Rorschach anzusehen. Ansonsten türmt sich Kradolfers Arbeitsmaterial unter einer Plastikfolie. Aber das macht nichts, denn die Temperaturen hier im ersten Atelier nach dem Treppenhaus sind das Gegenteil von Gewächshausatmosphäre und es sind ja noch so viel mehr Namen unter dem Stern Nummer 20 verzeichnet. Also weiter zu Susann Albrecht. Die Dozentin an der Schule für Gestaltung ist ebenfalls noch nicht sehr lange in der Reithalle. Zuvor arbeitete sie daheim und wer jetzt die grossen Formate und den Andrang in ihrem Atelier sieht, ahnt, dass es längst an der Zeit war, dass sie einen guten Ort für ihre künstlerische Arbeit findet. Albrecht zeigt neue und ältere Werke, Nebenprodukte und Work in Progress. Das Gleiche und doch ganz anders präsentiert auch Martina Weber schräg gegenüber. Sie ist derzeit die Mietälteste in der Reithalle und wird es noch bis Januar des kommenden Jahres bleiben. Und dann? Geht sie gern? „Ich habe den Kontakt hier sehr geschätzt. Aber beamen kann ich überall. Ich arbeite fast nur noch am Laptop. Den Leuchttisch habe ich langsam ausgereizt.“ Seit jeder Rechner eine integrierte Webcam hat, hat sich Webers Arbeitsweise sehr verändert und auch der Platzbedarf. Sicher ist, Martina Weber wird an ihren Themen weiterarbeiten und es wird sich lohnen, dies zu verfolgen.

Linda Pfenninger zog vor anderthalb Jahren in ein Reithalleatelier. Zwar versteht sie sich hauptsächlich als Performancekünstlerin, arbeitet orts- und kontextbezogen, aber zugleich entstehen Gemälde und Videoinstallationen. Eine hat Pfenninger eigens für 5ünfstern eingerichtet – „luft anhalten“. Und sie schätzt die Arbeitssituation in der Reithalle sehr: „Ich habe einen geeigneten Raum zum Scannen, Recherchieren und die Rechnerarbeit, und einen zum Ausprobieren.“ Schade findet sie, dass es keinen Gemeinschaftsraum gibt, „aber da das Haus ringhörig ist, weiss man, wer da ist und kann auch einfach mal anklopfen.“ Für Pfenninger eine gute Situation. Auch Andrea Vogel. Sie ist seit vier Jahren hier, hat zwischendrin einmal quer über den Gang gewechselt und könnte sich gut vorstellen, mal ein gemeinsames Projekt mit allen Künstlerinnen hier zu entwickeln. Und den Künstlern natürlich. Derzeit sind es zwei: Felix Stickel, der aber soeben erst dabei ist, sein Atelier unter dem Dach zu beziehen und deshalb nicht aktiv bei 5ünfstern mitmacht, und Michael Bodenmann, der sich ebenfalls unter dem Dach ein Atelier mit Barbara Signer teilt. Auch diese beiden zeigen neben existierenden Arbeiten aktuelle Projekte unter anderem einen kleinen Vorgeschmack auf die Ausstellung noch dieses Jahr im Nextex. Dafür muss man aber die Bar hinter sich lassen und noch einmal an ihr vorbei, um ins Atelier von Beatrice Dörig zu gelangen. Die Malerin arbeitet mit mehrfach übereinander geblendeten und projizierten Zeitungsbildern. Ihre komplexe Herangehensweise kann bei den Offenen Künstlerateliers ergründet werden. Im Atelier hängen nicht nur Gemälde in verschiedenen Entstehungsstadien, sondern auch das Quellenmaterial.

Ein bisschen versteckt, aber ebenfalls unbedingt sehenswert sind das Atelier und die Arbeit von Monika Spiess. In der offiziellen 5ünfstern-Liste ist sie als „Diverses“ einsortiert, das klingt eigentlich eher abschreckend, steht in diesem Falle jedoch für Raumuntersuchungen mit stark architektonischem Charakter. Hier schafft eine im Stillen (Spiess hat beim letzten 5ünftstern noch nicht teilgenommen) und in einer bis ins kleinste Detail bewusst gestalteten Umgebung ein durch und durch konzeptuelles, höchst durchgearbeitetes Werk.

Und nun doch noch ein Blick aus dem Fenster… die Autokolonne reist nie ab. Hinter der Reithalle ist St.Gallen urban. Und vorne? Da traben die Rösser vorbei. Ist das nun seltsam anzusehen trotz oder wegen der vielen, guten Kunst?

Saitenblog

Kamin im Kasten

Der Countdown läuft, er ist sogar fast schon bis zum Ende gezählt: Die vorletzte Ausstellung im Schaukasten Herisau ist installiert, und ihr Thema ist ebenfalls ein Ende, nämlich dasjenige vom Kamin der Zielfabrik. Christian Ratti erzählt die Geschichte weiter.

Im Jahre 1948 war der alte Schornstein der Zielfabrik Appenzell so baufällig, dass er zur Gefahr wurde. Also traten die Appenzeller Feuerwehrleute an, um ihn zu beseitigen, jedoch nicht mit einem Sprengsatz, sondern mit Seil und Muskelkraft. Diese Episode in der Appenzeller Ortsgeschichte war längst vergessen, einfach verdrängt durch so vieles, was danach kam. Ein Kamin weniger, na und?

Wiederauferstanden ist er nicht, der Kamin der Zielfabrik. Aber im Schaukasten Herisau sind nun die Fotografien der handfesten Umsturzaktion zu sehen. Das Ganze ist recht übersichtlich, sind es doch nur vier Schwarzweissbilder im ansonsten weissen Kasten. Von der grössten jedoch – sie zeigt den Moment als der obere Teil des Schornsteines kippt – zieht sich statt des Seiles der Feuerwehr eine zarte, unscheinbare Linie aus handgeschriebenen Notizen über die gesamte Schaufensterbreite. Sie sind es, die aus der Kamingeschichte eine Kunstgeschichte machen – ästhetisch und inhaltlich.

Der Zürcher Künstler Christian Ratti erzählt auf der Glasscheibe in knappen Worten von denkwürdigen Umständen rund um den Kaminsturz und danach. Eine grosse Portion Zufall gehört auch dazu, so etwa das Zusammentreffen von Ratti und Roman Signer bei einer Bahnfahrt und die dabei entdeckte gemeinsame Faszination an den hoch aufragenden Wegweisern der Industriearchitektur. Ausserdem braucht es Gespür für das Potential eines Zufalles, und Lust auf eine gute Geschichte, selbst wenn deren Ausgang noch im Ungewissen liegt, und es braucht Ausdauer, und viele Blicke über den Tellerrand. Es bracht einen wie Christian Ratti. Er ist kein Atelierkünstler, sondern einer der unterwegs ist und dessen Kunstbegriff so offen ist, dass er neue Wissenschaftsgebiete begründet oder bestehende an ungewohnten Orten ausübt. So wurde beispielsweise das Zeughaus Teufen Ort und Anlass seiner Fledermausforschungen und botanischer Landschaftseingriffe. Ratti recherchiert, erzählt, geht weit über die auslösenden Momente und vorgefundenen Geschichten hinaus. Und zufällig oder nicht: Seine Ausstellung im Schaukasten Herisau verweist schon auf die nächste und letzte Präsentation im kleinen Kubus: Roman Signers Schaukastenauftritt Ende Mai.

Saitenblog: http://www.saiten.ch/kamin-im-kasten/